2. Mai 2017
"Heutzutage musst du Facebook nutzen. Ich kanns nicht ändern"
Interview geführt von Olaf SchmidtWiederauferstehung geglückt. Nach zwei starken Alben in Folge sind Pyogenesis wieder da und wirken nicht so, als würden sie sich bald wieder aus dem Staub machen. Verstärkte Live-Aktivitäten und eine Albumtrilogie? Wir fragen Flo V. Schwarz.
13 Jahre nach ihrem letzten Album tauchten Pyogenesis 2015 plötzlich wieder auf, stellten ein neues Album in die Läden und tourten ein wenig. Vor einigen Wochen beglückte uns die Rockband bereits mit dem Nachfolger "A Kingdom To Disappear" und spielte erneut einige Shows. Ich treffe mich mit Flo zu einem netten Gespräch an einer runtergerockten Clubbar in der Düsseldorfer Altstadt. Dort wird der mittlerweile in Hamburg ansässige Vierer später auch auftreten.
Hallo Flo. Wenn ich mich hier so umschaue, frage ich mich: Wie viele Zuschauer zieht ihr pro Abend noch? Oder wieder?
Unterschiedlich. Wir haben ja dreizehn Jahre lang kein Album mehr gemacht. Und es ist schon so, dass wir nicht direkt an die Erfolge von früher anknüpfen können. Es kommen zwischen 100 und 1.000 Leuten, je nach Region.
2015 wart ihr auch mal in Russland. Wie ist das denn zustande gekommen?
Wir waren auch vorher schon mal da, 2006 und 2007. In der Pause haben wir aber nichts mehr in die Richtung gemacht. Russland ist ein guter Markt für uns. Die haben angefragt, ob wir nicht wieder vorbeikommen möchten.
Man versteht ja vermutlich nichts von der Spache.
Ich hab Kyrillisch lesen gelernt. So schwer ist das gar nicht. Es gibt einige gemeinsame Buchstaben, ein paar musst du einfach auswendig lernen. Dann kannst du relativ viel lesen und verstehst auch relativ viel. Eine Speisekarte ist keine Herausforderung. Pizza Margherita heißt Pizza Margherita.
Eine Tour der aktuellen Größenordnung, ist die für euch refinanzierbar oder steckt ihr da zusätzliches Geld rein?
Wir machen da schon Geld mit, aber reich wird hier gerade keiner. Ich habe ja eine Plattenfirma, Hamburg Records, wo ich auch einige Bands manage. Wir haben relativ viel eigenes Equipment, für das wir dann keine Miete zahlen müssen. Das verursacht einfach keine Kosten. Dadurch, dass wir mit mehreren Bands Busse mieten, wird auch das günstiger, als wenn du alleine unterwegs wärst.
Mit einer dieser Bands tourt ihr auch gerade, Anchors & Hearts. Wie sind die so?
Ist 'ne Metalcore-Band, mit der wir bei Hamburg Records auch zusammenarbeiten, die sind gut.
Du hattest bereits erwähnt, dass ihr dreizehn Jahre lang kein Album mehr gemacht habt. Woher kam der Entschluss, mit der Band wieder aktiver zu werden?
Es war nicht so, dass ich vorher keine Lust hatte. Dass ich 2002 die Firma gegründet habe, hat sehr viel Zeit in Anspruch genommen. Anfangs habe ich alles selber gemacht und hatte wenig Zeit. Mittlerweile ist die Firma groß genug, dass ich mir das leisten kann, auf Tour zu fahren.
Bis auf Malte ist von den alten Jungs keiner mehr dabei. Hattest du die gefragt?
Auf der Comeback-Show war ja der Tim dabei, auch ein Gründungsmitglied. Unser damaliger Bassist Peter hat eine Geschlechtsumwandlung gemacht und heißt jetzt Sophie. Der Neustart der Band hat in ihr Leben so nicht reingepasst.
Kann ich verstehen. Bei Life Of Agony frage ich mich auch, wie Mina Caputo diese neue Identität mit den alten Songs verbindet.
Wir waren im November auf Tour mit denen, durch halb Europa. Hat sich nicht viel verändert. Mina geht auf die Bühne, bewegt sich genau wie vorher, vielleicht ein kleines bisschen weiblicher.
"Was macht der Bekloppte da?"
Das aktuelle Album stellt den zweiten Teil eurer Trilogie zum 19. Jahrhundert und den gesellschaftlichen Umbrüchen dieser Zeit dar. Was reizt dich an diesem Konzept?
Mich interessiert diese Zeit sehr. Ich finde, dort sind die wichtigsten Neuerungen unserer Geschichte entstanden. Neuerungen, die bedeutender sind und waren als Computer. Heute geht es nur noch darum, dass alles schneller wird. Die grundlegenden Erfindungen sind alle gemacht, nur das Tempo zieht noch an, mehr Gigabyte, mehr Geschwindigkeit. Damals wurden neue Kategorien entwickelt. Die Dampfmaschine zum Beispiel, mit der wurden Kriege gewonnen, weil man mit dem Zug schnell Menschen von A nach B transportieren konnte und kein riesiges Heer brauchte.
Wie stehst du denn aktuellen technischen Entwicklungen gegenüber?
Naja, ich hab auch ein Handy (lacht). Und als Band musst du Tools wie Facebook einfach nutzen. Es ist, wie es ist. Ich kann's nicht ändern, deshalb schwimme ich einfach mit.
Lass uns über die Alben sprechen. Was mich beim Songwriting interessiert: Gab es beim ersten Album schon Songs für das zweite?
Teilweise gab's Material. Aber die Art und Weise, wie ich ein Album zusammenstelle, ist anders als früher. Früher haben wir zehn Songs geschrieben und die kamen alle aufs Album. Heute ist es so, dass diese zehn Songs eine Dramaturgie aufbauen müssen, mit einer Spannung und einem Finale, der Entspannung. Und wenn ein Song, der besonders gut ist, in diese Dramaturgie nicht hineinpasst, dann möchte ich den auf dem Album nicht haben. Insofern: Es gab Material, das für das erste Album nicht passte, aber jetzt für das zweite. Für das dritte hab ich auch schon was.
Interessant. Ist das Material, das sich in den dreizehn Jahren eurer Nichtaktivität angesammelt hat?
Nee, so nicht. Natürlich gab's Ideen, von denen ich auch ein paar benutzt habe. Aber ich habe nicht auf Halde geschrieben. Musik ist mein Hobby, ich komponiere leidenschaftlich gerne. Das macht mir Spaß. Andere sammeln Briefmarken oder sonstwas, ich mache Musik und natürlich schreibe ich auch zwischendurch was.
Schreibst du die Songs alleine? Und wie?
Ja. Ich habe ein kleines Studio. Wann immer ich Zeit und Lust habe, setze ich mich dahin und daddel etwas herum. Ich nehme vielleicht was auf, ein Riff möglicherweise. Dann suche ich mir eine Melodie dazu. Oder ich habe ein Rhythmusgitarre und spiele eine Melodie drüber, dann noch etwas Schlagzeug dazu. Ich empfinde das nicht als Zwang, Songwriting zu betreiben, als müsste ich unbedingt Songs schreiben. Das ist mein Hobby, ich sitze da und mache Musik, dann kommt plötzlich was dabei heraus. Es macht mir auch Spaß, mit der Reihenfolge der Songs herumzuprobieren. Dann wird teilweise auch noch mal geändert, weil vielleicht das Ende des einen Stücks nicht zum Beginn des nächsten passt, so wie ich mir das wünsche. Deshalb gibt es auch welche, die vom Anfang bis zur Fertigstellung 15 Monate gedauert haben. Einfach, um das Album so fertigzustellen, wie ich das für richtig halte.
Nach welchen Kriterien entscheidest du denn, ob ein Song noch ein paar Keyboards braucht?
Es ist nicht so, dass ich einfach Keyboards draufklatsche und schaue, ob das funktioniert. Ich nehme die Sachen auf, am Anfang ist es vielleicht nur Strophe und Refrain. Dann nehme ich das Zeug und höre es mir im Auto an. Manchmal denke ich: Ach, hier an der Stelle wäre es doch noch gut, wenn das irgendwie stärker würde. Mehr ist es nicht.
Also machst du es noch genau wie in "Cheapo Speakers" damals.
Ja, klar. Mischen tu ich nicht bei mir im Studio, dafür fahre ich nach Hannover. Wenn da der Mix gemacht wird, lasse ich mir den auf einen USB-Stick ziehen, setze mich ins Auto und hör den dort an.
Und dann fährst du um den Block?
Nein, ich steh dann da im Hof und lasse den Motor laufen, damit die Batterie nicht leergeht (lacht). Und drumrum musst du dir vorstellen, sind lauter Wohnhäuser. Die denken sich alle: Was sitzt der Bekloppte da wieder in seiner Karre und hört laut Musik?
"Thrash Metal ist eine politische Musikrichtung"
Eure Musik zeichnet sich schon immer durch eine große stilistische Bandbreite aus. Speziell auf der aktuellen Platte spannst du den Bogen noch mal zu ganz früher.
Ich habe nicht am Reißbrett entschieden, dass wir einen Song in dieser Richtung, einen in jener brauchen. Ich habe einfach geschrieben und geschaut, wie das Material zusammenpasst, sowohl inhaltlich als auch musikalisch. Und dabei hat es sich ganz einfach ergeben.
Ich sehe gerade dahinten den Graham (Butt, English Dogs, Gitarre) rumlaufen. Wo hast du den denn aufgetrieben?
Den kenne ich seit zwanzig Jahren. Wir sind befreundet, also habe ich ihn einfach gefragt, ob er Lust hat, bei uns einzusteigen. Und er hat ja gesagt. Er macht ganz viel mit anderen Bands, aber Pyogenesis bezeichnet er als seine Hauptband. Spielt auch die Soli auf unseren Alben.
Neulich las ich eine Kritik, in der euch "zwanghafte Eingängigkeit" vorgeworfen wurde. Was sagst du zu solchen Vorwürfen?
Nix. Das, was ich mache, gefällt nicht jedem. Das ist mir klar. Wer auch immer das geschrieben hat: sein musikalischer Geschmack deckt sich halt nicht mit meinem. Kein Ding.
Sprechen wir über das Album. "Every Man For Himself And God Against All" ist offensichtlich eine Anspielung auf den Werner Herzog-Film.
In dem Lied geht es um Kaspar Hauser und der Titel ist der Name des Films. Ich fand, das war ein griffiger Titel. Zu dem Thema hab ich mir gleich drei Filme angeschaut. Der Ursprung des Ganzen ist ja, dass man Kaspar Hauser nachsagt, der Erbprinz von Baden gewesen zu sein. Der gesunde, zwei Wochen alte Säugling wurde durch ein krankes Kind ausgetauscht, das dann auch verstorben ist. Das wurde gemacht, um die Erbfolge zu ändern. Fast wie ein Krimi, oder? Und dass dieser Junge dann sechzehn Jahre lang ohne jede menschliche Zuwendung aufgewachsen ist, ohne Licht, im Kriechkeller, ohne stehen zu können - das ist schon ein hartes Thema.
Bei "I Have Seen My Soul" beziehst du dich auf Dorian Gray. Liest du viel Literatur aus dieser Epoche?
Die Literatur ist ein Teil der damaligen Zeitgeschichte. Das kannst du nicht außen vorlassen. Ich möchte schließlich nicht nur über Kriege singen, über Politik und königliche Familien. Es geht um den Wandel der Gesellschaft und diese Art von Literatur war vollkommen neu. Wenn du dir alleine die Science Fiction von Jules Verne anschaust, die beim letzten Album schon vorkam, so etwas gab es vorher einfach nicht.
Worum dreht sich "Blaze My Northern Flame"? Da kann ich inhaltlich nichts rauslesen.
Darin geht es um Alfred Nobel und seine Erfindung des Dynamits.
Weil du eben das Thema Politik angeschnitten hattest: "We (1848)" ist alleine aufgrund des Themas ein politisches Stück. Hast du dir vorher Gedanken gemacht, wie die Reaktion auf so Lied sein könnte?
Du meinst, ob sofort die Nazikeule geschwungen wird? Ja, darüber habe ich mir Gedanken gemacht. Aber bisher hat niemand etwas dazu gesagt. Außerdem besinge ich einfach Fakten, ich glorifiziere nichts und hebe nichts hervor. Ich erwähne die 254 Leichen, die vor dem Berliner Dom aufgebahrt wurden. Ein Resultat davon, dass der spätere Kaiser Wilhelm I. mit Kanonen auf die Demonstranten hat schießen lassen.
Siehst du dich als Teil der Metalszene? Denn in der ist Politik bekanntlich überhaupt nicht beliebt in Songs.
Thrash Metal ist eine durch und durch politische Musikrichtung, würde ich sagen. Und ja, ich sehe mich als Teil der Metalszene. Was wir machen, ist zwar nicht hundert Prozent Metal. Aber Type O Negative sind auch Teil der Metalszene. Oder Motörhead.
Auf dem Vorgängeralbum befindet sich das Stück "Lifeless" mit durchaus kapitalismuskritschen Tönen. Ähnlich kritisch war auch schon "Lower All Your High Standards" auf der "Unpop". Das Thema reizt dich immer wieder, oder?
In Bezug auf die Albentrilogie ist das Thema wichtig, denn Kapitalismus gab es voher nicht, jedenfalls nicht in dieser Form. Erst durch die Industrialisierung wurde es möglich, dass Fabrikanten zu Reichtum kommen konnten. Also Menschen, die nicht dem Klerus oder dem Adel angehörten. Aber es war eine andere Art von Kapitalismus als der, der heute vorherrscht.
Abschließend würde mich interessieren, welche Musik dich aktuell begeistert, du hast ja eine große Bandbreite. Jetzt wär auch deine Chance, noch was vom eigenen Label anzupreisen.
Nee, wir haben ja nur Scheiße (lacht). Klar gibt es viele verschiedene Sachen, die ich gerne höre. Überraschend viel Klaviermusik zum Beispiel, ohne Gesang oder andere Instrumente, einfach nur klimper, klimper. Musik kann zum einen in Stimmungen versetzen und zum anderen eine Stimmung unterstreichen, in der du schon bist. Je nach Stimmung höre ich unterschiedliche Musik. Gerne die Ramones, an denen kann man sich kaum satthören. Angels & Airwaves ist eine Band, die ich mag und uns auch ein bisschen ähnlich ist. Sie mögen längere Songs, setzen auf Melodien und etwas mehr Verspieltheit. The Used mag ich auch gerne, die haben mit uns natürlich überhaupt keine Gemeinsamkeiten. Die Produktionen sind hervorragend, die macht der Sänger von Goldfinger, John Feldham. Der produziert inzwischen sehr viel.
Bonus-Frage: Wenn du wie jetzt auf Tour bist, was tust du, um abzuschalten?
Pennen (grinst).
Flo, vielen Dank für das Gespräch.
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