laut.de-Kritik

Zwischen Techno und Tinitus.

Review von

Die 80er Jahre, Sehnsuchtsort aller Berufspessimisten. Kalter Krieg, verbissene Blocksysteme, Thatcher und Kohl, das waren noch Feindbilder. Und die Musik erst: Schwülstiger Pop oder verweichlichter Mainstream-Rock. Um Nitzer Ebb zu verstehen, muss man sich vielleicht noch mal Videos reinziehen wie "Jump" von Van Halen: Übelster Rocker-Machismo in Bild und Ton, die Gitarre als Monster-Phallus, zur Sicherheit angereichert mit Riff-Viagra aus dem Synthesizer, gespielt von jungen Altrockern, die rumrennen wie enthauptete Gockel.

Die Gegenbewegung: Post-Punk, ab Mitte der 80er Jahre längst zerfasernd in Subgenres von Indie- über Avantgarde- und Folkrock bis Synthiepop. In Chelmsford/Essex schauen die Teenager Bon Harris, David Gooday und Douglas McCarthy neidisch nach Deutschland. Zwar hatten sie Siouxsie And The Banshees und Killing Joke, aber die Deutschen eben Kraftwerk, Malaria! und vor allem DAF.

Das Konzept Mensch und Maschine, von DAF auf "Alles ist gut" schon um Schweiß und Homoerotik auf den Körper ausgedehnt, denken Nitzer Ebb weiter und kreieren einen dystopisch-angepissten Industrial-Groove, den sie etwas hilflos "International Funk Aggression" nennen. IFA hatte, wie man heute weiß, als Genre-Bezeichnung keinen langen Atem. Stattdessen entsteht der Terminus "Electronic Body Music", der mit dieser Platte den entscheidenden Popularitätsschub erhält. Inhalt: Ein lärmendes Aufs-Maul-Geprügel, für die Bühne mit militärischem Drill aufgehübscht. Der teutonisch anmutende Bandname, schon phonetisch eine Art Killerkommando.

Für die optische Provokation sorgen Live-Auftritte mit Tarnnetzen, Shouter McCarthy trägt Reithose und Springerstiefel, doch ist es die visuelle Ästhetik des Albumcovers, die die Jahrzehnte unbeschadet überlebt. In der Farbgebung und Symbolik minimalistisch wie die Musik, bedienen sich Nitzer Ebb an Gestaltungsformen des Konstruktivismus und evozieren damit die Allmacht totalitärer Regime. Reduktion und Aggression, Militarismus und Minimalismus: "That Total Age" beinhaltet eher nicht das beste Songwriting der Briten (hierfür müsste man die beiden Nachfolgealben bemühen), in Ausdruck und Form ist die Platte ihr definitives Statement. Douglas McCarthys Imperativ-Gebrüll im Stile eines Bundeswehr-Offiziers begleiten an Flak-Kanonenfeuer gemahnende Sequencer-Beats.

Gleich "Fitness To Purpose" bläst einen mit freudlosestem Doublebass-Gewitter aus der Konserve und Aggro-Shoutings zurück an die Hantelbank, wo der Sound auch heute noch volle Funktionalität entfaltet. "Warsaw Ghetto" ist ein älterer Track, der als Fan-Favorit nachträglich auf die Re-Issues der Platte genommen wurde und eine kleine Verschnaufpause erlaubt, bevor einen "Violent Playground" wieder gewohnt brachial zu Boden knüppelt. Am Sound der Platte ist heute höchstens die dünne Produktion zu bemängeln, die die Remasters-Version jedoch etwas aufwertet. Der Verzicht der Band auf 80s-typische Standard-Synths und stereotype Presets ist der Wucht und Energie des Songwritings allerdings bis heute absolut zuträglich.

Ohne Nitzer Ebb, die bald nur noch zu zweit operierten, wäre Techno heute wohl ein Rechtschreibfehler. Ihre Vision progressiver Tanzmusik imponierte zahlreichen Epigonen, von Sven Väth über Derrick May und Trent Reznor bis hin zu Helena Hauff. "Join In The Chant", einer der bekanntesten Songs der Band, bringt die ersten Acid-House-Partys zum Beben. Vom 2020 verstorbenen DJ Andrew Weatherall stammt der Satz: "Ich war Gott nie so nahe wie in dem Moment, als in einem Club in Windsor plötzlich 'Join In The Chant' aus den Boxen dröhnte."

Nitzer Ebbs Primaten-Tanz war ein vertontes "Don't give a fuck" an Autoritäten, Moralprediger und altmodische Rock-Veranstalter, die der Band bei Auftritten ständig das Fehlen des Bassisten und des Gitarristen vorhielten. Die Überheblichkeit der Jugend tat ihr Übriges, wozu die Anekdote passt, dass McCarthy und Harris den Remixangeboten eines US-DJs eine Absage erteilten. Sein Name: Derrick May.

"That Total Age" ist eine Tour de Force zwischen Techno und Tinitus. Den "hardest button to button", Nitzer Ebb drücken ihn hier noch pausenlos. Allerdings nicht auf dem angesagten Yamaha DX7, den jeder Pop-Schnösel und seine Mutter verwendete. Stattdessen wurde feinster Analogsound aus dem Korg MS 20 oder dem Moog Oberheim gezwirbelt. Produzent Phil Harding (u.a. beteiligt an Dead Or Alives "You Spin Me Round (Like a Record)") leuchtet die DX7-Abneigung der Ebbs zunächst nicht ein, erst als er einige satte Bass-Sounds aus dem Gerät presst, stimmt das Duo der Verwendung zu: Der typisch fette Nitzer-Trademark-Kick ist geboren. Harding öffnet dem Trio auch um Mitternacht die Studiotüren von Pete Waterman, wenn Kylie Minogue Feierabend hat.

"Join In The Chant", "Let Your Body Learn" (später Teil von "Grand Theft Auto IV") und "Murderous" bleiben die Steroid-Bomben dieser Platte, "Force Is Machine" und "Muscle And Hate", die T-Shirt-Slogans für die seit Jahren laufende Comeback-Tournee. Die Zeile "We are the boys, we are the big boys / we're so strong, we're so pure" erinnert daran, dass die ganze Kraftmeierei auch ein streng männerbündlerischer Odeur umwehte, der die gesamte EBM-Bewegung schnell in eine Sinnkrise stürzte. Auch McCarthy und Harris fühlten sich bald eingeengt im Genre Presslufthammer-Pop und erweiterten ihr Spektrum in den Folgejahren hin zu traditionellem Songwriting.

Auf "Belief" (1989) kanalisierte mit Flood ein junger Produzent die Ebb-Aggressionen und übte schon mal für sein späteres Meisterwerk "Violator". Besagte Depeche Mode engagierten Nitzer Ebb 1987 und 1990 als Support-Act und bescherten ihnen dadurch ein ganz neues Publikum. Die 90er Jahre bekamen der Band jedoch nicht, Ministry, Nine Inch Nails und Co. übernahmen das Zepter. Seinen Segen holte sich McCarthy Jahre später von DAF-Sänger Gabi Delgado ab: "Von all unseren Kindern waren Nitzer Ebb immer unser liebstes."

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. Fitness To Purpose
  2. 2. Warsaw ghetto
  3. 3. Violent Playground
  4. 4. Murderous
  5. 5. Smear Body
  6. 6. Join in the chant
  7. 7. Alarm
  8. 8. Let your body learn
  9. 9. Let Beauty Loose
  10. 10. Into The Large Air

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