laut.de-Biographie
Joao Gilberto
Viele nennen João Gilberto den Paten, Begründer oder König des Bossa Nova. Wegen seines hochkonzentrierten Vortragsstils bezeichnet man ihn auch als Zen-Meister der brasilianischen Musik. Ohne den zutiefst scheuen Exzentriker wären Geburt und weltweiter Siegeszug des Bossa undenkbar.
Der Weg zur verehrten Lichtgestalt gestaltet sich für den jungen Gilberto zunächst eher steinig. Das Spiel auf der Akustikgitarre, der Violão, erlernt der interessierte Jugendliche 1955 mit 14. Als 18-Jährigen zieht es ihn die Großstadt. Das Ziel einer Karriere als Musiker fest im Blick, ergattert er einen Job bei den Garotos Da Lua, einer Band, die täglich live für einen Radiosender in Rio de Janeiro spielt.
Die Kombo heuert den talentierten Jungspund als Leadsänger an. Doch das Ensemble steht unter keinem guten Stern. Die später berüchtigte Launenhaftigkeit Gilbertos und seine chronische Unpünktlichkeit führen nach zirka einem Jahr zum Rauswurf. Statt des erhofften kometenhaften Aufstiegs folgen für ihn unstete Jahre, in denen niemand auch nur einen Pfifferling auf seine musikalische Laufbahn legt.
Diese Periode beschert dem ehrgeizigen Gilberto viele Umzüge, noch mehr Marihuana, wenige Jobs und zur Krönung eine ausgewachsene Depression ob der Stagnation seiner Pläne. Doch sein eiserner Wille und die Sehnsucht nach künstlerischen Großtaten erweisen sich als stärker als solche Hindernisse. Nachdem er jahrelang nahezu mittellos bei diversen loyalen Freunden verbringt, zieht Gilberto zu seiner Schwester nach Diamantina.
Der Name des Städtchens ist Programm. Gilberto mutiert hier nach und nach zum musikalischen Edelstein. Tag und Nacht verbringt er mit ebenso verbissenen wie ausdauernden Übungen für Gesang und Gitarre im Badezimmer. Wegen der aus seiner Sicht einmaligen Akustik dieses Raums verlässt er ihn nur selten. Langsam aber sicher wandelt er sich hier vom ewigen Talent zum echten Virtuosen und Innovator.
Er entwickelt den typisch gehauchten Gesangsstil zwischen Flüstern und sanfter Intonation, der für das gesamte Genre später als prägend gilt. Auf der Gitarre macht er aus der Samba etwas gänzlich Neues. Statt perkussiver Elemente betont er den harmonischen, melodischen Anteil.
Daneben setzt er seine Sechssaitige gelegentlich perkussiv ein, um den Charakter des jeweiligen Liedes variabel und komplett zu halten. So erblickt der schillernde Bossa Nova das Licht der Welt recht prosaisch: auf fünf Quadratmetern zwischen Kachelwänden auf dem Toilettensitz.
Doch zunächst wächst sich diese wegweisende Phase für Gilberto zum echten Problem aus. Sein bürgerlich denkender Vater zeigt sich zutiefst entsetzt und verärgert über das abwegige Verhalten des Sohnes, seinen unkonventionellen Gesang und seine konstante Weigerung, geregelter Arbeit nachzugehen. Kurzerhand erwirkt er eine Zwangseinweisung in die örtliche Nervenheilanstalt zwecks umfangreicher Untersuchungen und Umpolung. Da die dortigen Ärzte keinerlei psychische Auffälligkeit feststellen können, die über ausgeprägten Künstlerindividualismus hinausgeht,
entlassen sie Gilberto nach einer Woche.
Ziemlich bedient von diesem Erlebnis, aber nicht weniger entschlossen, begibt Gilberto sich zurück nach Rio. Dort sucht er seinen alten Kumpel Antonio Carlos "Tom" Jobim, ebenfalls eine Kultfigur des Bossa, auf. Jobim arbeitet dort als Komponist für ein Label und begeistert sich augenblicklich die neuartige Musik.
Gemeinsam mit Texter Vinicius de Moraes, der später unter anderem mit Baden Powell zusammenarbeitet, kreieren sie den Urknall des Bossa Nova mit "Chega De Saudade". Song und die gleichnamige LP schlagen 1958/59 ein wie eine Bombe. Gilberto steigt schlagartig zum Trendsetter und Idol gleichermaßen auf. Von diesem Punkt an erobert Bossa Nova die internationale Popkultur.
Besonders die amerikanische Jazzszene erliegt der Faszination dieser neuen Klänge. Besonders für die Cool Jazzer bietet Bossa ein gefundenes Fressen. Herbie Mann, Charlie Byrd oder Stan Getz integrieren ausgiebig Elemente in ihre Stücke. Vor allem letzterer verhilft den mittlerweile in die Staaten übergesiedelten Gilberto 1964 zum weltweiten Durchbruch.
Hierfür benötigen sie nur acht weitgehend von Jobim verfasste Songs, die zusammen die Kultplatte "Getz/Gilberto" ergeben. Den Gesang teilt der Brasilianer sich mit seiner damaligen Frau Astrud Gilberto. Diese hat zwar noch nie vorher gesungen, meistert die Aufgabe jedoch prächtig. Zusammen mit Getz' charismatisch-warmem Saxophon macht sie die Single "The Girl From Ipanema" zum Welthit, ewigen Klassiker, Aushängeschild des Bossa Nova und Evergreen bei Easy-Listening- und Lounge-Freunden. Neben "Yesterday" der Beatles gilt es als meistgespieltes und -gecovertes Lied aller Zeiten.
Im Sog des Monsterhits mausert sich "Getz/Gilberto" zu einer der meistverkauften Jazz-LPs aller Zeiten und gilt musikhistorisch als Meilenstein auf einem Podest neben Dauerbrennern wie Miles Davis' "Kind Of Blue" oder Keith Jarretts "Köln Concert". Auch das zugehörige Livealbum "Getz/Gilberto Vol. 2", die Aufzeichnung eines gemeinsamen Konzerts im selben Jahr, überzeugt Fans wie Kritiker zwei Jahre darauf und verkauft sich ausnehmend gut.
In den folgenden Jahren nimmt Gilberto zahlreiche hochwertige Platten auf. Neben dem "White Album" von 1973 gibt es Mitte der 70er auf "The Best Of Two Worlds" sogar eine Fortsetzung mit Getz. Besonders herausragend gerät sein Spätwerk "João Voz E Violão" aus dem Jahr 2000. Als fast 70-Jähriger und lediglich mit Stimme und Gitarre bewaffnet zelebriert er dort große Gefühle zwischen Singer/Songwriter und Bossa. Als Lohn bekommt er hierfür seinen zweiten Grammy.
So unangefochten der Musiker Gilberto auch ist, so rätselhaft gilt er als Person. Ein enigmatischer Kauz, der sich komplett von der Menschheit abwendet. Für seine Auftritte verlangt er optimale klangliche Bedingungen und Ausleuchtung sowie ein gehorsames Publikum. Legendär sind Absagen wegen zu schlechter Akustik des Saals oder falsch platzierter Scheinwerfer.
Oft gibt es wutschnaubende Abbrüche wegen Husten, Niesen, Flüstern oder Rascheln aus dem Zuhörerraum. Interviews lehnt er ohnehin kategorisch ab. Nach seiner Rückkehr gen Rio 1980 verlässt er sein Appartement nur selten. Des Tages schläft er, nachts übt er wie ein Bessener auf der Gitarre. In der Öffentlichkeit sieht man ihn nie. Eines der letzten Phantome des Showbiz, quasi die männliche Garbo des Bossa Nova.
Zahlreiche Anekdoten bringen ihm den Ruf des totalen Exzentrikers und Tierfreunds ein. In Rom soll sich in den 60ern eine wahrhaft legendäre Katzenstory zugetragen haben. Augenzeuge und Produzent Massimo Berdini erinnert sich:
"Eines Tages kam João aus einem Restaurant und blieb auf dem Gehweg vor einer am Bordstein sitzenden, wilden Straßenkatze stehen. Er hat sich eine wirklich lang Zeit mit dem Tier unterhalten. Das Besondere und Überraschende war dabei, wie hypnotisiert die Katze auf seine Stimme reagierte. Als er mein Erstaunen sah, erklärte er lakonisch, die Katze habe ihn verstanden und konnte mit ihren Ohren dieselben Schwingungen wahrnehmen wie er."
Eines seiner letzten Konzerte gibt er 2008 in Salvador de Bahia im Rahmen einer Tour zum 50. Geburtstag des Bossa Nova. Die Karten dafür sind binnen einer Stunde ausverkauft.
João Gilberto stirbt am 6. Juli 2019 in seiner Wohnung in Rio de Janeiro.
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