laut.de-Kritik

Sex & Drugs & Bossanova.

Review von

"Tall and tan and young and lovely; the girl from Ipanema goes walking." Nicht immer stehen Elefantenhochzeiten unter einem guten Stern. Ein Treffen der Giganten Stan Getz und Joao Gilberto jedoch bringt mit "Getz/Gilberto" ein epochales Album hervor. Das smoothe Saxophon des Amerikaners begegnet Gilbertos Gitarrengeflüster. Hinzu kommt eine Menage à Trois mit Sex & Drugs & Bossa Nova.

Die als Bossa Nova bekannte Singer-Songwriter-Variante des Samba startet von hier ihren Siegeszug um die Welt. Ist das Jazz, Easy Listening, Weltmusik, Folk oder gar Pop? Von allem ein wenig und allen gefällt es. Längst steht die Platte in der Bel Etage neben anderen Jazz-Klassikern.

New York, März 1963: Stan Getz lädt die Bossa-Erfinder Joao Gilberto plus Songwriter Antonio Carlos Jobim zur Kollabo ein. Es ist ein wenig, als packe man Nitroglyzerin und Dynamit aneinander. Zwar ist Jobim ein ruhiger Charakter. Getz jedoch neigt seiner Sucht wegen zu unberechenbaren Zornausbrüchen und handgreiflichen Pöbeleien. Ein echter Tough Guy, der schon mal eine Apotheke ausräumt, wenn der Stoff alle ist. Gilberto hingegen gilt zeitlebens als empfindlicher Sonderling mit Marihuana-Neigung, der Konzerte abbricht, nie Interviews gibt und sich lieber ausgiebig mit Tieren - insbesondere Katzen - unterhält.

Doch der rebellische Bad Boy und der in sich gekehrte Misanthrop harmonieren entgegen aller Wahrscheinlichkeit vortrefflich miteinander. Gegenseitiger Respekt und die Liebe zur Musik treibt alle drei zu Höchstleistungen. Getz' Saxophon schmachtet und groovt so warm, dass noch der größte Jazz-Verächter dahin schmilzt. Gilberto haucht intime Zeilen und liefert auf der Gitarre eine Art entkernten und melancholischen Minimal-Samba mit Songwriter-Touch. Bossa Nova war schon immer das Belle And Sebastian der Latino-Genres. Und Jobim fügt als roten Faden ein dezentes, dabei ausdrucksstarkes und effektiv dosiertes Piano hinzu.

Der Grundton jedes Songs ist melodisch eingängig, besonders die tanzbaren Stücke atmen ewigen Sommer an weiten Stränden. "Desafinado" nimmt hier als Kuriosum eine Sonderstellung ein. Gilberto hatte damit bereits großen Erfolg in Brasilien. Getz ebenso in den Vereinigten Staaten mit einer umgekrempelten Instrumentalversion. Beide zusammen machen daraus einen internationalen Hit sowie weltweiten Bossa-Standard.

Gleichwohl sind es vor allem ihre knisternden Balladen, die den Hörer restlos entwaffnen ("Para Machucar Meu Coração" und "O Grande Amor"). Hier potenzieren Getz und Gilberto ihre Ausdruckskraft noch. Gilbertos verhuschtes Wispern kündet davon, dass das Liebesleben auch in Rio kein reiner Ponyhof ist. Daraufhin weht Getz Horn ungebrochen, aber mit kummervoll hängenden Schultern zur Tür herein. Beide Soli gehören zu den romantischsten Augenblicke der Jazzgeschichte.

So intensiv der Bossa-Erfinder und Mr. Cool Jazz auch miteinander agieren, die 23-Jährige Gastsängerin Astrud Gilberto stiehlt beiden die Show. Dass Gilbertos junge Ehefrau die Lieder "Corcovado (Quiet Nights Of Quiet Stars)" und "The Girl From Ipanema" singt, entspringt einer spontanen Idee. Obwohl die deutschstämmige Brasilianerin nie zuvor ein Mikro in der Hand hielt, gibt erst ihr Gesang beiden Liedern den unverwechselbaren Kick. "Quiet nights of quiet stars, quiet chords from my guitar ..." Ihre ungeschulte, dabei mit dem Instinkt des Talents gesegnete Phrasierung spornt Getz zu perfekt harmonierenden Klängen an. Allein schon, wie sensibel er "Ipanema" zwischendurch erobert, ohne das Augenmerk von den Vocals zu abzulenken, ist einen ewigen Platz in der Hall Of Fame wert. Kein Wunder, dass das berühmte Single-Edit die portugiesischen Vocals Joaos kurzerhand über Bord wirft und die Dreiminuten-Version als reines Duett Getz/Astrud Gilbertos veröffentlicht.

Lieder wie "The Girl From Ipanema" markieren auf einer LP den Unterschied zwischen sehr gut und legendär. Für sie wurde der Begriff Evergreen erdacht. Zwischen "Yesterday" und "My Way" logiert das Ipanema-Girl unter den meistgecoverten, -verkauften und -gespielten Songs aller Zeiten. Von der schorfigsten Death Metal-Kombo bis hin zum gelacktesten Crooner interpretieren alle Arten von Musikern diese gleichgültig vorbei eilende Schönheit. Das eigenwillige Original jedoch funktioniert als einziges gleichermaßen gut beim romantischen Date, auf Cocktailpartys von Präsidenten oder im Puff. Ein Stück für alle Situationen. Sogar das echte Ipanema-Mädchen baut aus der Populärität eine eigene Celebrity-Karriere. Heloísa Pinheiro, die als 19-Jährige täglich die Songwriter Jobim/Moraes auf ihrem Weg passierte, diente hier als Inspiration für Melodie und Text.

Trotz des schwindelerregenden Erfolges soll es keine Fortsetzung in dieser Besetzung geben. Die Ehe der Gilbertos zerbricht bereits während der Aufnahmen. Stan und Astrud gehen eine kurze Affäre und längere Freundschaft ein. Schlitzohr Getz spielt einfach mit den getrennten Gilbertos verschiedene hochwertige Platten ein. Dennoch strahlt "Getz/Gilberto" wie eine Sonne auf die Karrieren aller Beteiligten. Joao und Astrud wuchsen zu Ikonen südamerikanischer Musik. Getz bleibt Urvater des Latin-Jazz. Auch Tom Jobims Songs nutzen nach 1964 zig Weltstars bis hin zu Sinatra. "... and when she passes she just doesn't see..."

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. The Girl From Ipanema
  2. 2. Doralice
  3. 3. Para Machucar Meu Coração
  4. 4. Desafinado
  5. 5. Corcovado (Quiet Nights Of Quiet Stars)
  6. 6. Só Danço Samba
  7. 7. O Grande Amor
  8. 8. Vivo Sónhando

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