laut.de-Kritik
Holt die Taschentücher raus!
Review von Josephine Maria BayerDie ersten Töne des Openers "Songbird" klingen wie der Soundtrack eines alten Disney-Films: Mit sanften Streichern begleitet das London Symphony Orchestra die klare Stimme Eva Cassidys und hebt sie in neue Dimensionen empor. Die posthume orchestrale Begleitung der jung verstorbenen Virtuosin ist Ergebnis eines maßgeschneiderten Arrangements der Komponisten Christopher Willis und William Ross, die den bereits veröffentlichten Originalaufnahmen Cassidys ein neues Gewand geben.
Das kunstvolle Mixing und Mastering des Albums lässt den Eindruck entstehen, als wäre die Sängerin gemeinsam mit dem Orchester im Studio gewesen. Cassidys Stimme klingt so ausdrucksstark, klar und präsent, als hätte sie Mitte der Neunziger die modernsten Aufnahme-Technologien von heute zur Verfügung gehabt. Die reine Klangqualität ist einem neuen KI-Verfahren zu verdanken, mit dem die Gesangspartien Cassidys isoliert und von störenden Hintergrundgeräuschen befreit wurden.
Ihre Interpretationen stammen dabei teils von Studioaufnahmen, teils von Mitschnitten ihrer Liveauftritte. Die Orchesterbegleitung variiert bei den jeweiligen Tracks und gibt jedem einen individuellen Anstrich: Während "Autumn Leaves" eine klassische Untermalung im Stil gefühlvoller Filmmusik darstellt und "Tall Trees In Georgia" in die mystischen Wälder des US-Staates entführt, setzten Willis uns Ross bei "Ain't No Sunshine" und "People Get Ready" auf Big Band-Jazz.
Cyndi Laupers "Time After Time" verziert eine intime Kammermusik-Begleitung. Das elfenhafte "Waly Waly" lockt in eine geheimnisvolle Klangwelt: Cassidys Stimme schwebt mit viel Hall über der sphärischen Orchesterbegleitung. Eine skandinavische Geige und eine Querflöte, die Vogelgezwitscher nachahmt, kommen hinzu. Billie Holidays "You've Changed" und der unveröffentlichte Stevie Wonder-Song "I Can Only Be Me" erhalten dank des Großaufgebots an Streichern eine dramatisch-sehnsuchtsvolle Färbung.
Die melancholischen Cover, die Cassidy mit engelsgleicher Stimme Mitte der Neunziger einsang, rühren heute noch zu Tränen - auch ohne zusätzliche Bearbeitung. Beim Hinzufügen von Orchesterbegleitung besteht zudem immer die Gefahr, in Kitsch abzudriften. Und tatsächlich kratzt das Album in einigen Momenten an der Grenze des emotional Ertragbaren. Daher empfehlen sich Pausen beim Durchhören der neun Songs. Doch trotz der süßlichen Melancholie, die den Tracks zugrunde liegt, ist die Begleitung des London Symphony Orchestra eine würdevolle Hommage an eine der großartigsten Sängerinnen ihrer Zeit.
2 Kommentare mit 4 Antworten
Krass, wie aus der Leiche der Frau fast 30 Jahre nach ihrem Tod immer noch Geld rausgequetscht wird. Sie hat zu Lebzeiten EIN Album veröffentlicht. Selbst Songbird kam posthum.
Bei aller gebotenen Kapitalismuskritik - aber wenn man Deiner Argumentation folgen würde, dann wäre auch das Wiederveröffentlichen z.B. von Büchern längst Verstorbener eine schändliche Handlung.
Das Bild passt also nicht so ganz, oder?
@FriedlichChiller:
Anderthalb. Sie hat ja noch eins mit Chuck Brown veröffentlicht.
Aber es ist schon so, daß viele ihrer besten Stücke erst posthum rausgekommen sind. Und "Songbird" in allen Ehren - verglichen mit anderen Künstlern hat man sich bemerkenswert zurückgehalten, was Kompilationen angeht, sondern hat möglichst versucht, der Käuferschar etwas Neues anzubieten. Und so ein wirklicher Totalausfall war - das inoffizielle "No Boundaries" beiseite - bislang nicht drunter.
Bei "I Can Only Be Me" hatte ich die große Angst, daß das so was Unschönes wird, wie man das auch teilweise bereits mit Elvis, den Carpenters oder anderen Kalibern veranstaltet hat - Gesangsspuren über meist eher überflüssiger, tendenziell steriler Orchesterbegleitung -, aber das Album ist eigentlich recht gut gelungen, weil man einen ausgezeichneten Arrangeur gefunden hat, der das Orchester Eva Cassidy gleichberechtigt an die Seite gestellt hat, der nicht nur mit den Liedern, sondern vor allem mit den vorliegenden Gesangsspuren gewerkelt hat. Daß das Album manchmal schon ziemlich bedenklich am Rande des Kitschs spazieren geht, unterschreib' ich trotzdem.
Und die Hardcover-Version der CD-Auflage lohnt nicht wirklich, behaupte ich mal.
Gruß
Skywise
"dann wäre auch das Wiederveröffentlichen z.B. von Büchern längst Verstorbener eine schändliche Handlung."
Das hat er nie argumentiert.
Es ging mir tatsächlich nicht unbedingt um Kapitalismuskritik und auch gar nicht um die Qualität der Veröffentlichungen. Bei anderen Künstlern kann bei Wiederveröffentlichungen wenigstens auf eine ganze Lebzeit des Schaffens zurückgegriffen werden. Hier geht es um eine Künstlerin, die leider viel zu früh verstorben ist und nur zwei Handvoll Songs veröffentlichen konnte. Inzwischen ist der größte Teil ihres Ouvres ohne ihre Beteiligung rausgekommen. Das hat schon irgendwie einen seltsamen Beigeschmack.
Auch so eine Künstlerin, für die man sich bei File Sharing bedanken muß. Ohne illegale Tauschbörsen Mitte der 2000er wäre ihr Name heute vermutlich nur noch ihren nächsten Freunden bekannt. ♥