laut.de-Kritik

Der Jimi Hendrix der Sahara lädt zur Traumreise.

Review von

Mdou Moctar ist eine*r dieser Musiker*innen, die in einer gerechten Welt Weltstars sein müssten. Der in Niger geborene Sänger und Gitarrist ist ein absolutes Ausnahmetalent, der fernab der Behauptung, dass die Tage der Rockmusik gezählt seien, schon seit über einer Dekade die Tishoumaren-Szene in Afrika aufmischt. Tishoumaren, international auch unter der Bezeichnung Desert Blues oder Tuareg Blues bekannt, ist ein Musikstil, der Elemente der traditionellen Musik des Nomadenvolkes mit modernen Einflüssen aus Blues und Rock vermengt. Daraus gedeiht ein wunderschöner Hybrid zweier Kulturen, die, so scheint es, schon immer für einander bestimmt waren. Wunderschöne Sound-Oasen inmitten von endlosen Sandwüsten treffen auf staubige Gitarrenriffs, die einem den Sand förmlich auf die Zunge legen: Die psychedelische Natur der Einflüsse, derer sich Moctar und Konsorten bedienen, spiegelt sich fast hörbar in den surrealen Landschaften wider, die sie tagein tagaus umgeben.

Obwohl dieses Kleinod an musikalischer Kreativität und handwerklichem Talent an für sich schon beeindruckend und aller Rede wert ist, so ist Moctars Rolle in all dem besonders hervorzuheben. Der 35-Jährige ist nicht umsonst einer der größten Stars der Szene. Er, der Revoluzzer, der sich traute, bevor irgendjemand seinen Namen kannte, Autotune und Elemente der in Nigeria populären House-Musik in sein Repertoir zu integrieren, ist einer der talentiertesten Gitarrenspieler des afrikanischen Kontinents, womöglich sogar weit darüber hinaus. Nicht umsonst bezeichnet man ihn als 'Jimi Hendrix der Sahara'. Nun liefert er mit "Afrique Victime" sein längst überfälliges Debüt auf Matador, das wohl auch endlich international für aufgestellte Lauscher und auf den Boden geklappte Kinnladen sorgen dürfte.

Schon das erste aufheulende Riff zu Beginn von "Chismiten" entführt uns in eine Traumwelt fernab unserer Realität. Zusammen mit Moctar reisen wir ins Herz der Sahara, wo er als mystisches Wesen über allem thront und mit den außerirdischen Klängen, die er seiner Gitarre entlockt, Wind, Wetter und Zeit kontrolliert. Es ist der fulminante Auftakt für ein Album-Erlebnis, das es sich zur Aufgabe macht, jede Ecke und Kante der Welt die es erschafft, auch zu erforschen. Moctars Afrika ist wunderschön, voller Magie und Romantik, das, so suggeriert es der Albumtitel, versklavt und ausgebeutet wurde. Diese Dualität, zwischen Liebe und Wut, bringt er mit seinem geerdeten Gesang und anklagenden Texten über Ungerechtigkeiten und Ausbeutung zum Ausdruck, die sein einzigartiges, fantastisches Gitarrenspiel konterkarieren.

In der gesamten ersten Hälfte von "Afrique Victime" hört man fast ausschließlich nur Moctar und seine Gitarre. Die meist nur aus wenigen Akkorden bestehenden Rhythmen ändern sich über die Laufzeiten der einzelnen Songs nur in minimalem Maße. Vielmehr gibt ihnen der Klampfen-Virtuoso ausreichend Zeit zum Atmen, lässt sie einen Sog entwickeln, der uns von einer Traumlandschaft in die nächste entführt. So evozieren die gezupften Saiten auf "Taliat" Bilder von gleißenden Sonnenstrahlen in der Mittagssonne, auf dem wunderschön-entspannten "Tala Tannam" tönen sie wiederum wie Regentropfen auf kochendem Sand. Moctar hypnotisiert mit seiner Repetition, ohne zu langweilen. Das Wechselspiel zwischen Akustik- und E-Gitarre sorgt für Stimmungswechsel, die durch den Einsatz von Chören und Field-Recordings nur weiter akzentuiert und hervorgehoben werden.

Mit der "Untitled" betitelten Interlude, die die zweite Hälfte einleitet, finden dann auch die zuvor eher schüchternen Drums einen prominenten Weg ins Klangbild. Auch Moctars Songwriting wird lebendiger, abwechslungsreicher und dringlicher. Der alleinige Star all dessen bleibt jedoch nach wie vor seine Gitarre, der er auch hier wieder Klänge entlockt, die einen daran zweifeln lassen, dass sie alle vom selben Instrument kommen. Auf dem wohl traditionellsten Tishoumaren-Stück, "Layla", klingt sein Spiel distanziert, metallisch und kalt, während er nur wenig später auf "Afrique Victime" arenataugliche Psych-Riffs vom Stapel lässt, die wie ein unaufhaltsamer Sandsturm durch die die klangliche Prärie pirschen.

Dieser sieben Minuten lange Titeltrack ist es auch, der die Botschaft der LP nochmals deutlich macht und uns mit in französisch und Tamasheq gesungen Anklagen wieder auf den unromantischen Boden der Tatsachen zurückholt. "Africa is a victim of so many crimes/If we stay silent, it will be the end of us", mahnt Moctar da, ehe er in ein aufgepeitschtes, einem Kampfschrei gleichkommenden Riff überleitet, das er gegen Ende so manipuliert, dass es wie wehklagende Sirenen tönt, die das Ende der Welt verkünden. Das Stück atmet Jimi Hendrix und Prince und belebt die psychedelischen Rock-Opern der 70er auf einem anderen Kontinent wieder.

Mdou Moctar ist für ganz Großes bestimmt, das macht sein (schon) fünftes Album deutlich. 'Sky is the limit', würde man an dieser Stelle vielleicht vergleichbaren Newcomern*innen mit auf den Weg geben, aber Moctar ist eben kein Newcomer mehr und den Himmel hat er spätestens mit "Afrique Victime" hinter sich gelassen. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis auch der Rest der Welt das realisiert und er auf den Bühnen spielen wird, die für ihn bestimmt sind.

Trackliste

  1. 1. Chismiten
  2. 2. Taliat
  3. 3. Ya Habibti
  4. 4. Tala Tannam
  5. 5. Untitled
  6. 6. Asdikte Akal
  7. 7. Layla
  8. 8. Afrique Victime
  9. 9. Bismilahi Atagah

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