laut.de-Kritik

Mehr, Mehr, Mehr, Mehr!

Review von

Ich frage mich schon sehr lange, warum ich mit Jacob Colliers Alben einfach nicht warm werde. Auf dem Papier ist doch eigentlich alles gegeben, das die Platte interessant machen kann: Ein unfassbar talentierter und sympathischer Musiker, der ohne Schwierigkeiten Genregrenzen überflügelt und mit spannenden Harmoniespielchen beeindruckt. Bei jedem Vortrag und in jeder Live-Show fesselt er mit seiner kindlichen Begeisterung, die er jeglicher Form von Musik entgegenbringt. Aber irgendetwas an seinen Studio-Produktionen hat mich schon immer gestört, auf dem neuen "Djesse 4" mehr den je. Vor einigen Wochen gab mir dann Jacob selbst die Antwort.

In einem Interview sprach er sich deutlich gegen das Dogma "Weniger ist Mehr" aus, stattdessen setzt er in seinen Produktionen stets das Ziel voran, die Grenzen des quantitativ Machbaren auszureizen, indem er teilweise einhundert Spuren an Gesang und Instrumentalbegleitung übereinander stapelt. Gleichzeitig wirft er zahlreiche Genres in einen Topf verrührt diese kräftig, ohne davor die Frage zuzulassen, ob es wirklich sinnvoll ist, in den letzten 15 Sekunden eines Songs noch einen Death Metal Part zu stopfen.

Es gibt an diesem Punkt absolut keinen Grund, warum man so etwas tun sollte, außer dem Wunsch, die eigenen Projekte so übergroß und vielseitig wie möglich zu gestalten. Der Opener "100,000 Voices" veranschaulicht die Krankheit, von der die ganze Platte befallen ist. Jacob hat dafür sein Publikum von zahlreichen Live-Shows einsingen lassen und die einzelnen Spuren zu einem megalomanischen Riesenchor zusammengefügt. Das ist selbstverständlich beeindruckend, aber eben auf eine Weise, wie eine besonders überdimensionale Betonkugel beeindruckend ist. Die Musik von Jacob ist nichts weiter als Effekt, sie hat keine inhaltliche Tiefe, sie ist ein Labor, in dem die größten und vielseitigsten Songs herangezüchtet werden. Es wird alles ausprobiert, was theoretisch machbar ist. Für diese Art der Experimente würde aber auch eine künstliche Intelligenz ausreichen, die mit der vollen Bandbreite an Weltmusik und Musiktheorie gefüttert wurde und keinen Anspruch an eine humanoide Delivery erhebt.

Denn "Djesse 4" ist auf weiten Strecken so totproduziert, so glatt geschliffen und steril, dass es keine emotionale menschliche Tiefe zulässt. "Little Blue" hört sich an, als hätte man Sufjan Stevens mit einem riesen Bügeleisen überfahren, andere Passagen klingen wiederum nach Bon Iver unter dem Einfluss von Aufputschmittelchen. Jede Genre-Erkundung enden in dem flachsten, mainstreamtauglichsten Blueprint der jeweiligen Musikrichtung, der nur irgendwie denkbar ist. Es ist faszinierend, wie selbst die jazzigsten Flavours zu eindimensionaler Werbemusik verkommen.

Fairerweise muss hier auch gesagt werden, dass Teile des Albums Jacobs Größenwahn entkommen können. Gerade die zahlreichen Feature-Parts bringen ein unvorhersehbares Element in den Mix und können der belanglosen Betonkugel einige Ecken und Kanten verpassen. Außerdem hört man stets die riesige Freude heraus, die Jacob an seinem musikalischen Gemantsche empfindet. Immerhin etwas.

Martin Scorsese hat Marvel-Filme vor einigen Jahren als Freizeitparks bezeichnet, die zwar von talentierten Menschen produziert werden, am Ende aber glattgebügelte und überbordende Massenprodukte ohne echte Vision sind. Ähnliches lässt sich über "Djesse 4" sagen, denn es ist ein komplett überladenes Machwerk ohne ein größeres künstlerisches Ziel vor Augen, abseits des Plans, so gigantomanisch wie möglich aufzutreten. Was am Ende bleibt, sind bis zur Bedeutungslosigkeit überladene Pop-Hymnen, die aus einem riesigen, inhaltsleeren Potpourri bestehen. Es stellt ein spektakuläres, extravagantes Scheitern dar und bestätigt damit die Annahme, dass weniger eben wirklich mehr sein könnte.

Trackliste

  1. 1. 100,000 Voices
  2. 2. She Put Sunshine
  3. 3. Little Blue
  4. 4. WELLLL
  5. 5. Cinnamon Crush
  6. 6. Wherever I Go
  7. 7. Summer Rain
  8. 8. A Rock Somewhere
  9. 9. Mi Corazón
  10. 10. Witness Me
  11. 11. Never Gonna Be Alone
  12. 12. Bridge Over Troubled Water
  13. 13. Over You
  14. 14. Box Of Stars Pt. 1
  15. 15. Box Of Stars Pt. 2
  16. 16. World O World

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LAUT.DE-PORTRÄT Jacob Collier

Ein bunt gekleideter Mann springt auf einer Festival-Bühne umher, vor ihm sammelt sich ein großes Publikum. Aber es ist nicht er, der singt, sondern …

5 Kommentare mit 3 Antworten

  • Vor 8 Monaten

    Ich habe großen Respekt vor seinem theoretischen Wissen und dem praktischen Können an den Instrumenten, aber sein Songwriting ist und bleibt...uff. Immerhin ist er für alle vermeintlich unbegabten Musiker ein Mutmacher. Sämtliche Skalen und Harmonien zu kennen kann helfen, muss es aber nicht. Ein "London Calling" wird ihm wohl nie gelingen.

  • Vor 8 Monaten

    Auch bei mir war die Bewunderung für seine außeridischen musikalischen Skills bisher größer als die für seine Songs aber langsam geht es schon in die richtige Richtung finde ich:
    der Coldplay-Opener ist schön, "Little Blue" ist echt schick und "Wellll" macht Spaß und ist wirklich catchy.
    Das ist für seine Verhältnisse doch alles ziemlich wenig "schau mal, welche abgefahrenen harmonischen Konzepte ich auf dem Kasten hab" und eingängig.

  • Vor 8 Monaten

    Welche Ketzerei.
    Album natürlich Bombe.

  • Vor 6 Monaten

    Ich erkenne keinen Sufjan Stevens in Little Blue. Wenn man es mit diesem vergleicht, kann es nicht gut bewertet werden. Um einen Stevie-Wonder-Song einzuschätzen, würde man ihn ja auch nicht mit Wilcos Musik vergleichen.

    Ob Djesse Vol 4 ein Meisterwerk ist oder nicht, darüber lässt sich trefflich streiten. Aber 2 Sterne finde ich schockierend. Wenn man das mit all den anderen Alben vergleicht, die auf laut.de 2 Sterne bekamen, ist Jacobs neues Album um Meilen besser und musikalisch großartiger. 2-Sterne-Alben sind üblicherweise "Würgmusik", naives "Popgedudel" oder belanglose Spätalben von mutlosen Rock-Urgesteinen.

    Ich finde daher, dass es das beste 2-Sterne-Album ist, dass hier jemals besprochen wurde.

  • Vor 6 Monaten

    Jacob ist vielleicht ein "musician's musician". Ich mache niemandem einen Vorwurf, der mit seiner Musik nichts anzufangen weiß, weil sie "überladen" klänge. Geschmackssache letztlich.

    Das Netz ist derweil voll mit reaction-Videos zu seinen Songs, in denen Menschen buchstäblich in Tränen ausbrechen, weil der jeweilige Song sie so berührt. "Little Blue" ist geradezu ein Paradebeispiel oder auch das Coldplay-Cover "Fix You". Ich bin froh, dass die Musik-Welt um einen Künstler reicher ist, der das Pop-Portfolio mit derart technischer Raffinesse bereichert und gleichzeitig (oder gerade deswegen) derart tiefe emotionale Resonanzen hervorbringt.

    "Less is only more when you know what "more" is" - so lautet übrigens das volllständige Zitat von Collier. Es geht ihm nicht um "mehr" um jeden Preis, sondern darum, eine bewusste musikalische Entscheidung auf Grundlage einer möglichst breiten musikalischen Palette zu treffen. laut-Redakteur, do your homework!

    Mir macht das Album sehr viel Freude, auch wenn ich nicht jeden Song super finde. Djesse vol. 2 fand ich z.B. besser. Schade nur, dass Jacob Colliers extrem außergewöhnliches musikalisches Talent von Menschen, denen seine Musik schlicht nicht gefällt (das ist ja gar nichts Schlimmes) in dem Sinne diskriminiert wird, dass man ihm emotionale Wirkung per se abspricht. Wie falsch das ist, beweisen die erwähnten reaction-Videos sowie mittlerweile zigtausende von seiner Musik beseelte Konzertbesucher aus aller Welt.

    • Vor 6 Monaten

      seht, es ist slipperman! und sein sideKick, sneakerboy!

    • Vor 6 Monaten

      Danke, Slippy. Collier hatte ich bisher noch nicht in dem Maße entwürdigt, wie er es eigentlich verdient hätte. Ich glaube, für Anfänger in der Musik oder Nicht-Musiker ist er eher einer als ein "Musician's Musician".

      Diejenigen in der Musikszene, denen ich traue und deren Meinungen ich respektiere, wissen mit ihm sehr wenig anzufangen. Da beherrscht einer viele Instrumente, hat ein großes musikalisches Wissen - und macht daraus etwas absolut Unspannendes. Er bestätigt für mich sehr, dass Musik eben sehr, sehr, sehr viel mehr ist als die Summe ihrer Teile. Und diese Teile bis zur annähernden Perfektion zu beherrschen führt einen dann idR. nicht besonders weit, wenn man etwas Aufregendes sucht.

    • Vor 6 Monaten

      Ist doch ok, dass seine Musik für dich unspannend ist. Kann man halt nix machen. Das liegt aber nicht daran, dass er musikalisch so versiert ist. Sie berührt dich einfach nicht; wäre wohl auch so, wenn er den Blockflöten-Unterricht in der zweiten Klasse abgebrochen hätte.

      Für mich ist das Interessante an Collier, dass sie mich emotional berührt UND gleichzeitig so musikaisch reichhaltig ist.