laut.de-Biographie
Héroes Del Silencio
Untypisch für ein 'One Hit Wonder' verläuft die Geschichte, wenn 25 Jahre nach der Trennung Millionen Social Media-Follower an einer Band haften. So geschehen bei den 'Helden der Stille' aus dem spanischen Saragossa. Kurios, wenn man bedenkt, dass es Facebook & Co. noch gar nicht gab, als die Gruppe aktiv war.
Die Héroes Del Silencio landen 1991 mit "Entre Dos Tierras" (Zwischen den Welten) ihren einzigartigen Erfolg. Während Einmal-Kracher meistens happy-go-lucky klingen, ist dieser hier recht melancholisch. Mit über sechs Minuten zudem ein Monument, weil man bizarrer Weise den längsten Track zur Single auserkor.
Allen Pop-Gesetzen zuwider läuft der spanische Text des Erkennungsliedes, der noch nicht mal eine leicht verdauliche oder gar überhaupt nur leicht verstehbare Botschaft trägt. "Und ich lade nicht die Schuld auf mich, zuzusehen, wie du scheiterst / Du stehst zwischen zwei Welten, bekommst und lässt keine Luft zum Atmen." Der verklausulierte innere Monolog verhandelt wohl einen Streit zwischen Freunden um den richtigen Kurs im Leben; der Videoclip exerziert das am Beispiel eines Paares durch, das sogar handgreiflich wird - also nebenbei ein erfolgreiches Lied zum schwierigen Thema 'häusliche Gewalt'. Gleichwohl MTV diese Szenen rausschneidet.
Während einer Lateinamerika-Tour lernen die Rocker 1993 unverhofft ein potenzielles Neumitglied kennen. Alan Boguslavsky aus Mexiko tritt als Rhythmusgitarrist ein und erinnert sich im Magazin HMBreakdown an die Spontaneität: "Nach einigen Sessions, die wir zusammen hatten, merkten wir sofort, dass der Funke übergesprungen war. Ich bin dann mit den Jungs zusammen nach Zaragoza gegangen, wo ich auch seitdem wohne."
Im Juli '94 eröffnen die Héroes samt fünftem Mann für Bryan Adams auf den Cannstatter Wasen in Stuttgart. Anders als Bryan tragen die Musiker aus dem Nordosten Spaniens lackierte Fingernägel und setzen eine neue Ästhetik in Szene, wirken düster und mystisch. Der Konzertkalender bleibt prall gefüllt und strapaziert die Musiker.
Am Tag, an dem die Fußball-EM in England startet, reist man erst mal zurück nach Madrid, wo der Live-Output "Parasiempre" vor Stadion-Publikum entsteht. "Parasiempre" ("für immer") symbolisiert aber kurz darauf bereits den immer währenden Nachruhm der Formation, die am Bröckeln ist. Nur hat sich die Band an sich selbst aufgearbeitet, zerbricht und gibt unterwegs bei einer Pressekonferenz ihr Auseinander-Gelebt-Sein zu Protokoll. Überraschend, denn äußerlich hätte es für die Jungs nicht besser laufen können. Die vielen ausstehenden Termine (z.B. Balingen, Kiel) reißt man noch runter; erst danach ist Sense. Bandmitglied Joaquín erinnert sich auf seiner Webseite 2021 hingegen so, dass die Tour damals mittendrin abgebrochen worden sei.
Die Gruppe bringt es auf immerhin sechs Live-Scheiben, eine Doku inklusive Live-Songs sowie eine Handvoll geplanter Konzert-Platten, die nie erscheinen. All das bei nur vier Studioalben. Die erste Studio-CD bleibt ein rein spanisches Phänomen, die folgenden drei charten hoch in Deutschland und gehen insgesamt in Europa mit jeweils um die 700.000 Stück über die Ladentische. Das 1990er-Werk sogar - in Summe aller Länder - über zwei Millionen Mal. Eine Comeback-Tour 2007 rüttelt nichts am besiegelten Schicksal der Bühnengemeinschaft: Sie ist ein Phänomen der Prä-MP3-Ära. Ein Element der Neunziger, das mit den Trends der Nineties so wenig zu tun hatte, wie kaum ein anderer Act.
Die Geschichte startet bereits 1984. Die angeblich stillen Gitarrenrocker jammen als lokale Newcomer zu viert in ihrer Region Aragon, entlang der französisch-spanischen Grenze. Für einen Talentwettbewerb verlassen sie die Gegend zwischen Pyrenäen-Gebirge und dem Fluss Ebro. Sie fahren in die Flamenco-Hochburg Salamanca. Ohne sich mit traditionellen Rhythmen zu identifizieren. Es herrscht gerade die erste Welle der sogenannten 'Weltmusik'. In deren Sog: Italo-Disco! Etliche Hits aus südeuropäischen Urlaubsländern haben sich in England, Benelux und der BRD bereits durchgesetzt. So scoutet ein Mitarbeiter der Firma EMI die Héroes auf dem Nachwuchs-Festival und lanciert ihre Demo Tapes zum einstigen Plattenlabel der Beatles.
Das Talent, das er in der Truppe wittert, soll im Nachhinein noch große Producer-Namen anziehen. Erst einmal geht's aber mit einer EP und einem Longplayer auf der iberischen Halbinsel los. Bereits auf diesem Debüt, "El Mar No Cesa" (1988), punkten die Frischlinge mit den für Enrique typischen Tonhöhensprüngen im Gesang. Das der Klassik entlehnte Stilmittel des Arpeggio kennzeichnet dann auch den Signature-Song "Entre Dos Tierras", dort im Übergang von Strophe zu Refrain.
Für den Nachfolger "Senderos De Traición" (1990) zeichnet eine an dieser Stelle unerwartete Handschrift verantwortlich: Phil Manzanera, Gitarrist von Roxy Music, hinter den Kulissen tätig für John Cale, Nina Hagen und die Poems For Laila. Diese zweite CD löst in Spanien einen kleinen Hype aus, zumal Rock auf Spanisch bis dato vor allem ein Phänomen lateinamerikanischer Länder ist. Das große Potenzial des dortigen Marktes für Musik in der Landessprache Argentiniens bis Uruguays ermöglicht überhaupt erst so rasch eine Tournee von Weltmaßstab. Auch Europa grasen die Newcomer ab: von Fernseh-Shows in Italien über Events wie das Münchner "Tollwood", die sich an ein allgemeines Publikum und nicht nur an Musik-Freaks adressieren.
Während Manzanera die dritte Scheibe "El Espíritu Del Vino" klangästhetisch ähnlich einfärbt wie die zweite, identifizieren sich die Musiker nicht so recht mit dem eintretenden Erfolg. Die vielen Transatlantik-Flüge, der Stress vieler großer Open Air-Auftritte in engmaschiger Folge, nagen am Fundament: Die Lust geht flöten. So fallen die Mitglieder einander gegenseitig auf die Nerven. Fürs vierte Album weichen sie sich im Vorfeld einige Zeit lang aus und gewinnen Bob Ezrin als Aufpasser hinter den Studioscheiben. Viele namhafte Meilensteine zahlen auf sein Konto ein, zum Beispiel "The Wall". Der nächste Héroes-Albumtitel "Avalancha" bedeutet "(Wirbel-)Sturm" und lässt ordentlich die Riffs zünden.
Etliches findet auf der begleitenden Setlist seinen Platz, sogar acht der neuen Stücke. Darunter: "Iberia Sumergida", ein rhythmisch reizvoll 'vibender' Latin Hardrock mit bassigen Riffs auf den Spuren ZZ Tops und Led Zeppelins, der dissonante Heavy Funkrock-Metal "Parasiempre" und der stimmungsvolle Akustik-Groover "La Chispa Adecuada (Bendecida 3)". Immerhin vier Sechsminüter verdeutlichen das songtechnische Kaliber: massive Mini-Rockdramen! Der Mitschnitt des Titelsongs von "Avalancha" auf der "Parasiempre"-Konzert-CD lässt besonders viel Platz fürs Publikum. Es weiß den Classic Rock-Tune an sich zu reißen. Die Fans sorgen mit Enthusiasmus für ein zeitloses Dokument von gelungener Stadionmucke.
In Interviews klaffen die Meinungen innerhalb der Band zu jener Zeit öffentlich auseinander, wie die Tageszeitung taz seziert. "Ich sage die Dinge nicht sehr klar, weil sie mir selbst nicht sehr klar sind", lässt sich Sänger Enrique Ende '95 über Bedeutungen und Tragweite der Songtexte vernehmen und streitet jede politische Dimension ab. Während Bassspieler Joaquín fordert, "die Leute sollen ihren Arsch bewegen, sie sollen kämpfen".
"Vielleicht sind die Heroes del Silencio die einzige Band der Welt, bei der es am wenigsten ergiebig ist, mit dem Sänger, Texter und Kopf zu sprechen. Der Rest scheint die Meinung des Chefs so eindeutig nicht zu unterschreiben", urteilt der Reporter und fasst damit die Sollbruchstelle des zu dieser Zeit höchst angespannten Kollektivs zusammen. Todesfälle im Umfeld der Gruppe (Tourmanager; Bruder des Sängers) werden nicht aufgearbeitet, lasten auf der Mannschafts-Balance und trüben die Harmonie. Das hinzu gekommene fünfte Mitglied Alan ist auf manchen PR-Fotos nicht mal zu sehen und eher zusätzliches Rad am Wagen als eine stabilisierende Größe. Am 6. Oktober '96 schmeißt Enrique auf einer kalifornischen Bühne mit Gegenständen um sich, verlässt wütend die Show und blamiert seine Kumpels zutiefst. (Ob seine Jim Morrison-Locken kein gutes Omen waren?)
Was bleibt: Einiges vom Material erscheint gar nicht mehr. EMI liefert manches auf "Rarezas" (1998) nach. Bilanz: Trotz vieler mehr als solider Songs glückte es der Gruppe selbst mit Bob Ezrins Hilfe nicht, Gefühle übers Komponieren und Dichten so zu kanalisieren, dass die Jungs authentisch bleiben konnten – gleichwohl sich alle fünf am Schreibprozess beteiligten. Die Formation scheitert an einem kollektiven Burn-Out.
Schlagzeuger Pedro Andreu (geboren April '66) macht in kurzen Intermezzi weiter mit den Bands Puravida und Malamente. Mit Enrique Bunbury verträgt er sich später wieder und spielt für ihn Harmonika auf dessen Platte "Flamingos". 2003 erfindet Drummer Pedro sich als Electrojazz-DJ neu - auf dem legendären Café Del Mar-Label.
Enrique (geboren am 11. August '67) verfolgt zielstrebig seine Solo-Karriere. Sie verläuft stetig und gut, jedoch beschränkt auf den nationalen Markt. Mit "El Libro De Las Mutaciones" (2015) gelingt dem Künstler das, was bei den Héroes nie fertig wurde: ein "MTV Unplugged". Anfang 2022 teilt er in seinem Newsletter mit, dass Konzerte ihm statt Spaß nur mehr Schmerzen im Hals und heftige Atemprobleme bereiteten. Aufgrund dieser gesundheitlichen Beschwerden kündigt er das Ende seiner Musikkarriere an. Hunderte Follower bedauern auf Facebook, wie sehr sie ihn vermissen werden.
Lead-Gitarrist Juan Valdivia engagiert sich in der NGO Global Humanitaria España, die unter anderen Kindern in ukrainischen Schulen mit Lebensmittel-Lieferungen hilft. Bassist Joaquín startet derweil spät, 2021, in seine Solo-Phase. Mit der rockigen Singer/Songwriter-LP "Emociones" meldet er sich zurück.
Bis ins Frühjahr 2022 gibt es nur eine Coverversion des großen Hits der Band: vom bosnischen Trance-House-DJ Slobodan 'Topmodelz' Petrovic. Sat.1 verwendete "Entre Dos Tierras" von 2003 bis '14 als Titelstück zur Krimi-Doku-Fiction "Niedrig und Kuhnt". Der Fußballclub Holstein Kiel nutzt das Lied regelmäßig zu Spielbeginn in der Zweiten Bundesliga.
Rammstein füllen die Cover-Lücke und nehmen das '90er-Relikt für ihren Release "Zeit" anno 2022 auf. Passend dazu ist auch die Story der Spanier eine Geschichte von Zeit(management), Timing und Zeitgeist.
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