laut.de-Kritik
Die Taufpaten des Symphonic Metal machen einen Schritt nach vorn.
Review von Ulf KubankeMehr als zwanzig Jahre Lacrimosa, das sind zwei Dekaden teils weit überdurchschnittlicher Kompositionen. Untrennbar verknüpft mit teils unerträglicher Pseudolyrik und den oft indiskutablen Vocals von Thilo Wolff. Wird Album Nummer elf - dieser apokalyptischen Tage passend "Revolution" betitelt - die große Umwälzung bringen? Zu meiner eigenen Überraschung muss ich sagen: Ja, zumindest in Teilen. Das Duo erfindet sich zwar nicht revolutionär neu. Zumindest eine kleine Rebellion im selbst gebastelten Szeneuniversum muss man ihnen gleichwohl zugestehen.
Diese liegt bei den zehn gewohnt epischen Tracks vor allem in Besinnung auf und Weiterentwicklung von eigenen Stärken im Bereich Komposition und Arrangement. Ein herausragender Pionier auf dem Gebiet der Entwicklung und Paarung von Klassik mit Metal war er unbestritten schon immer. 2012 setzt Wolff sogar noch einen drauf: Humor!
Entsprechend wundervoll gestaltet sich der Einstieg in die Schallplatte mit "Irgendein Arsch Ist Immer Unterwegs". Preisverdächtiger Songtitel mit ungewohnt abgehangener Lebensweisheit zum 40. Geburtstag Wolffs. Ein stimmiges Piano-Intro in angenehm zurückhaltender Streicher-Einbettung. Dann der atmosphärische Wechsel mit angedeuteter Gassenhauermelodie des Klaviers, bis rohe Gitarren das Klangbild erobern. Hoch die Tasten! "Viele reden viel vom Frieden. Und manche strengen sich auch an ... Doch irgend ein Arsch ist immer unterwegs ... Einer hat immer was zu sagen. Und der eine hat nie gelernt, zu fragen." Schon jetzt einer meiner Lieblingssongs des Jahres.
Nie hat der gute Thilo seine Taufpatenstellung für Symphonic Metal so sehr unterstrichen wie mit dieser LP. Die gewohnt eigenhändige Produktion ist über jeden Zweifel erhaben. Die große Leistung: Es gibt keinerlei Parallelen zu verkitscht orchestralen Hochstaplern der Marke Nightwish etc. Verschnörkelt sanssouci-artiges Überladen à la Therion bleibt ebenso vor der schwarzen Türe. Und über stümperhafte Industrie-Trends gruftig angepinselter Leberwurstproduktionen der Sorte Unheilig, Eisblume und Co kann der musikalische Selfmade-Man ohnehin nur sinister lachen. TW beherrscht als Arrangeur und Songwriter lässig alle Regeln, die er nutzt und gelegentlich umwirft.
Diese Entwicklung findet sich nahezu auf jedem Song. Das vokale Stakkato des Duos zu Beginn von "This Is The Night" ist so ein Highlight jenseits üblichen Szeneschmands. Spannend: der im Verlauf lebhaft eingestreute Flügel in "Feuerzeug (Part 2)". Klassik goes Ragtime, oder was? Man wähnt sich dynamisch fast im Goth-Saloon. Tolle unpathetische Leistung des Wahlschweizers.
Sogar Gesang und Texte sind nicht so unerträglich wie auf früheren Werken. Bei pompösen Nichtigkeiten wie "Refugium" oder "Weil Du Hilfe Brauchst", klappen bei mir zwar immer noch die Zehennägel hoch, das ist mehr Teenage-Tagebuch als Poesie. Doch erstmals ist die goldene Lacrimosa-Regel - "Wer kein Deutsch versteht, ist klar im Vorteil" - in Teilen außer Kraft. Anspieltipp: "Revolution". Mit "If The World Stood Still A Day" bekommt seine - wie immer untadelige - Muse Anne Marjanna Nurmi ihren Keith Richards-haften Solo-Moment.
Insgesamt präsentiert das deutsch-finnische Gespann mit diesem Album seinen bislang größten Schritt nach vorn. Wer bereit ist, diese Entwicklung zu goutieren, darf eine kurzweilige Scheibe in meisterlichen Arrangements genießen.
2 Kommentare
Uff, ob ich Lacrimosa nach laaanger Durstrecke überhaupt noch mal goutiere?
Groß waren sie für mich zwischen 'Satura' und 'Elodia', auf jedem Album mindestens zwei Übernummern und mindestens zwei Totalausfälle. Plus die Fremdscham wegen Wolff'schen Gesangs und gleichermaßen verstörend mieser Lyrik, gepaart mit der eigenen Scham in dem Alter, sowas doch irgendwie gut zu finden.
Also oft hauptsächlich wegen der düsteren Harmonien und Arrangements. Es ist im Prinzip wie du geschrieben hast, Ulf - genial sind sie, wenn Wolff die Fresse hält (und Fr. Nurmi nicht allzu dick Schmalz aufträgt), dann können sie durchaus positiv überraschen. Und aus heutiger Sicht am erträglichsten, wenn sie sich mit 'Elodia' vollends auf klassische Kompositionen besonnen hätten.
'Am Ende der Stille' von 'Elodia' wäre ihr kompositorisch bewegendstes Stück, wenn die Gesangspassagen nicht wären. Auch die Vermischung von Klassik und Metal klang zumindest soundmäßig durch heimische Eigenproduktion bei Lacrimosa lange zu cheesy. Auch ein Grund, warum die Platten vor 'Elodia' heute unhörbar sind - und die danach mit teilweise echten Orchester dann viel zu dick aufgetragen, vor falschem Pathos triefend.
Mit ihrer aus meiner Sicht miesesten Platte, 'Fassade', hab ich meine heimliche Hassliebe zu dieser Band endgültig aufgegeben und in nachfolgende Werke maximal mit einem milden Lächeln mal reingehört - um sie im Plattenladen stehen lassen. So wohl auch diese, zumindest wenn's im Laden nur transparente Tüten gibt.
moin soul
kann ich als standpunkt bis 2012 nachempfinden.
dennoch:
wenn ich dich mit diesem text nicht zumindest etwas neugierig gemacht habe, wäre das gleichwohl schade. denn die lebendigkeit der obig angesperochenen merkmale (von den wirklich tollen pianokapriolen bis hin zum fetten arschlied, dem humorigen hit übersong) sind - zumindest beim bewusssten hören - ein genuss, den ich in 21 jahren immer nur erahnen/erhoffen konnte.
...wenn alles fließt und der künstler sich entwickelt, wäre es schade, so das zu recht kritische publikum weiterhin in öden "lackier mich rosa" schubladen weiter dächte....nicht wahr?