Porträt

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Die Goldenen Zitronen

"Eigentlich sind wir moralisch", sagt Ted Gaier - und trifft damit den Kern der Sache: Während ihrer musikalischen Geschichte haben die Diskurs-Punks vielleicht den Punkrock über Bord geworfen, ihre Punk-Haltung und Ideale aber stets beibehalten. Immer noch sind die Goldenen Zitronen schwer aktiv, von Projekt zu Projekt, in immer neuen Netzwerken.

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Der Ursprung ihrer Ideale liegt im stark politisierten Hamburg der 1980er Jahre. 1984 gegründet, tauchen die Zitronen mit Freude in die Gegenkultur der Hausbesetzerszene in der Hafenstraße ein. Gleichzeitig stürzen sie sich kopfüber in die nicht mehr ganz neue, aber auch noch keineswegs tote Welt des Punkrock.

Dermaßen politisiert überrascht es vielleicht, dass Schorsch Kamerun (Gesang), Ted Gaier (Bass, Gitarre), Ale Sexfeind (Schlagzeug) und Aldo Moro (Gitarre, Bass) auf ihrem ersten Album "Porsche, Genscher, Hallo HSV" mit lupenreinem Fun-Punk aufwarten.

Doch das hat strategische Gründe: Mit schmalbrüstigem Sound und leichtfüßigen Texten antwortet die Band auf das Schneller-härter-brutaler-Dogma und die bierernsten Texte politischer Punkbands wie Slime, Beton Combo, Toxoplasma oder Daily Terror. Schon der Bandname - eine Anspielung auf den ADAC-Negativpreis Silberne Zitrone - entspringt dem augenzwinkernden Umgang der Goldis mit ihrem Punkrock-Umfeld.

Auch auf den Folge-Alben "Kampfstern Mallorca Dockt An" und "Fuck You" bedient die Band sich bei den Stilmitteln des Spaßpunk: ein wilder Genre-Mix aus Punk-, Rock- und Country-Versatzstücken gewürzt mit mittelmäßigen Gags, Teenager-Themen und schlagerhaften Texten. Als aber bei den ersten A&R-Managern beim Wort "Fun-Punk" Dollarzeichen in den Augen erscheinen, wachsen bei den Zitronen die Zweifel an ihrer Strategie.

Frühe Weggefährten wie die Ärzte oder die Toten Hosen spielen das Musikbusiness-Spiel mit und schaffen Ende der 80er den großen Durchbruch. Die Goldenen Zitronen wählen einen anderen Weg. Sie schlagen das Angebot der Bravo aus, die nächsten Ärzte zu werden, als diese sich 1989 auflösen, und verabschieden sich vom all zu bierselig und proletenhaft gewordenen Fun-Punk-Publikum.

Mit den Alben "Punkrock" und "Das Bißchen Totschlag" landen sie stattdessen in der Hamburger Schule. Zwar teilt die Band keinen spezifischen Sound mit Kolossale Jugend, Blumfeld oder den Sternen. Aber man hängt zusammen ab und teilt die politischen Ansichten. Vor allem der grassierende Nationalismus und Rassismus im frisch vereinigten Deutschland erhitzt die Diskussionen. Im Song "80 Millionen Hooligans" ahnen die Goldis 1991 die kurz darauf ausbrechenden Pogrome in Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen, Mölln, Solingen und anderswo voraus.

Mit dem 1996er-Meilenstein "Economy Class" sagen sich die Zitronen schließlich endgültig vom klassischen Punkrock los und bleiben so die vielleicht einzige echte deutsche Punk-Band. Schließlich war Punk einst angetreten, um verkrustete Strukturen aufzubrechen und Neues auszuprobieren. Vom Punkrock bleibt bei den Goldis nur die Punk-Attitüde. New Wave, Free Jazz, Elektronik und Krautrock heißen die neuen Fixsterne in ihrem wild mäandernden Sound-Universum.

Auch textlich erklimmen die Zitronen eine neue Stufe. Mit sicherem Gefühl für Glamour und Selbstironie analysiert und kritisieren sie messerscharf Staat und soziale Verhältnisse - und verschonen dabei die eigenen Kreise und Verstrickungen nicht. Als Gralshüter des politischen Underground wehren sie sich gegen jede Vereinnahmung und verurteilen das Gebaren der Kollegen: "Campino ist der neue Lindenberg", distanziert sich Gaier von den massenkompatiblen Toten Hosen, mit denen man einst gemeinsam auf Tour war. "Es fehlt nur noch, dass er sich einen Hut aufsetzt."

Von den ursprünglichen Zitronen sind Mitte der 90er längst nur noch Kamerun und Gaier übrig. Zur Stammband haben nach mehreren Wechseln außerdem Enno Palucca (Schlagzeug, ab 1991), Julius Block (Piano, Synthesizer, Bass, Gitarre, Orgel, Drumcomputer, ab 1992) und Hans Platzgumer (Gitarre, Orgel, Synthesizer, Schlagzeug, ab 1995) gefunden. Um die Jahrtausendwende gesellen sich Mense Reents (Synthesizer, Bass, Clavinet, Trompete) und Stephan Rath (zweiter Schlagzeuger) dazu.

Klingt kompliziert, ist es aber nur bedingt. Denn die Band versteht sich mittlerweile sowieso als relativ offenes Kollektiv: Instrumente werden - auch live - scheinbar wahllos untereinander ausgetauscht. Zu jeder neuen Platte lädt man munter Gäste ein. Die Liste reicht von den Chicks on Speed zu Jens Rachut (Dackelblut, Oma Hans), Peaches, DJ Patex, Michaela Melián und Thomas Meinecke (beide F.S.K.) bis hin zu Mark Stewart (Ex-The Pop Group). Der Maler und langjährige Freund Daniel Richter gestaltet regelmäßig die Albumcover.

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Ironischerweise mausern sich die einstigen Vorzeige-Punks Kamerun und Gaier während der 2000er zu gefragten Theater-Regisseuren, -Musikern und Hörspiel-Produzenten und landen schon einmal in der Paris Bar, wo neben ihnen Klaus Wowereit diniert. Auch das nimmt die Band natürlich wieder zum Anlass für Songs, so geschehen bei "Der Bürgermeister" auf dem mittlerweile neunten Album "Lenin".

Die nach dem russischen Revolutionär benannte Platte bewegt sich zwischen Avantgarde und Pop. Punkige Sperrigkeit in einem Song wechselt sich mit elektronischen Clubsounds im nächsten ab. Wie gewohnt setzt sich Kamerun so genau wie komplex mit dem Zeitgeschehen auseinander. Album Nummer zehn, "Die Entstehung der Nacht", geht diesen Weg unbeirrt weiter. Mathias Manthe bleibt auf laut.de nur noch zu wünschen, "dass der jüngsten Arbeit dieser wichtigsten deutschen Punkband der dazugehörige Diskurs bald nachfolgt."

Wenn in den 2000ern weniger Alben als vorher erscheinen, liegt das an den zahlreichen gemeinsamen Projekten mit befreundeten Satelliten. Zusammen mit seinem alten Begleiter Rocko Schamoni betreibt Kamerun den Golden Pudel Club am Hamburger Hafen - längst Legende.

Julius Block kennt man - unter seinem bürgerlichen Namen Thomas Wenzel - auch als Bassist der Sterne, einige vielleicht sogar als Pedal-Steel-Gitarrist der Alternative-Country-Band Cow. Mense Reents hat an der Seite von Jakobus Siebels als Egoexpress den Filter-Elektro von Daft Punk vorweg genommen, mischt auch bei Stella mit und liefert ebenfalls an der Seite von Siebels als Die Vögel Clubhits ab.

Schon während einer 14-tägigen Support-Tour durch die amerikanische Provinz entsteht 2002 eine erste Doku über die Zitronen. Filmemacher Jörg Siepmann sieht sich allerdings mit schwerwiegenden Vorwürfen der Band konfrontiert: Weil sie sich und das Erlebte im Film "Golden Lemons" falsch dargestellt fühlt, distanziert sie sich in deutlichen Worten vom Inhalt. Besser macht es Peter Ott, der bereits zuvor gemeinsam mit Ted Gaier den Film "Hölle Hamburg" inszeniert hat. Anhand von Interviews und Archivmaterial erzählt er in "Übriggebliebene Ausgereifte Haltungen" die Bandgeschichte von den Fun-Punk-Anfängen bis zum Album "Lenin" nach.

Auch musikalisch erfahren die Zitronen Respekt. So unterschiedliche Bands und Interpreten wie Station 17, Knarf Rellöm, Robag Wruhme und Japanische Kampfhörspiele knüpfen sich auf "A Tribute To... Die Goldenen Zitronen" die Songs der Systemkritiker vor.

In Zeiten, in denen jede Band ohne Gezeter vor riesengroßen Beck's-Bannern spielt, wirken die Goldenen Zitronen bisweilen wie die letzten Überlebenden aus einer anderen Zeit. "Es gab ja auch mal dieses Zauberwort 'Diskurs' im Pop. Das ist irgendwie verflacht. Ich glaube aber, dass die einzelnen Dinger sich nicht besonders abgeschwächt haben und jederzeit wieder zusammenkommen könnten", erklärt Ober-Zitrone Kamerun im Gespräch mit Intro. Resignation, so viel ist klar, ist mit den Hamburger Totalverweigerern nicht zu haben.

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Düsseldorf, Zakk, 2016 Die Goldenen Zitronen spielen ihr Album "Lenin" beim Düsseldorfer Lieblingsplatte Festival 2016.

Die Goldenen Zitronen spielen ihr Album "Lenin" beim Düsseldorfer Lieblingsplatte Festival 2016., Düsseldorf, Zakk, 2016 | © laut.de (Fotograf: Simon Langemann) Die Goldenen Zitronen spielen ihr Album "Lenin" beim Düsseldorfer Lieblingsplatte Festival 2016., Düsseldorf, Zakk, 2016 | © laut.de (Fotograf: Simon Langemann) Die Goldenen Zitronen spielen ihr Album "Lenin" beim Düsseldorfer Lieblingsplatte Festival 2016., Düsseldorf, Zakk, 2016 | © laut.de (Fotograf: Simon Langemann) Die Goldenen Zitronen spielen ihr Album "Lenin" beim Düsseldorfer Lieblingsplatte Festival 2016., Düsseldorf, Zakk, 2016 | © laut.de (Fotograf: Simon Langemann)

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