6. Dezember 2022

"Auf Negativität kann man nicht aufbauen"

Interview geführt von

Mit "Spirits" legt die texanische Alternative Metal-Band Nothing More ihr sechstes Studioalbum vor. Wir sprachen mit Sänger Jonny Hawkins über das Pandemie-Album der Band.

20 Jahre Nothing More — dass dieses Jubiläum demnächst vor der Türe steht, scheint dem Sänger und Songschreiber der Band Jonny Hawkins irgendwie entgangen zu sein.

Das Hauptthema unseres Gesprächs ist aber nicht das Jubiläum, sondern das neue Album "Spirits" — das Pandemie-Album der Band. Es war kein einfaches Album, denn die Band war zu Beginn einigermaßen ausgebrannt — und auch der Enthusiasmus hielt sich zunächst in Grenzen, wie Hawkins ganz offen erzählt. Wie der Funke dann doch noch übersprang, warum das Album eine Besonderheit im Backkatalog der Band ist und was ein Psychotest damit zu tun hat, erklärt uns Hawkins.

Jonny, nächstes Jahr wird eure Band 20 Jahre alt.

Mann, darüber habe ich ja noch gar nicht nachgedacht. Stimmt ja.

Wie fühlt sich das an?

Das ist schon seltsam, wenn ich darüber nachdenke. Irgendwie fühle ich mich alt, wenn ich das höre. Ich habe Mark kennengelernt, als wir in der siebten Klasse waren. Das macht schon Sinn, dass das so lange her ist.

Erzähl doch ein wenig zur Entstehungsgeschichte von "Spirits".

Als wir mit dem Album anfangen wollten, bekamen wir ein Tourangebot von der Band Ghost. Also haben wir unseren Tourzyklus von der letzten Platte "The Stories We Tell Us Us" länger ausgedehnt, als wir erwartet hatten, weil wir unbedingt mit ihnen auf Tour gehen wollten. Als wir dann mit der Tournee fertig waren, waren wir einfach nur müde. Um ehrlich zu sein, waren wir mit den letzten beiden Alben so lange auf Welttournee, dass wir uns, als wir wieder zu Hause waren, einfach ein paar Monate Zeit genommen haben, um ein wenig Normalität zu finden, um uns zu erholen und für eine Weile von der Musikindustrie wegzukommen. Am Anfang war es also eher eine Art Reinigung. Als wir mit dem Studioprozess begannen, brach die Pandemie aus. Das Timing hätte also für uns nicht besser sein können, denn wir waren bereits dabei, in die sprichwörtliche Höhle zu gehen.

Wie gestaltete sich das Arbeiten in der Pandemie für euch?

Ich lebte in Louisiana, Mark und Daniel, der Bassist und der Gitarrist, lebten in Texas, und unser Schlagzeuger Ben in Arizona, also war es anfangs etwas schwierig. Wir überlegten, wie wir dieses Album anders machen könnten als die davor — einfach, weil wir immer versuchen, jedes Album als etwas eigenes zu betrachten. Wir versuchen immer sicherzustellen, dass wir uns nicht auf demselben Terrain bewegen wie auf den vorigen Alben. Wir begannen, uns Daten hin- und her zu schicken. Wir haben einen Großteil dieses Albums isoliert eingespielt, während wir bei den meisten anderen Alben als Gruppe zusammen waren. Bei diesem kamen wir zwar kurz zusammen, um das Schlagzeug aufzunehmen, aber verbrachten mehr Zeit als je zuvor als Einzelpersonen in unserer eigenen kleinen Welt. Ich habe also viel Zeit in der Welt des Programmierens und der Gesangsaufnahmen verbracht, nur in einem Raum für mich allein. Und dasselbe gilt für Mark mit seiner Gitarre. Ich bin froh, dass wir dieses Album auf diese Weise gemacht haben, denn unsere Fähigkeiten als Individuen haben sich wirklich verbessert, weil wir dazu gezwungen waren. Aber ich würde nie wieder ein Album wie dieses machen, weil es einfach so frustrierend war, wegen der vielen Überarbeitungen und dem Hin und Her. Es ist einfach nicht dasselbe, wie mit jemandem physisch in einem Raum zu sein und diese nonverbalen Hinweise zu bekommen oder diese Körpersprache, diese emotionale Reaktion, das Unmittelbare in Echtzeit, also war es eine lehrreiche Lektion.

"Wir waren wirklich ausgebrannt vom Touren"

Das Album beginnt mit Zeilen wie "All my friends are dead / We got fucked by the internet". Das klingt, als hätte die Pandemie auch psychologisch großen Einfluss gehabt.

Ja, absolut. Ich meine, der erste Track war sozusagen der Einstieg in die Pandemie. Und nicht nur die Abriegelungen, sondern auch die sozio-politische Sphäre war auf dem Höhepunkt des Konflikts. Ich hatte das Gefühl, dass das Internet überkochte, weil alle zu Hause festsaßen. Alle stürzten sich wie besessen ins Internet. Man hat gesehen, wie schnell das eskaliert ist und die Leute sich über alles Mögliche gestritten haben. Und, ja, diese Zeile, alle meine Freunde sind tot, das war einfach eine Reflexion darüber, wie schnell die Leute in dieser Zeit über andere urteilen und diese kurzen, wenig nuancierten Diskussionen führten und die Leute einfach abschreiben und sagen: "Oh, du bist so und so oder du bist dies und das" — egal ob es um Politik oder ein anderes Thema ging, aber die Leute steckten sich einfach gegenseitig in Schubladen. Es war irgendwie albern. Das hat mich zu einem Großteil des Songs inspiriert. Der Rest des Albums ist allerdings etwas introspektiver. Ich glaube, das ist wahrscheinlich der einzige Song auf dem Album, der soziopolitischer ist. Moment, "Tired of Winning" ist auch noch so einer.

"Tired of Winning" wollte ich eben ansprechen. "Are you tired of winning? Cause it’s already over, we were never enough" — Das klingt schon nach genereller Verzweiflung.

Ja, das war aber durchaus sarkastisch und ironisch gemeint, weil wir darauf eingegangen sind, wie die Menschheit als Spezies dazu neigt, sich selbst zu sabotieren. Wir sind oft unser eigener schlimmster Feind, mehr als äußere Bedrohungen. Wenn wir uns in der Öffentlichkeit unterhalten, konzentrieren wir uns oft auf all diese äußeren Bedrohungen, sei es Krieg, Klimawandel, die Wirtschaft oder all diese Dinge. Aber wenn man sich die meisten unserer Probleme, die uns zu schaffen machen, wirklich ansieht, sind sie in der Regel selbst geschaffen. Der Song handelt davon, dass wir es leid sind, zu gewinnen, dass wir nach Tausenden und Abertausenden von Jahren der Entwicklung und des Überlebenskampfes einfach zu gut sind, um an diesen Punkt zu gelangen, an dem wir miteinander reden können Wir sind hier, wir haben so viel zur Verfügung, und wir schaffen immer noch so viele unserer eigenen Probleme. Wir sollten uns erinnern: Ja, wir haben Probleme, jede Generation hat Probleme. Aber wenn man diese Probleme gegen das abwägt, was wir durchmachen mussten, um zu überleben, dann verblasst das fast im Vergleich. Und das stellt die Dinge wieder in den richtigen Kontext.

Du hast von einem frustrierenden Hin und Her im Prozess gesprochen.. Wann, würdest du sagen, war der Punkt erreicht, an dem ihr alle wusstet, in welche Richtung die Platte gehen würde?

Es war nicht von Anfang an klar. Wir hatten einen Haufen Demos, die hin und her flogen — und das vielleicht zwei, drei, vielleicht sogar vier Monate lang. Ich war ehrlich gesagt nicht sehr begeistert. Da gab es noch keine Musik, die sich für mich besonders anfühlte. Es fühlte sich alles eher scheiße an, und ich war ein bisschen entmutigt. Für einen Moment fing ich an zu zweifeln, ob wir nicht einfach aufgeben sollten. Haben wir wirklich alles herausgeholt, was wir für dieses Projekt hätten herausholen können? Dann kam der Song Spirits, der schließlich der Titeltrack des Albums wurde. Ironischerweise war das der erste Song, bei dem es einfach klick machte, als ich die Musik hörte. Denn die Jungs hatten im Jam-Room an dieser Idee gearbeitet. Es war wie ein Geist, der über mich kam. Ich fing an, ein Gefühl zu bekommen. Da dachte ich: Oh, das ist das nächste Album, das ist die Richtung. Von da an verzweigte es sich in andere Songs.

In einem Moment, wo du es so richtig mies findest: Wie schaffst du es da, ein Teamplayer zu sein und die Stimmung der anderen nicht runterzuziehen?

Dds ist eine gute Frage. Ich bin wahrscheinlich der am wenigsten teamfähige in der Band. Ich bin mehr der Individualist. Ich mag es, mich mehr von der Gruppe zu trennen. Du stellst da eine wichtige Frage, denn am Ende des Tages müssen alle mit an Bord sein und eine Vision sehen, von der alle inspiriert sind und auf die sie hinarbeiten. Ehrlich gesagt, war es irgendwie entmutigend. Ich bin ziemlich ehrlich zu den Jungs, und sie sind sehr ehrlich zu mir. Es ging also eher darum, die Energie neu zu ordnen und umzulenken, denn wenn man einfach nur negativ ist und sagt: "Ich mag dis nicht, ich mag das nicht, ich mag das nicht." Nichts wird erschaffen, weil man einfach alles abtötet, bevor es wachsen kann. Was ich also im kreativen Prozess gelernt habe, ist, dass selbst wenn 90 Prozent einer Idee Scheiße ist, es meistens, wenn sie von Profis stammt oder von Leuten, die schon so lange Musik machen, irgendwo ein kleines Nugget von 10 oder 5 Prozent gibt, auf das man sich konzentrieren und sagen kann: "Oh, das gefällt mir irgendwie". Dann kann man darauf aufbauen, denn auf Negativität kann man nicht aufbauen. Negativität ist einfach eine zerstörerische Kraft. Später im Prozess kann Negativität aber auch durchaus gut sein. Wenn man den Song schon geschaffen hat,, dann kannst du diese destruktive Kraft nutzen, um die schlechten Teile herauszuziehen und ihn wirklich zu verfeinern, fast wie ein Bildhauer, der alles wegmeißelt, das er nicht will. Es geht einfach darum, diese kleinen 10 Prozent oder 5 Prozent umzulenken. Das ist gut, und wir versuchen, aus dieser Zuversicht eine Art Schwung zu machen.

Das klingt so, als wäre ein wenig Abstand durch die Pandemie auch durchaus nötig gewesen.

Abstand voneinander zu haben, war in vielerlei Hinsicht gut. Ich denke, das war wirklich gesund. Ich schätze, was die Band daraus mitgenommen hat, war eine Wertschätzung für das, was wir tun. Wir waren wirklich ausgebrannt vom Touren, aber, wenn es dir für zwei Jahre weggenommen wird und du nicht touren kannst, lernst du es wirklich zu schätzen. Wie großartig es ist, so seinen Lebensunterhalt zu verdienen.

"Das ist eine Tür, die wir geöffnet haben"

Ihr habt als Independent-Band angefangen — in allen Hinsichten. War es für dich schwer, später die Kontrolle in manchen Bereichen abzugeben, oder zumindest zu outsourcen?

Oh, absolut. Ich bin eine Art ... nun, ich würde nicht Kontrollfreak sagen, eher ein Perfektionist. Wenn man Dinge in andere Hände gibt, habe ich sehr schnell gelernt, dass selbst wirklich renommierte Fachleute die Dinge oft nicht gut genug für mich machen. Sie haben zehn andere Projekte, an denen sie arbeiten. Die Detailgenauigkeit und die Dinge, die sie tun, entsprechen also oft nicht meinen Anforderungen. Also habe ich am Ende viel selbst gemacht, selbst produziert, ich habe den Großteil der Produktion und des Mixes auf diesem Album gemacht. Das war viel, zu viel, um es zu alleine tragen. Das ist eine weitere Sache, die ich bei zukünftigen Alben nicht mehr machen werde, weil es einfach zu viel Verantwortung auf meinen Schultern war.

Wie schätzt du "Spirit" zu diesem Zeitpunkt selbst ein?

Es ist eine etwas dunklere, schwerere Platte als die letzten beiden, denke ich. Sie ist ein bisschen progressiver, wir haben uns erlaubt, längere musikalische Passagen zu erforschen, ähnlich wie eine Band wie Tool es tun würde. Wir haben uns also erlaubt, die progressive Seite unserer Arbeit auf diesem Album viel mehr zu erforschen. Ach ja, und da es sich um das "Spirit"-Album handelt, gibt es einen Test, den ich in den letzten Jahren entwickelt habe, den Spirit-Test. Wenn du auf spirits-test.com gehst, findest du es: ein fünf- bis zehnminütiger Test. Man kann damit feststellen, welcher von acht Typen man ist. Es ist ein Konzept, das ich entwickelt habe, nachdem ich eine Reihe verschiedener psychometrischer Auswertungen studiert habe, wie zum Beispiel die Myers-Briggs-Persönlichkeitsanalyse. Ich habe Elemente aus all diesen verschiedenen Studien kombiniert und daraus den Spirits-Test entwickelt. Das ist eine Tür, die wir geöffnet haben, die sich in den kommenden Alben auf alle möglichen einzigartigen Arten weiterentwickeln wird.

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