laut.de-Kritik
Ein einfallsreiches Lebenswerk von spielerischer Weltklasse.
Review von Toni HennigFür Markus Stockhausen bilden Musik und Spiritualität eine unzertrennliche Einheit. Deswegen hat er 2001 die Verbindung zu seinem Vater Karlheinz Stockhausen, dem Wegbereiter 'intuitiver Musik', gelöst. Diese durchgängig offene Form der Musik, die aus dem Gefühl heraus entsteht und somit eine spirituelle Erfahrung ermöglicht, entwickelte der mittlerweile 63-jährige Trompeter und Komponist, der in der Nähe von Köln lebt, seitdem fortlaufend weiter. Nun liefert er mit "Wild Life" auf drei CDs ein rund dreistündiges Statement der heutigen Möglichkeiten 'intuitiver Musik'.
Für das konnte Markus Stockhausen ein sechsköpfiges elektroakustisches Ensemble um sich herum gewinnen, mit dem er sich Anfang 2018 zu zweitägigen Sessions in den Hansahaus Studios in Bonn traf. Dabei "habe" er ganz nach der Vorgehensweise Miles Davis' in den späten 60ern und frühen 70ern auf "inhaltliche Vorgaben" verzichtet, heißt es im Booklet. Nur kommt die Musik im Gegensatz zum US-Amerikaner fast gänzlich ohne Schnitte aus.
Auch das Feeling hat kaum etwas mit dem großen Jazz-Revolutionär zu tun, liegt der Fokus doch mehr auf naturhaften Klanglandlandschaften, die ihre Lebendigkeit und Epik erst nach und nach entfalten denn die Versinnbildlichung von Dunkelheit und Verlorenheit. Trotzdem wohnt ihnen oftmals eine gewisse Melancholie inne.
Das verdeutlicht schon die anfängliche, rund dreißig Minuten lange "Session One", wenn man hört, wie nach und nach immer mehr Instrumente dazukommen und Stockhausen seine nachdenklichen melodischen Linien darüber legt, die sich so klar wie reines Wasser anhören, bis sich in der Mitte verschiedene Musiker zu einem rhythmisch lockeren Zusammenspiel treffen. Danach löst eine experimentelle, rituell anmutende Passage das Wilde ab, nur damit die Session ungefähr ab der zwanzigsten Minute in emotional entfesselten Trompetentönen gipfelt, die leidenschaftlicher kaum sein könnten. Hier klingt der 63-Jährige noch am ehesten nach Miles Davis.
Auch wenn er sich im folgenden "Zwielicht" mit seiner gestopften Trompete immer wieder im Sog mystischer, elektroakustischer Klänge herabsinken lässt, nur um wenig später seine Klage wehmütig in die Nacht zu rufen, bekommt man den Eindruck, dass die spielerische Vorgehensweise des US-Amerikaners sein improvisatorisches Verständnis stark geprägt hat. Jedoch gibt er sich im weiteren Verlauf hauptsächlich dem Schönklang hin, den er über die Jahrzehnte perfektioniert hatte und der glücklicherweise weit davon entfernt ist, Kitsch zu sein.
Trotzdem tritt an der Stelle des Schönklangs auch gerne mal die Lust nach abenteuerlichen Sounds, fernab jeglicher festgeschriebener Dogmen im Jazz. Etwa, wenn er sich in "Mangrove Dance" vom Sog berauschender, tanzbarer Rhythmen mitreißen lässt und schöne dynamische Akzente setzt, ohne seinen Sinn für abstrakte Phrasen aus den Augen zu verlieren, oder das Ensemble in "Walpurgisnacht (Fast Lane)" so chaotisch freidrehen lässt, dass es eine Freude ist.
Dieses hat es wahrlich in sich. Nicht nur Florian Weber, der schon länger als gleichberechtigter Partner an der Seite des Trompeters spielt und zwischen frei fließender Melodik und kammermusikalischer Intellektualität sein Können am Piano eindrucksvoll demonstriert, drückt den Improvisationen seinen besonderen Stempel auf. Auch andere langjährige Weggefährten wie Drummer Christian Thomé, der ein kreatives und fantasiereiches Spiel besitzt, und Cellist Jörg Brinkmann, der mit seinen Tönen der Musik eine noch größere Tiefe verleiht, üben einen großen rhythmischen und klanglichen Einfluss auf das Werk aus.
Dazu vernimmt man noch mit Bodek Janke einen zweiten Schlagzeuger, der Thomés Herangehensweise noch ein wenig mehr Feuer entgegensetzt und zudem mit seinen Tabla-Klängen weltmusikalische Einflüsse einbringt. Der Italiener Michelangelo Flammia, der mit seinem E-Bass ein erdiges Fundament für die Improvisationen liefert, sich aber auch des Öfteren zu rockigen Einschüben hinreißen lässt, und Markus' Halbbruder Simon, der sie mit sphärischen Keyboard-Tönen atmosphärisch unterlegt und sich darüber hinaus an einigen Stellen durch sein solistisches und begleitendes Spiel am Saxofon auszeichnet, etwa in "Moonlight In Your Face" und "Spotlights", komplettieren das Line-Up.
Simon hat man außerdem seit "Nonduality" von 2005 nicht mehr an der Seite des Trompeters gehört. Dafür stieg er in all den Jahren zum international bekannten Sound-Designer auf. Das hört man den drei CDs gut an, denn die hervorragende Abmischung, die der Musik viel Luft zum Atmen lässt, geht auf sein Konto.
Seinen Höhepunkt erreicht das Zusammenspiel der einzelnen Musiker in "Zeitreisende", das ausgehend von einem Tabla-Motiv kontinuierlich in immer atmosphärischere Terje Rypdal-Sphären vordringt und weltmusikalische Rhythmen, tiefgründige Cello-Töne sowie flächige Keyboard- und Trompetensounds zu purem Klang verdichtet. Dabei sorgen Stockhausen und Weber immer wieder solistisch für lyrisch mitreißende Gänsehaut-Momente von überwältigender Schönheit.
Gerade hier merkt man, dass es sich bei "Wild Life" nicht nur um weiteres Werk des Trompeters handelt, sondern eher um ein Lebenswerk, von Einfallsreichtum und spielerischer Weltklasse zusammengehalten. Die drei CDs geben sowohl ein Bild über seine jahrzehntelange Jazz-Erfahrung als auch über seine ständige Suche nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten. Selbst beim zwanzigsten oder dreißigsten Hördurchgang entdeckt man immer noch etwas Neues. Dementsprechend ergibt es nur wenig Sinn, die Musik ausschließlich mit dem Verstand erfassen zu wollen. Vielmehr sollte man sich in den Fluss intuitiver Klänge fallen lassen, auch wenn sich das Werk mal nicht von seiner erhabenen und idyllischen Seite zeigt.
So lädt "Lucid Dreamer" auch mal in entrückte, beklommene Traumwelten ein, in denen Stockhausen mit erzählerischen Tönen als Traumführer fungiert, unterstützt von unwirklicher Elektronik, zaghaften Tabla- und Drum-Schlägen und zittrigem Cello. Das kulturell Verbindende in der Musik des Trompeters kommt dann überwiegend in der letzten Hälfte zum Tragen. So führt "Aconcagua" mit lateinamerikanisch klingender Polyrhythmik in den Dschungel, während sich Stockhausen und Weber mit ihrem sowohl tänzerischen als auch verspielten Zusammenspiel kongenial die Bälle zuwerfen, was die zusätzlichen Cello-Sounds gegen Ende nur weiter verstärken.
Mehr auf Tabla-Klänge basieren die nachfolgenden Improvisationen, wobei "Vogelflug" durch die federleichten Trompeten-Töne und die bedächtige Polyrhythmik an den Drums besonders heraus sticht. Da kommen wohlige Erinnerungen an Stockhausens elegantes Spiel auf Rainer Brüninghaus' "Continuum" auf, das 1984 erschien. Mit "Flussaufwärts" geht es dann zum Abschluss im geduldigen Tempo auf musikalische Wanderschaft. Dabei spricht aus den beseelten Tönen des Trompeters zum Ende hin ein unmittelbares Verständnis von Spiritualität jenseits einzelner Religionen.
Es bleibt ein Werk, das zugleich vielschichtig wie auch zugänglich klingt. Zeit dürfte da sicherlich keine Rolle mehr spielen.
2 Kommentare
Wunderbare Platte. Wer auch immer hier nur einen Punkt gegeben hat, der sollte in sein stilles Kämmerlein gehen und Schlager hören!
Sehr cool!