laut.de-Kritik

Der Konkurrenz im Symphonic Metal immer noch um Meilen voraus.

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Rund fünf Jahre liegt die Veröffentlichung von "Endless Forms Most Beautiful" zurück, der ersten Platte von Nightwish mit Floor Jansen am Mikro. 2018 bestritt die Band ihre umjubelte "Decades"-Welttournee anlässlich der Veröffentlichung ihrer Best-Of gleichen Namens. Dementsprechend setzen viele Fans in ihr neuntes Studiowerk "Human. :II: Nature." große Hoffnungen. Anstatt sich allerdings auf den bisherigen Erfolgen auszuruhen, fügt die Formation mit einem folkigeren Ansatz ihrem Soundkosmos ein weiteres ergänzendes Puzzleteil hinzu.

Dabei widmen sich die Symphonic Metaller auf der Scheibe der Musik, der Erde, der Digitalisierung, der Kunst und dem Individuum an sich. "Human. :II: Nature." stellt im Gegensatz zum Vorgänger, der noch von der Evolutionstheorie Charles Darwins handelte, aber nicht unbedingt ein Konzeptalbum dar.

Trotzdem nimmt das Werk manchmal auf die Evolution Bezug, wie "Music" verdeutlicht, das nicht mehr und nicht weniger als die gesamte Musikgeschichte umreißt, von den ersten Rhythmen, die vor Millionen Jahren beim Klopfen und Singen entstanden, über Bach und Beethoven bis hin zum Blues und allem, was daraus bis heute erwachsen ist. Zunächst hört man jedoch ein langes Doppel-Intro, das anfänglich Tuomas Holopainens Keyboards und atmosphärische Töne des London Session Orchestras durchziehen, um dann in eine archaische Passage mit viel Getrommel und Uilleann Pipes-Klängen von Troy Donockley überzugehen.

Nach elektronischen Sounds und Chor-Einsatz ertönt schließlich ungefähr ab der dritten Minute erstmalig Floors Stimme. Das Klangbild bleibt noch zurückhaltend. Erst wenn rund eine Minute später der Chorus erklingt, erwächst nach und nach ein knackiges Symphonic-Metal-Stück, bestehend aus epischem Gesang, präzisem Schlagzeug von Kai Hahto, straighten Riffs von Emppu Vuorinen, pointiertem Bass von Marko Hietala sowie kraftvoller Sinfonik. Die einnehmende Melodie brennt sich sofort im Kopf ein. Ein Einstieg nach Maß also.

Auch mit dem folgenden "Noise" verknüpfen Nightwish Metallisches und Orchestrales so, wie man es von ihnen nicht anders kennt, wobei der Chorus nicht mehr so eingängig gerät, obwohl die Nummer recht treibend nach vorne geht. Dafür horcht man um so mehr auf, wenn sich Streicherwirbel und dramatische Chöre gegen Mitte mit harten Riffs und Floors Stimme verbinden, die hier über sich hinauswächst, da sie in sopranhaftere Tonlagen vordringt als bisher gewohnt.

Das spricht aber nur für ihr trainiertes Weltklasseorgan, denn egal, ob es im weiteren Verlauf klassisch, poppig, rockig oder folkig zugeht: Jansen ist dieser stilistischen Bandbreite mühelos gewachsen. Das unterscheidet sie letzten Endes von einer Opern-Sängerin wie Tarja Turunen und einer Rock-Sängerin wie Anette Olzon, ihren beiden Vorgängerinnen in der Band.

Des Weiteren nimmt Troy viel mehr stimmlichen Raum ein als bisher, wie sich anschließend in "Shoemaker" nachhören lässt. Da trifft er sich mit Floor nämlich zu einem warmen, folkigen Duett, immer wieder flankiert von majestätischem Orchester-Einsatz und typischen Nightwish-Riffs. Trotzdem hat der Track etwas Erzählerisches, geht er doch kurz nach der dritten Minute in eine Spoken-Word-Passage über, die ein cineastisches Chor-Finale ablöst.

Ebenso erzählerisch gestaltet sich "Harvest", erneut ein Duett zwischen dem Briten und der Niederländerin. Das fällt allerdings mit hellem Klavier, rituellem Getrommel, Uilleann Pipes und viel Akustik-Gitarre fast schon keltisch-poppig aus, woran man sich erstmal ein wenig gewöhnen muss. Jedenfalls benötigt er ein paar Hördurchgänge, um zu zünden.

Ganz anders "Pan", das instrumental mächtig Staub aufwirbelt und eine recht klassische Nightwish-Melodie besitzt, die in der Mitte kurzzeitig wirbelnde Streicher und mächtige Chor-Passagen ablösen. Eine grundsolide Leistung letzten Endes. Nicht mehr und nicht weniger. Im Anschluss schlagen die Finnen in "How's The Heart?" wieder einen deutlich folkigeren Kurs ein. Aber müssen das poppige Arrangement und die Uilleann Pipes unbedingt so klingen, dass man schon bei den ersten Tönen sofort an Mike Oldfields und Maggie Reillys "To France" denken muss? Das ist dann doch etwas zu viel des Seichten.

Dafür bildet dann "Procession" eine umso größere Überraschung. Das bewegt sich mit klagender Stimme Floor Jansens und süßlichem Piano ebenso auf poppigen Pfaden, bietet aber als Ausgleich eine unheimlich schöne Melodie, deren Melancholie gegen Ende hin geradlinige Rock-Klänge und düstere Keyboard-Flächen verstärken, so dass man Gänsehaut bekommt. Hätte sicherlich auch genauso gut auf "Century Child" stehen können.

Dagegen mutet "Tribal" anfänglich wieder heavierer an, während mit dem männlichen-weiblichen Doppelgesang zwischen Jansen und Marko Hietala die Power nicht zu kurz kommt. Dem schließen sich merkwürdige rituelle Gesänge und eine lange Trommel-Passage an, die sich allerdings mehr nach Blue Man Group statt authentischem Tribal-Feeling anhört, bevor die beiden Stimmen zum Ende wieder einsetzen. Im Endeffekt hinterlässt der Song einen recht konstruierten Eindruck.

In "Endlessness" übernimmt schließlich Marko ein Großteil des Gesangs, was aber hervorragend zu den getragenen, hardrockigen Riffs passt, die tatsächlich eine gewisse Endlosigkeit ausstrahlen. Auf jeden Fall hält sein markant schroffes Organ die sehnsüchtige Atmosphäre zusammen, immer wieder durchkreuzt von lieblichen Piano-Tupfern und melodischen Keyboard- und Streicher-Tönen. Zwischendrin gibt es auch lebhafte sinfonische Sounds, die Floor genug Raum geben, sich wieder einmal in klassische Sphären aufzuschwingen. Zum Schluss klingt der Track mit sphärischen Orchester- und Chorklängen filmreif aus.

Der zweite Teil des Albums setzt sich aus einer achtteiligen Suite namens "All The Works Of Nature Which Adorn The World" zusammen, hat also durchgängig Score-Charakter und betont die sinfonischen Qualitäten Tuomas Holopainens. Dabei versteht der 43-jährige Hauptsongwriter von Nightwish die Suite als "Liebensbrief an diese Welt".

Sie beginnt und endet mit zwei Spoken Word-Stücken, die von Hoffnung und irdischer Schönheit erzählen, aber auch zum Nachdenken anregen. Dazwischen pendelt sie zwischen dramatischen, chorbetonten sowie friedlichen, von Naturgeräuschen, märchenhaften Streichern und Harfe unterstützten Passagen hin und her. Damit sie einen noch erdverbundeneren Charakter bekommt, rücken hier und da auch mal einzelne Instrumente in den Vordergrund, wie ein Cello im zweiten Teil oder die Uilleann Pipes Troys im vierten Teil.

Letzten Endes zeigt die Suite alle Stärken, aber auch alle Schwächen von Markos Kompositionsweise auf. Im besten Falle lösen sich spannungsgeladene und weiträumige Momente gegenseitig ab, so dass sich nach destruktiver Wucht eine atemberaubende Farbenpracht vor dem inneren Auge auftut. Im schlimmsten Falle verkommt die Musik zur esoterischen Hintergrundberieselung für Leute, die seichte Klavier- und Harfen-Klänge und harmloses Vogelgezwitscher auf einer CD für das höchste aller Gefühle halten.

Insgesamt schöpft Holopainen zwar durch die mittlerweile nahtlose Zusammenarbeit mit Pip Williams die Möglichkeiten des orchestralen Klangkörpers noch mehr aus als auf seinem Solo-Album "The Life And Times Of Scrooge" von 2014. Dennoch braucht man die Suite letzlich nur als wirklich langjähriger treuer Fan des Finnen, da er leider oftmals nicht aus seiner kitschigen Haut fährt.

Dafür werden Nightwish mit dem ersten Teil der Platte den Erwartungen ziemlich gerecht. Nur mit der bisweilen folkig-erzählerischen Ausrichtung muss man sich zunächst einmal anfreunden können. Der Konkurrenz im Symphonic Metal-Sektor ist die Formation trotzdem nach wie vor kompositorisch, gesanglich und atmosphärisch um Meilen voraus, da sie selbstbewusst aus den gewachsenen Fähigkeiten der einzelnen Bandmitglieder schöpft.

Trackliste

  1. 1. Music
  2. 2. Noise
  3. 3. Shoemaker
  4. 4. Harvest
  5. 5. Pan
  6. 6. How's The Heart?
  7. 7. Procession
  8. 8. Tribal
  9. 9. Endlessness
  10. 10. All The Works Of Nature Which Adorn The World - Vista
  11. 11. All The Works Of Nature Which Adorn The World - The Blue
  12. 12. All The Works Of Nature Which Adorn The World - The Green
  13. 13. All The Works Of Nature Which Adorn The World - Moors
  14. 14. All The Works Of Nature Which Adorn The World - Aurorae
  15. 15. All The Works Of Nature Which Adorn The World - Quiet as the Show
  16. 16. All The Works Of Nature Which Adorn The World - Anthropocene (Including "Hurrian Hymn To Nikkal")
  17. 17. All The Works Of Nature Which Adorn The World - Ad Astra

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7 Kommentare mit 6 Antworten

  • Vor 4 Jahren

    Dreamtheaterisierung abgeschlossen: Je pompöser, desto nichtssagender. 1/5 selbstverständlich Pflicht.

    • Vor 4 Jahren

      Nichtssagend ? Einen Nightwish Song hört man aus tausenden anderen Songs heraus. Man muss Thuomas Kompositionen nicht mögen, aber er hat einen sehr eindeutigen Stil (, den ich sehr schätze).

    • Vor 4 Jahren

      Und genau an diesem Stil erhebe ich ja Anstoß. Dankeschön für das Nichtargument.

      Die Stilistik ist da, hat aber keine Aussage (außer Trivialitäten). Darum ist es nichtssagend.

    • Vor 4 Jahren

      Danke für einen weiteren nichtssagenden Kommentar. Das frühe Werk von Tuomas Holopainen ist durchzeichnet von Melancholie und allgemeiner Traurigkeit. Die Texte drehen sich oft um das Verhältnis zwischen Poet und Werk, um Einsamkeit und das Gefühl der Enge. Wenn man die alten Texte und Motive anhört, dann erkennt man fast schon depressive Züge, die mit romantischen Motiven gefüttert werden. Die letzten beiden Alben dagegen beschäftigen sich sowohl musikalisch, als auch lyrisch mit der menschlichen Evolution und dem Darwinismus. Man erkennt eine deutliche Entwicklung hin zu lebensbejahenden Themen, was vermutlich auch der persönlichen Entwicklung geschuldet ist. Was daran ist jetzt nichtssagend? Gerade die musikalischen Motive sind immer sehr im Einklang mit den dazugehörigen Lyrics. Auf dem aktuellen Alben und auch auf dem Vorgänger wurde viel mit natürlichen Sounds gearbeitet und Instrumenten, die die Natur nachahmen. Passend zum Thema eben. Die Lyriks auf dem Vorgänger z.B. enthielten auch eine deutliche Kritik an kirchlichen Ideen und Religion an sich. In meinen Augen kann man Holopainens Werk in zwei Stücke teilen. Die Anfangszeit bis zum Album Imaginaerum, in dem es viel um romantische Motive geht und oben beschriebene Themen und danach der zweite Teil mit Inhalten zum Mensch, der Natur, Darwinismus usw.

    • Vor 4 Jahren

      "Gerade die musikalischen Motive sind immer sehr im Einklang mit den dazugehörigen Lyrics."

      Derlei wird ja auch gerne im Prog gemacht. Ambiguität ist da verhasst. Lyrics, Artwork, Videos usw muss so eindeutig, dass noch der letzte rafft. Ist wie Fantasy lesen. Nicht mein Ding

  • Vor 4 Jahren

    Ich höre auch gerne Vogelgezwitscher. Am liebsten Raben und Krähen.

  • Vor 4 Jahren

    Dabei ist das Album deutlich weniger pompös als seine drei Vorgänger. Schwinger mal wieder im Trottelmodus unterwegs.

    • Vor 4 Jahren

      Hab immerhin beide Singleauskopplungen gehört (was ich gar nicht hätte tun müssen), denn die Hoffnung stirbt ja zuletzt, dass die in ihrer Karriere mal ein vernünftiges Album aufn Weg bringen...derselbe Schmonz wie immer, kein Unterschied feststellbar.

      Woher die Hudelei für Fr Jansen kommt, ebenfalls ein Rätsel. Erreicht weder den Esprit von Fr Olzon noch den Unfreiwillig-komisch-und-daher-unterhaltsam-Faktor von Fr. Turu...Tuhju...ah, die Opernsirene von früher.

  • Vor 4 Jahren

    Ersteindruck; wenigstens mal wieder Hand und Fuss; nachdem das letzte Album peinlicher Höhepunkt von Holopainens langjährigem Krieg gegen Gott war und in dessen Inexistenz gipfelte (oh the irony), geht's hier mal etwas versierter zu Werke von den Inhalten her, auch wenn die Marschrichtung Naturalismus beibehalten wird.

    Musikalisch richtig gut, die Gesangsarrangements sind ausgeklügelt, die Gitarre ist zurückgekehrt und der Schlagzeuger ist auch nicht mehr halbseitig gelähmt.

    Nur mit Symphonic Metal hat das alles relativ wenig zu tun. Die Band ist post-Imaginaerum eine andere, blame Troy Donockley (der sich hier ENDLICH mal befreit in Richtung Gleichberechtigung spielen darf). Das Endergebnis ist nicht schlechter als vorher (was zu grossen Teilen auch am entfesselten Kai Hatho liegt), aber mit Showtime Storytime ging eine Ära, und was jetzt übrig ist, bzw. 2015 aus den Trümmern auferstand, ist eine neue, die mit dem jetzigen Album zumindest mal ein Statement hingeliefert hat. Wohin das jetzt gehen kann, bleibt spannend, aber der Grundstein ist damit hervorragend gelegt.

  • Vor 3 Jahren

    Hmmmm..... Habe mir das Teil gerade reingezogen. Der erste Eindruck ist gut. Aber ich muss mir das Teil noch ein paar mal anhören. Das ist definitiv ein Album welches erarbeitet werden will.

  • Vor 2 Jahren

    Ein kompositorisch solides Werk - mit peinlicher B-Seite, die maximal für Omas-Esoterik-Zirkel taugt. Größter Schwachpunkt: Die Produktion. Es klingt alles steril, klar und transparent aber leider zu lasten des Drucks. Stellt euch die Band auf der Bühne vor aber bei Hallenbeleuchtung. Das ist zwar schön weil man alle sieht aber es erzeugt keine Emotionen.