laut.de-Kritik

Weltklasseproduktion trifft auf zu viele Durchschnittssongs.

Review von

"In the air the smoke cloud takes its form / All the phones take pictures while it's warm."

"Panopticom" eröffnet "i/o" mit für Peter Gabriel typischen kryptischen Lyrics. Alles beim Alten also? Nicht so ganz. Denn der Song überrascht in seiner Beschwingtheit. Die Mitsingbridge lädt zum Tanz um den (Daten)Globus ein – und nähert sich in ihrer Vierviertelseligkeit dem Schlagergenre stärker, als der durchschnittliche Gabriel-Fan zugeben würde. Silbereisen und Zarrella sollten den Opener lieber nicht zu Gehör bekommen, um hinsichtlich Einladungen in ihre Shows nicht auf dumme Gedanken zu kommen.

Sehr früh auf dem Album beschleicht einen das Gefühl, dass die hervorragenden Musiker, die Gabriel um sich geschart hat – darunter alte Weggefährten wie Tony Levin am Bass und Manu Katché an den Drums – ein wenig unterfordert sind. Wir sind derweil mit den Lyrics des Openers ein wenig überfordert: Das besungene Panopticom stellt Gabriel sich gemäß seiner Website als einen riesigen physischen "Globus" vor, der Menschen die Möglichkeit bietet, "bedeutsame persönliche, soziale, wirtschaftliche und politische Daten" ebenso wie wissenschaftliches Wissen zu teilen. Der Inhalt jenes Datenglobus solle auf jedem Smartphone, Tablet und Computer abrufbar sein.

Nun ja, bereits im Jahr 1969 wurde eine Erfindung getätigt, die der Beschreibung der Poplegende erstaunlich nahe kommt. Was Gabriels Panopticom abseits von seiner drollig anmutenden Physischwerdung von unserem allseits geschätzten World Wide Web unterscheidet? Unklar. Angesichts der Lyrics und der Erläuterung auf der Website Gabriels ist es wohl die intendierte Verwendung für – wie auch immer geartete – gute Zwecke. Doch müsste man dann nicht eher den Fokus seiner Utopie beim die Erfindung nutzenden Menschen ansetzen als an der Erfindung selbst? Wie dem auch sei: Die Vorstellung eines Internets (unter anderem Namen) ohne Trolle, Hetzer und TikTok wurde angemessen naiv musikalisch umgesetzt. Kein spannender Einstieg in ein lang erwartetes Album.

Im Rahmen der Promotion für das damals neue Album "Up" teilte Peter Gabriel 2002 mit, dass der Nachfolger mit dem Arbeitstitel "i/o" bereits ein oder zwei Jahre später erscheinen werde. Aus 1-2 Jahren wurden schließlich 21. Der Arbeitstitel jedoch blieb. Dass die Songs einem langen Reifeprozess unterlagen, hört man ihnen indes an. Das gilt weniger für ihre Struktur als für ihre Produktion: Die ist nämlich – insbesondere im Bright-Side Mix – fantastisch. Hinsichtlich Räumlichkeit und dem geschmackvollen Einsatz klassischer Instrumente auf einem Popalbum ist "i/o" das neue Maß aller Dinge, an dessen Produktion sich zukünftige Produktionen werden messen lassen müssen.

Moment mal ... Bright-Side Mix? Der gemeine Gabriel-Fan weiß bereits seit Langem Bescheid: Die Songs auf "i/o" wurden im Verlauf der letzten elf Monate in chronologischer Reihenfolge in jeweils zwei Versionen veröffentlicht. Die Betitelung der beiden Versionen erschließt sich beim Hören ebenso wie die Herangehensweise, die Tracks zu jedem Vollmond zu veröffentlichen, nur bedingt. Somnambul geht es auf dem Album trotz seiner überwiegend balladesker Ausrichtung nur partiell zu, zudem klingt der Dark-Side Mix von Tchad Blake nicht wesentlich düsterer als der Bright-Side Mix von Mark Stent. Überhaupt geht es auf "i/o" deutlich lebensfroher zu als auf dem paradox betitelten Vorgänger. Das schwarz-weiß gehaltene Cover der neuen LP legt also ebenso eine falsche Fährte wie anno 2002 der Titel des Vorgängeralbums.

Auf "Panopticom" folgt "The Court", ein elektronischer Song mit Widerhaken, Progressive Pop, wenn man so will. So sehr der dezente Bläsereinsatz und die nach knapp drei Minuten einsetzende Klavierpassage auch gefällt, kommt man nicht umhin, dem Song das vorzuwerfen, was dem gitarrenlastigeren Schwestergenre häufig vorgeworfen wird: Unstrukturiertheit. Das wäre Gabriels alter Band trotz all ihrer zur Schau gestellten Virtuosität in ihrer goldenen Zeit nicht passiert.

"Playing for Time", eine Klavierballade über die Vergänglichkeit, überzeugt bei gedrosselter Geschwindigkeit mit unkryptischen Lyrics, geschmackvollem Trompeten- und Streichereinsatz und einer herausragenden Gesangsleistung des 72-Jährigen. Der Titeltrack "i/o" hält dieses Niveau nicht. Nach 70 Sekunden mutiert die bis dahin angenehme Halbballade zum penetrant gut gelaunten Crowdpleaser. Textlich zeigt sich Gabriel im Reinen mit sich und der Welt: "Stuff coming out, stuff going in / I'm just a part of everything".

Mit "Four Kinds of Horses" und "Road to Joy" folgen zwei bärenstarke Songs. Erstgenannter bezirzt den Hörer über fast sieben Minuten hinweg mit genial eingesetzten Synthies und entwickelt mit Backgroundvocals und Streichereinsatz einen geradezu hypnotischen Sog. Gabriels musikalische Auseinandersetzung mit Religion als Grundlage sowohl für Frieden als auch für Gewalt und Terror ist – anders als "The Court" – Progressive Pop im besten Sinne. Mit "Road to Joy" legt Gabriel einen sehr gelungenen Gute-Laune-Song über die Kraft der Liebe nach. Der ist eingängig, tanzbar und unprätentiös. So zugänglich präsentierte sich Gabriel zuvor lediglich auf seinem Hitalbum "So" und dessen Nachfolger "Us".

Die zweite Hälfte der LP drosselt das Tempo erheblich, was dem Albumfluss nicht guttut. Ballade folgt auf Halbballade, Klavierstück auf gemächlich vor sich hin mäandernde Synthies. "Olive Tree" mit seinem unvermittelten Stimmungswechsel inklusive plötzlichem Bläsereinsatz wirkt nicht auskomponiert, während "This Is Home" seine Länge von fünf Minuten nicht rechtfertigt.

Einzig "Love Can Heal", thematisch das balladeske Äquivalent zu "Road to Joy", stellt auf der zweiten Albumhälfte voll und ganz zufrieden. Schöner wurde ein Cello auf einem Popalbum wohl noch nie verewigt. Zudem lässt die grandiose Gesangsleistung Gabriels einen die Kitschfrage, die sich angesichts der Lyrics eigentlich aufdrängt, nicht stellen. Großes Kino!

Cineastisch geht es auch auf "And Still" zu. Das Intro drängt sich geradezu auf, demnächst in einem Hollywoodfilm zweitverwertet zu werden. Die Wahl, Gabriels Stimme im weiteren Verlauf des Songs ein Vocoderecho hinzuzufügen, entpuppt sich jedoch (in beiden Versionen) als eine der sehr wenigen unglücklichen Produktionsentscheidungen. Ja, aufgrund der Thematik des Songs mag die Entscheidung nachvollziehbar sein. Doch der Vocodereinsatz nimmt der textlich berührenden Erinnerung Gabriels an seine Mutter die Natürlichkeit. Böse Zungen verwenden in diesem Kontext gerne das Wort "überproduziert". Wer den Song auf der vergangenen Tour erleben durfte, kommt nicht umhin, den bösen Zungen in Hinblick auf die Studioversion zuzustimmen.

"Live and Let Live", eine Ode an die Versöhnung und den durch nichts zu erschütternden Pazifismus, beendet das Album mit viel Pathos. Der Ethno-Popsong im Stil von "In Your Eyes" erreicht leider nicht das Niveau des Konzertklassikers aus dem Jahr 1986 und ist höchstens für die Beschallung der Jahresfeier der örtlichen Waldorfschule prädestiniert. Immerhin zeigt die illustre Schar an Mitmusikern – etwa Paolo Fresu an der Trompete – zum Abschluss endlich, was sie kann. Zuvor war das im Dickicht der Synthies und pianolastigen Balladen schwierig.

Auf "i/o" befinden sich vier herausragende Songs, aus denen eine hervorragende EP hätte entstehen können. Auf LP-Länge überzeugt Peter Gabriel nach langer Pause jedoch nur bedingt. Zu viele Filler und Songs, die vom Ansetzen des Rotstiftes profitiert hätten, trüben das Gesamtbild. Die Weltklasseproduktion am Puls der Zeit täuscht nicht über die Durchschnittlichkeit von Songs wie "Panopticom", dem Titeltrack oder "Olive Tree" hinweg. Dennoch: Auch im hohen Popmusikeralter beweist Gabriel mit Tracks wie "Playing for Time" und "Road to Joy", dass er weiterhin sowohl großartige Balladen als auch hörenswerte Uptemposongs schreiben kann.

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Bright-Side Mix vs. Dark-Side Mix:

Für alle, die sich fragen, in welcher Version sie das Album hören/kaufen sollen: Grundsätzlich sind beide Versionen hervorragend produziert. Der Dark-Side Mix präsentiert die Songs ein klein wenig reduzierter, d. h. es werden insbesondere in den (vergleichsweise wenigen) beschwingten Songs nicht ganz so viele Tonspuren verwandt wie im Bright-Side Mix. Zudem ist der Dark-Side Mix noch basslastiger und die Drums sind in den Uptemposongs etwas dominanter. "Four Kinds of Horses" und insbesondere "Road to Joy" haben im Bright-Side Mix mehr Groove.

Wer auf Tanzbarkeit bei den Uptemposongs wert legt, sollte zum Bright-Side Mix greifen. Balladenfreunde sind indes mit beiden Versionen sehr gut bedient, die langsamen Songs unterscheiden sich nicht wesentlich voneinander.

Die Frage, welche Version des Albums gekauft werden soll, stellt sich indes nur für Vinyl- und MP3-Nutzer. Auf CD erscheint "i/o" am 01.12. lediglich in einer 2-Disk-Version mit beiden Mixen.

Trackliste

  1. 1. Panopticom
  2. 2. The Court
  3. 3. Playing for Time
  4. 4. i/o
  5. 5. Four Kinds of Horses
  6. 6. Road to Joy
  7. 7. So Much
  8. 8. Olive Tree
  9. 9. Love Can Heal
  10. 10. This Is Home
  11. 11. And Still
  12. 12. Live and Let Live

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LAUT.DE-PORTRÄT Peter Gabriel

Peter Brian Gabriel wird am 13. Februar 1950 in Cobham, Großbritannien geboren. Bereits im Alter von elf Jahren beginnt er, erste Songs zu schreiben.

10 Kommentare mit 6 Antworten

  • Vor 11 Monaten

    Erfreulich: "Auch im hohen Popmusikeralter beweist Gabriel mit Tracks wie "Playing For Time" und "Road to Joy", dass er weiterhin sowohl großartige Balladen als auch hörenswerte Uptemposongs schreiben kann." -

    Gehört: 5 Sterne

    Nebenbei: Gilt die "Vierviertelseligkeit" auch für Slayer?

    • Vor 11 Monaten

      Slayer sind nun wahrlich nicht meine Baustelle. Um die Frage dennoch klar zu beantworten: Nein. Slayer mögen Freunde des Viervierteltakts sein, Musik, die (wie im Fall von "i/o" der Opener und der Titeltrack) aufs Formatradio schielt, machen sie aber nicht.

      Aus der Rezi ist hoffentlich deutlich geworden, dass ich keine Abneigung gegen einfach gehaltene Popsongs hege, erst recht nicht gegen die von Peter Gabriel. Ihm verdanken wir ja auch solche Perlen wie "Solsbury Hill", den "Sledgehammer" und jetzt auch das großartige "Road to Joy".

    • Vor 11 Monaten

      Mich wunderte eher der Begriff. Über 90% der populären Musik wird im 4/4 Takt gespielt, ich fragte mich woher die "Seligkeit" kommt. Das ist jetzt geklärt. Vielen Dank.

  • Vor 11 Monaten

    gehört und im Sommer Live gesehen 10/10

  • Vor 11 Monaten

    Nur vier herausragende Songs? Das sehe ich etwas anders. Ich finde mindestens acht richtig gut gelungen und habe mich, ohne großer Gabriel-Fan zu sein, seit „Panopticom“ jeden Monat auf den nächsten neu veröffentlichten Song gefreut. Erst im Herbst ließ die Begeisterung nach, da wurde es etwas lame („And Still“, „This Is Home“). Am meisten hat mich überrascht, wie eingängig und melodiös die meisten Songs sind: „Panopticom“ mit seiner „Big in Japan“-Gedächtnisharmonie, „I/O“ und „Live And Let Live“ wie Coldplay an besseren Tagen oder „Olive Tree“ wie ein guter Phil-Collins-Track aus den 80ern. Über die Produktion kann man sich eh nicht beschweren, wobei mich die Dark-Side-Versionen in den meisten Fällen mehr gecatcht haben.
    Ein exzellentes und zeitloses Pop-Album, das vielleicht an „So“ nicht ganz rankommt, aber das Level vom 92er „Us“ locker erreicht.

  • Vor 11 Monaten

    Es wäre wohl nicht laut.de, wenn der Autor nicht auch noch bei solch einem grandiosen Alterswerk herummäkeln würde. Während andere Künstler in Gabriels Alter sich schon seit 15 Jahren mit Best-ofs und Retro-Auftritten zufrieden geben, knallt uns Peter nun doch noch das so lange versprochene I/O auf den Tisch. Leute, hört Euch bitte mal seine Stimme an! Und dass bei 12 Songs nicht jeder volle Punktzahl kriegt, wobei das immer auch Geschmackssache ist - geschenkt. Peter Gabriel hat sich immer weiterentwickelt, kein Album klang wie das andere. Und das hat er auch diesmal geschafft. Was die Produktion betrifft, kann ich dem Autor auch nicht ganz beipflichten. Erstens unterscheiden sich beides Mixes doch ganz erheblich, und zweitens finde ich gerade den Bright-Side Mix oft schwächer als den Dark-Side. Letzterer kommt oft kraftvoller daher und arbeitet die relevanten Instrumentierungen besser heraus. Und das "Maß aller Dinge" - ich weiß nicht. Gerade beim Hören des Bright-Side-Mix (CD) habe ich ziemlich schnell gedacht, dass er stellenweise zu stark komprimiert ist. So verkommt so manch druckvoller Höhepunkt zum Rohrkrepierer. Auch das macht der Dark-Side-Mix tendentiell besser. Pontentiell könnte sogar das LP-Mastering hier den Maßstab setzen, aber ich wollte jetzt nicht noch mal über 80 EUR ausgeben, um das herauszufinden.

    • Vor 10 Monaten

      Danke für den Kommentar; hat mir gut gefallen. Stimme auch zu, dass wirklich für Alterswerke mit Sternen(Punkten) um sich geworfen wird -siehe zB. die Stones, Album des Jahres in den TopTen für das Gewürge. Eine Ohrfeige für Bekannte wie weniger Bekannte Künstler, die ein wirklich gutes Album dieses Jahr abgeliefert haben.... jaja, ich weiß schon, dass es darum geht die Käufer und Leser (älteres, Tonträger kaufendes Klientel) bei der Stange zu halten. -Ebenso der Witz des Rolling Stone: die 250 besten Gitarristen. auf 250 Andy Summers und um 100 irgendwelche Schrammeleumel...- gibt noch viele andere Beispiele dieser Kragenweite.

  • Vor 11 Monaten

    ich bin positiv überrascht. Auf seine alten Tage noch solch ein überragendes Album zu komponieren gebührt höchsten Respekt - von mir gibt's die volle Punktzahl! Songs mit Tiefe aber trotzdem sehr zugänglich bis poppig - wie zu besten Zeiten. Es ist bedauerlich, dass er so wenig Alben herausgebracht hat. Umso erfreulicher, das er mit I/O auf höchsten Niveau abliefert. Ärgere mich, kein Konzert dieses Jahr gesehen zu haben...

  • Vor 11 Monaten

    Komische Rezession von Dennis Rieger. Panopticom wird dem Schlagergenres zugeschrieben, komplexere Songs sind unstrukturiert, die Balladen Synthielastig, die Musiker unterfordert, die Lyrics nichts sagend und zT kitschig und überhaupt sind nur vier Songs gut. Ach ja, das Album ist wenigstens gut produziert aber manchmal überproduziert.

    Man bekommt den Eindruck, Dennis Rieger hat in das Album nebenher in der U-Bahn kurz reingehört, 1-2 Songs im Dark Side und Bright Side Mix verglichen und 15 Min auf Gabriels Website recherchiert. Die Ahnungslosigkeit des Autors offenbart sich weiter, dass angeblich in Waldorfschulen Popsongs zur Beschallung eingesetzt werden...soviel zur Qualität seiner Kritik.
    Von laut.de als reichweitenstarkes Medium hätte ich einen qualifizierteren Rezensent für ein Peter Gabriel Alum erwartet.