laut.de-Kritik
Hochglanz trifft auf Berlusconi und Kindesmissbrauch.
Review von Giuliano BenassiDie Grenze zwischen Wegwerf- und engagierter Popmusik verläuft in Italien weitaus fließender als im deutschsprachigen Raum. Das liegt am riesigen Einfluss, den das Festival di Sanremo hat, wo jedes Jahr Ende Februar alte Hasen und hoffnungsvolle Newcomer aufeinender treffen.
Wer gewinnt, ist letztendlich egal. Es gibt keine bessere Plattform, um sich zu präsentieren, weshalb kaum ein Künstler, wie engagiert auch immer, nicht dort aufgetreten ist. In das Schema passt auch die Sizilianerin Carmen Consoli, die in Italien seit der zweiten Hälfte der 90er Jahre zu den erfolgreichsten Sängerinnen zählt.
Sie in einen Topf mit Schmusesängern wie Eros Ramazzotti oder Laura Pausini zu werfen, wäre verkehrt, denn die Hochglanzbilder täuschen: Auf dem vorliegenden Album setzt sich Consoli mit durchaus umstrittenen Themen auseinander. Veräppelt sie im ersten Stück noch Silvio Berlusconi ("Es lebe Italien, der Fußball, das Testosteron. Die Mauscheleien und all die Nutten. Wir lieben das Fernsehen"), geht es hier eher um die Gedankenwelt zehn unterschiedlicher Frauen.
"Perturbazione Atlantica" handelt von einer Frau, die auf den Feiertag ihres Dorfes mit der Heiligenprozession wartet. "Non Molto Lontano Da Qui" klingt wie ein Brief an eine entfernte Liebe. "'A Finestra" ist auf Sizilianisch gehalten und erzählt fröhlich vom Treiben vor dem Fenster einer Wohnung.
Das inhaltlich ungemütlichste Stück ist "Mio Zio", in dem ein junges Mädchen mit rotem Lippenstift und knappem Kleid auf der Beerdigung ihres allseits beliebten Onkels erscheint und von allen Anwesenden geächtet wird, weil sie nicht glauben wollen, dass er sie vergewaltigt hat. Vorgetragen mit Consolis rauchiger, unaufgeregter tiefer Stimme.
Im Ausland zählt natürlich eher die musikalische Begleitung als das Thema der Texte. Die meisten Stücke kommen mit akustischen Gitarren, Bass und Perkussionen aus, die ihnen eine entspannte Atmosphäre zwischen Pop und Easy-Listening-Jazz verleihen. Ausgerechnet der Titeltrack verfällt als einziger in billige Charts-Gefilde.
Auf "Mio Zio" untermalen schrille Streicher die seelischen Schmerzen des Opfers, während "Marie Ti Amo" so etwas wie ein mediterranes Pot Pourri bietet. Der Pop-Intellektuelle Italiens Franco Battiato, der wie Consoli aus Catania stammt, liefert darin eine arabische Einlage.
"Elettra" ist ein facettenreiches, wenn auch stellenweise etwas zu seichtes Album. Von einer Künstlerin, die mit Worten umgehen kann und keine Angst vor unliebsamen Themen hat. Dass sie mit solchen Veröffentlichungen regelmäßig die höchsten Etagen der Charts erreicht, ist für ein widersprüchliches Land wie Italien nicht verwunderlich.
Noch keine Kommentare