laut.de-Kritik
Vom Rausch des Unterwegsseins.
Review von Michael SchuhImmer wieder, wenn das R.E.M.-Headquarter Athens/Georgia eine neue Album-Sonderausgabe in die Regale stellt, ist da dieser Phantomschmerz, die Band nie live gesehen zu haben. In den 90er Jahren gab es hierfür Gelegenheiten genug, wenn auch nicht zu diesem Album. Auf der 1995er Tournee zum Vorgänger "Monster" bricht Drummer Bill Berry in Lausanne nach einer Hirnblutung durch ein geplatztes Aneurysma zusammen, nach der Aufnahme zu vorliegender Platte verlässt er die Band.
In der Geschichte von R.E.M. nimmt "New Adventures In Hi-Fi" allein schon deshalb einen besonderen Rang ein, denn Michael Stipe und Co. veröffentlichten danach noch fünf weitere Studioalben, allerdings ohne Berrys Platz vollständig zu ersetzen. Ich ertappe mich also erneut dabei, mir vorzustellen, wie schön es wäre, die vier Musiker noch einmal gemeinsam auf der Bühne zu erleben, wohl wissend, dass es genau diese unstillbare Sehnsucht ist, die den Entschluss der R.E.M.-Bandauflösung so großartig macht. Oder wie es Bassist Mike Mills formuliert: "Leute erzählen uns oft, dass sie uns noch einmal auf der Bühne sehen wollen, aber in Wirklichkeit wollen sie die Band von vor 20 Jahren noch mal sehen und die gibt es nicht mehr."
Ein Satz, den ein U2-Mitglied so niemals äußern würde, auch wenn man ehrlicherweise feststellen muss, dass ein ähnlicher Entschluss dem Glanz ihrer Diskographie durchaus entgegen gekommen wäre. Wie Bonos Band 1993 mit "Zooropa" entscheiden sich R.E.M. zwei Jahre später dafür, ihr neues Album während der laufenden Welttournee aufzunehmen - allerdings eher nach dem Vorbild Radioheads, die auf der "Monster"-Tour neben Sonic Youth den Vorgruppen-Slot innehatten und die diese Idee teilweise für "The Bends" austesteten.
Vom Rausch des Unterwegsseins und den unmittelbaren Wogen des Ruhms erhofft sich das Quartett einen neuen Spirit der Spontaneität, der in die Songs kriechen soll. So trifft man in "New Adventures In Hi-Fi" teilweise tatsächlich auf die Energie eines Livealbums, dennoch unterlassen die Amerikaner größere Experimente (abgesehen von der Idee, dem schönen "Leave" einen durchgehend wiehernden Synthiesound anzugedeihen), oft fühlt man sich vielmehr an ihre frühere Folkzeiten erinnert.
Nachvollziehbar auch, dass das Album nicht wirklich homogen klingt, eine Eigenschaft, die die meisten R.E.M.-Alben bis dato besaßen. "How The West Was Won And Where It Got Us" fungiert als sehr relaxter Beginn, bei dem sie fast schon Specials-artige Muzak-Dub-Einflüsse integrieren - der Glam von "Monster" ist vorerst weg, kehrt bei "The Wake-Up Bomb" sofort wieder zurück, bevor die Band mit "New Test Leper" einen dieser unwiderstehlichen Midtempo-Earpleaser auffährt, Gitarrist Peter Buck nannte es einmal sein absolutes R.E.M.-Lieblingslied.
Für Stipe war es hingegen einer der schwierigsten Songs seiner Karriere. Für "New Test Leper", eine Wortkombination aus Neuem Testament und der Infektionskrankheit Lepra sowie ein Wortspiel aus Testament/Test, braucht er mehrere Anläufe. Erst als er eine nachmittägliche TV-Show sieht, in der ein Transvestit dem sogenannten 'normalen' Publikum vorgestellt wurde, also ein (für die 90er) ungewohnter Crossdressing-Lebensentwurf skandalgerecht ins Format eines werbefinanzierten TV-Privatsenders gesteckt wurde, liefert ihm die demütigende Situation den nötigen Stoff, um den Text zu vollenden.
Auch der Wunsch auszubrechen, charakterisiert einige Songs, ohnehin eines der wiederkehrenden Themen des versehentlich zum Rockstar gewordenen Stipes. In "Bittersweet Me" singt er "I don't know what I want anymore", zuvor, im "E-Bow The Letter"-Duett mit Patti Smith: "This fame thing I don't get it / I wrap my hand in plastic to try to look through it."
Mit dem zerbrechlich-schönen Instrumental "Zither" geht es schließlich auf die Zielgerade. Beim dunklen "Low Desert", das einen Autounfall in der Wüste beschreibt, denke ich seither immer an die tragische Geschichte des Gitarristen Jim Sullivan, dessen leeren Wagen man 1975 in der Wüste New Mexicos fand. Auch wenn Stipe wohl ein anderes Motiv für den Text hatte. "Electrolite" beschließt als klassischer L.A.-Song das Album. Stipe, damals für eine Weile wohnhaft in der Stadt, steht am Mulholland Drive und ist für einen kurzen Moment zufrieden mit sich und der Stadt: "Hollywood is under me / I'm Martin Sheen / I'm Steve McQueen / I'm Jimmy Dean".
Für Fans ist natürlich vor allem die Special Edition interessant. Darauf befinden sich naturgemäß viele B-Seiten, die man schon von der "Complete Rarities: Warner Bros. 1988–2011"-Compilation kennt (besonders schön: "Wichita Lineman" live 1996), dazu kommen Remixes und rare Versionen ("New Test Leper" akustisch, Seattle 1996). Zu den Demo-Juwelen zählen "Be Mine" in der "Mike on Bus"-Version ohne Schlagzeug in einer ergreifenden Version, die laut Mills nur aufgrund des leisen Bus-Hintergrundgeräuschs nicht als Albumversion verwendet werden konnte.
Auch das bereits aus der "Out Of Time"-Ära bekannte, von Mills gesungene "Love Is All Around" (The Troggs) findet sich auf der Deluxe-Ausgabe, inklusive Stipes songdienlichem Backgroundgesang "Baaaa-ba-ba-ba-baaa / Ba-ba-baaa". Abgerundet wird das Paket von Liner Notes des Journalisten Mark Blackwell, allen Bandmitgliedern, Patti Smith, Thom Yorke und Produzent Scott Litt.
6 Kommentare mit 18 Antworten
"Leave" ist immer noch ein fantastischer Song.
Ich höre zwar meistens Hiphop, allerdings glaube ich, dass das in meinem Leben das meistgehörte Album ist, das ich immer anmachen kann, wenn ich gerade nicht weiß, was ich hören soll. Eine sehr nostalgische Platte für mich und eigentlich auch eine Meilenstein-Rezension wert. Die meisten fänden wahrscheinlich Automatik for the people oder Green besser aber für mich ist das hier ihre beste Platte.
Alleine die Tatsache dass Mr. Cobain Automatic im CD Player liegen hatte macht dieses Album als Meilenstein eigentlich unangreifbar.
Aber stimmt schon, R.E.M gehört zu dem erlesenen Kreis an Bands die mehrere Meilensteinkanditaten aufweisen kann.
bruder wen cobyn heute alive dann bestimmt habe massiv in CD player und mehr selbst consscioussness
Deren bestes Albung.
E-Bow the letter!
Automatic for the people sehe ich da schon vorne, aber die Geschmäckers und so..
lol wollte auch gerade "E-Bow The Letter" schreiben.. Egal ob mit Patti oder Thom.. der Song is einfach niiice
Hab vor'n paar Jahren im Zillertal snowboarden gelernt.. und jeden Morgen hat der Typ im Cafe nebenan die Platte gespielt. Hat sich irgendwie eingebrannt.. ^^"
"Hab vor'n paar Jahren im Zillertal snowboarden gelernt.. "
Props.
"Hab vor'n paar Jahren im Zillertal snowboarden gelernt.. und jeden Morgen hat der Typ im Cafe nebenan die Platte gespielt. Hat sich irgendwie eingebrannt.. ^^"
Wer snowboarden nicht zu "Lords of the Boards" von Guano Apes in Dauerschleife gelernt hat, sollte nicht so leichtfertig und guten Gewissens behaupten überhaupt schon snowboarden gelernt zu haben!
Haha, glaub mir,.. der Song wurde von fast Jedem in Dauerschleife rauf und runter gehört xD O_ooooooopen Your Eyes. Najo, wie gesagt, der Cafe Besitzer in Mayerhofen hat draußen/drinnen pre-ski(?) Musik gespielt und nen relativ guten Musikgeschmack gehabt.. Hauptsächlich R.E.M, Depeche Mode, Radiohead,.. aaaaaber auch U2 und Coldplay -_-
Lords of the Boards wurde damals je eher belächelt, ma anmerken.
Wie könnten wir das jemals vergessen, @lauti, denn immerhin waren wir ja diejenigen die das belächelt haben, wenn Leute wie du damit angeschrubbt kamen und meinten dies sei der neue heiße Trend-Soundtrack für Boarder sämtlicher Witterungsverhältnisse.
Dachte wir beide haben die Friedenspfeife geraucht und sind peacig af zueinander!? Mir dann jetzt das Gegenteil meiner Aussage zu unterstellen ist schon... mäh! Sei lieb!
*superkusssmiley*
Bissl dran frotzeln hat noch die Glut jeder totgequatschten Friedenspfeife wiederbeleben können, sk8terboi.
Naaaa gut.
Naaaaaasiiic
Seit jeher der tragische personifizierte Inbegriff von "zu seinem eigenen Nachnamen aufleben".
monster und up sind aber auch nicht zu verachten...
up war damals lange zeit in meinem tragbaren cd-player...
Ich weiß nicht, warum „Out of Time“ und „Automatic“ immer so glorifiziert wurden. Meine Favoriten von R.E.M. sind auch „Monster“, „New Adventures“ und „Up“.
Der penetrant scheppernde Synthie-Beat auf „Leave“ ist allerdings unglaublich nervig.
Out of time war halt die Platte, bei der sie sich vom Collegerock und Alternative-sound der 80er verabschiedet und einen neuen Sound für sich etabliert bzw. diesen von nun an ab jedem Album absichtlich variiert haben. Und obwohl Out of Time mein Lieblingsalbum insgesamt ist, ist "Man on The Moon" mein Lieblingssong - ich glaube, Michael Stipe meinte das selbst auch mal (wobei er häufig einen komischen Blick auf sein eigenes Schaffen hat und manchmal absichtlich konträr wirkt).
„Man On The Moon“: große Klasse, genauso wie „Sidewinder“ und die ruhigen Stücke von „Automatic“ („Everybody Hurts“, „Nightswimming“). Also die Platten „Automatic For The People“ und auch „Green“ haben absolute Highlights. Mit „Out Of Time“ konnte ich nie etwas anfangen.
Aber Anfang der 90er habe ich auch eine ziemliche Anti-Haltung gegenüber R.E.M. entwickelt, weil das eine Band war, auf die sich alle einigen konnten.
Ich habe Mist geschrieben, weil ich noch schläfrig bin - New Adventures ist mein Liebling, Out of Time meine Nr. 2.
Ich weiß was du meinst und das ist in jedem von uns so ein bisschen drin - manchmal ist es aber halt tatsächlich kein Mitläufertum, sondern einfach so gut, dass man es nicht leugnen kann. Stipes Texte sind auch so vage, dass sich jede Person mit ihnen identifizieren kann aber auch so konkret, dass man sich in bestimmte Situationen versetzt fühlt, ein sehr guter Songwriter.
*Texter/Lyriker
Meine R.E.M. - Lieblingsphase ebenfalls: Automatic for the People, Monster, New Adventures in Hi-Fi. Kann da nicht sagen, welche Platte ich da am meisten liebe. 3mal ganz großes Kino.