2. August 2010

"Wer umkippt, dem fehlt was"

Interview geführt von

Die Silversun Pickups über japanische Eigenarten, Oktoberfest-Bräuche in den USA, das gefeierte Album "Swoon" und wie man Daft Punk verarscht.Am Nachmittag vor ihrem Kölner Auftritt im Finale bei Germany's Next Top Model nehmen sich Bassistin Nikki Monninger, Sänger Brain Aubert, Keyboarder Joe Lester und Schlagzuger Christopher Guanlao bei Kaffee und Kippen Zeit für laut.de.

Hi, wir treffen uns gerade in der Mitte einer riesigen Tour, oder?

Christopher: Wir kommen gerade wieder rein. Wir hatten sechs Wochen Pause und bereiten uns auf unsere Nordamerikatour vor. Das fängt nächste Woche in Orlando an, und vor unserer Pause haben wir für Muse eröffnet. Ansonsten haben wir nur ein paar Radioshows und Festivals gespielt am letzten Wochenende und sind jetzt gerade auf unserem kleinen Abstecher in Deutschland. Aber das war's auch schon.

Bis jetzt habt ihr euch als Vorband so ziemlich mit jeder größeren Band zusammengeschlossen, die man sich vorstellen kann – unter anderen Muse, Black Rebel Motorcycle Club, Nine Inch Nails, Kaiser Chiefs. Wie war das bislang, habt ihr mit den Showdinos gute Erfahrungen gemacht?

Brian: Oh ja, es war einwandfrei, besonders mit Muse und Placebo, mit denen wir zuletzt getourt haben. Die sind unheimlich großzügig und menschlich irre nett. Wir durften eigentlich immer die ganze Bühne und alle Aufbauten beanspruchen. Als wir bei unserer ersten Supportshow Placebo getroffen haben – in Bologna war das – haben sie sogar alle auf uns in unserer Umkleide gewartet, mit Getränken und Plakaten. Das war fast wie eine Überraschungsparty. Und Muse waren auch fantastisch, da gibts nur das Problem mit der Bühne: Die ist so komplex aufgebaut, dass wir nie so richtig wussten, wohin wir eigentlich treten dürfen, ohne was kaputt zu machen. Ich dachte nur: "Hoffentlich verbock ich's nicht schon bei der ersten Show", und habe die meiste Zeit angestrengt auf den Boden gestarrt, damit nichts explodiert oder so. Eine astreine Autismus-Performance!

Konntet ihr dann auch mit der Laser- und Lichtshow rumspielen?

Brian: Wir haben es versucht, beziehungsweise Nikki hat einen der Spiegel entführt und ihn auch erfolgreich kaputt gemacht.

Nikki: Ich hatte überhaupt keinen Plan, was ich da tat. Danach hab ich es lieber gelassen.

Brian: Dafür hat mich Matt (Bellamy, Muse-Sänger) jeden Morgen mit einem Laser im Gesicht geweckt. So romantisch.

Wisst ihr eigentlich, wo ihr heute auftreten müsst (beim Finale von GNTM, d. Red.)?

Brian: Ja, wir haben gestern geprobt und hatten ein kleines Deja-Vu, weil wir mit Placebo schon in der selben Halle aufgetreten sind. Und das Hotel hier kennen wir auch schon in- und auswendig, wir sind schon mehrere Male auf dem Rückweg von Hamburg hier gelandet. Hat auf jeden Fall Vorteile, sich hier auszukennen – das letzte Mal waren wir um Thanksgiving da, das ist natürlich eigentlich ein Riesen-Feiertag in den USA mit jede Menge Essen und Feierei. Um das zu simulieren, haben wir dann ein Weihnachtsmarkt-Hopping in Köln gemacht und uns so betrunken, dass wir kaum ins Taxi einsteigen konnten. Heimtückisches Zeug, dieser Glühwein – macht sich aber gut auf dem Teppich hier.

Na, auf jeden Fall bespielt ihr heute das Finale dieses Modelcastings im Fernsehen, das Publikum wird also zu 95 Prozent aus jungen Mädchen bestehen.

Brian: Das ist gut zu wissen, wir werden nämlich niemanden sehen können. Denn jetzt haben wir endlich unsere eigenen Laser! Der Typ in der Probe, der die Strahler für uns eingerichtet hat, meinte zu uns: "Okay, gleich gehts los. Eigentlich ist nur eins wichtig: Schaut um Gottes Willen keinesfalls nach hinten! Und ... am Besten auch nicht nach oben oder zur Seite!" Naja, du weißt ja was passiert, wenn jemand sowas sagt ... wir starrten brav nach vorne, und dann gab's dieses irre Geräusch hinter unserem Rücken, als ob das Futurama-Raumschiff startet – whoooooosh! Klar, wir haben uns alle sofort umgedreht. Und um es vorweg zu nehmen: Wir sind nicht blind geworden, aber es tat weh. Und der Blick vom Lasertechniker war der eines müden Zoowärters. Unbezahlbar.

Ich hab gelesen, dass ihr mal auf einem Oktoberfest in den USA gespielt habt. Wie kann man sich das vorstellen?

Brian: Da ihr hier drüben zwei ganze Wochen einplant, um euer Bier zu feiern, muss man das natürlich zumindest ansatzweise übernehmen! Also, in der Gegend um Seattle – in Fremont, genauer gesagt – gibt es hunderte kleiner privater Brauereien, sogenannte Microbrews. Die haben dann einen Park gemietet und überall ihre Zelte aufgestellt, und drumherum stehen Riesenräder und Buden.

Nikki: Die Fremonter nehmen Bier unglaublich ernst. Stell dir das eher vor wie eine Konferenz von Sommeliers, auf die auch ordinäres Publikum zugelassen ist. Klar bist du am Ende angetüddelt, aber du kriegst von jedem Zelt nur Verkostungsproben. Es gibt natürlich auch Wettbewerbe. Jede Brauerei hat klitzekleine Becherchen mit Bier und dazu bekommt man einen langen Vortrag und ne Broschüre über die Brautechnik gratis.

Und zwischendrin gibts dann Blasmusik mit amerikanischen Texten?

Christopher: Ganz so weit geht der Kulturexport dann doch nicht. Da hat das Fest eher etwas von einem Festival, es gibt Bühnen und ganz normale Bands.

Ihr habt enorm viel Erfahrungen als Liveband im Großraum LA gesammelt, bevor ihr ein Album aufgenommen habt ...

Joe: Ja, das hat uns geholfen, unsere Identität zu definieren. Selbst wenn uns irgendeine abgelegene Kaschemme angeboten hat, an ihrer Ladies Night zwischen sechs und sieben Uhr abends zu spielen, haben wir niemals einen Auftritt abgelehnt. Und ständig ging etwas schief, das war so ideal wie egal. Wenn heute irgendwas auf der Bühne passiert, sind wir viel entspannter.

Brian: Im Umkehrschluss merken wir anderen Bands fehlende Bühnenerfahrung sofort an. Was sie alle gemein haben und was meiner Meinung nach auch leicht zu beobachten ist, ist eine gewisse Steifheit, insbesondere, wenn Fehler passieren. Du merkst auch oft, wenn sich die Mitglieder nicht richtig abgesprochen haben und sich quer über die Bühne tödliche Blicke zuwerfen, weil der Monitor nicht zu hören ist oder jemand seinen Einsatz verpasst.

Und bei euch?

Brian: Der Vorteil war, dass wir uns alle schon lange als Freunde kannten, wir haben uns sogar mal ein Haus geteilt und jahrelang zusammengelebt. Da sind natürlich die Berührungsängste viel geringer. Und wir alle waren vorher in anderen Bands, also haben wir nie romantisiert oder falsche Vorstellungen vom Bandleben gehabt. Ich hatte allerdings früher auch Schwierigkeiten mit meiner Schüchternheit – hab mich nie ans Mikro getraut, was natürlich ein kleines Problem für einen Sänger darstellt.

Wie kamt ihr denn dann zu euer ersten Platte?

Nikki: Die Idee hatten noch nicht mal wir. Irgendjemand gab mir nach einem Konzert mal eine selbstgebrannte CD und sagte: "Schau mal, das seid ihr!" Es war ein Bootleg unserer Show, das so unfassbar grausig klang, dass wir entschieden, in Zukunft lieber selbst unsere Musik aufzunehmen.

Also seid ihr ein natürlich gewachsenes Produkt eurer Umgebung? Erzählt doch mal was über die Silver Lake-Szene, der ihr, Elliott Smith und Rilo Kiley entstammt.

Brian: Zunächst mal ist LA ja groß, verzettelt und unübersichtlich. In jedem Viertel gibt es daher Szenen, von denen wir noch nicht mal wissen. Die Silver Lake-Musikszene hatte allerdings etwas leicht kommunardisch-kameradschaftliches. Silver Lake ist eine Ecke von LA, die kurz vor der Gentrifizierung stand, als wir dort aktiv waren: viele Künstler, viele Bars, viele junge Leute mit sehr wenig Geld.
Es gab Liveclubs dort, in denen du jede einzelne Person im Publikum kanntest, weil du sie am Tag davor selbst auf der Bühne gesehen hast. Du gingst abends weg, um völlig stressfrei in Clubs herumzulungern und zum x-ten Mal deine Freunde von nebenan spielen zu sehen. Ständig ergaben sich Auftrittsmöglichkeiten, weil deine Bekannten sich drum gekümmert haben und umgekehrt ständig Konzerte, weil du sie vermittelt hast. Bei unseren ersten Auftritten standen daher Leute, die sowieso zum Rumhängen da gewesen wären, man musste sich nicht verkaufen und auch keine Angst haben, ins Leere zu spielen. Man könnte sagen, es war der perfekte Sandkasten.

Und wann wurde euch bewusst, dass ihr tatsächlich davon leben könntet?

Brian: Den Punkt haben wir auch erstmal verpasst, bis uns andere darauf angesprochen haben. Wie schon erwähnt, haben wir auch aus Spaß überall gespielt. Es scheint dann, als ob man wirklich was tun würde statt nur rumzugammeln. Hätte uns jemand gesagt, wir brauchen eine Band in dieser Salatbar, wären wir auch aufgetaucht.

Nikki: Ich glaube, wir haben schon mal in einer Salatbar gespielt.

Brian: Oh Mann, du hast Recht – Testo's Pizza Party! Das war dieser absurde Laden außerhalb von Fresno. Manchmal denkt man ja, dass Clubs ironisch betitelt sind – The Pizza Place, zwinker zwinker. Aber es WAR eine Pizzabude und die Bühne bestand aus Klebebandstreifen vor der Salatbar. Zwischen den Songs konnte man sich ein paar Croutons schnappen und bezahlt wurde in Pizzen.

"Du fühlst dich mies? Hol dir ein Orchester!"

Wart ihr schon mal außerhalb von Europa und USA mit der Band?

Christopher: Ja, in Australien, Kanada und Japan.

Wie war Japan?

Joe: Einfach nur verrückt.

Brian: Sehr effizient. Sehr ordentlich. Alle sind unglaublich pünktlich.
Wir sollten auf einem Festival spielen und bekamen den Arschkarten-Slot um elf Uhr morgens, zu dem erfahrungsgemäß kein Mensch aufsteht. Nicht in Japan: Elf Uhr, die Türen gingen auf und jeder einzelne Ticketbesitzer war drin. Restlos voll. Das Vorurteil, dass japanische Fans nur ein bisschen klatschen und sich ansonsten nicht regen, stimmt auch nicht, die haben mitgesungen, getanzt... und nach der Show nicht ein einziges Stück Müll hinterlassen, der Boden auf dem gesamten Festival sah aus wie in einem Ballsaal! Das lässt einen schon misstrauisch werden - vor allem, weil wir auch keine Mülleimer gefunden haben. Die müssen ihre Abfälle in den Händen verdampfen oder so.

Nikki: Später haben wir Leute mit Handtaschen-Aschenbechern gesehen, die ihre Zigarettenstummel so lange herumtragen, bis sie Stunden später zufällig mal an einer Mülltonne vorbeikommen. Das muss ein Effekt des Gruppenzwangs sein - wer wagt, als einziger ein Papierchen wegzuwerfen, ist unten durch.

Das war schon beeindruckend, andererseits nimmt es auch viel von der losgelösten Festivalatmosphäre weg. Wie blöd ist das denn, wenn man ständig nur kollektiv putzt? Ich meine, klar haben die getrunken und Quatsch gemacht – aber danach haben sie eben sofort alles wieder aufgeräumt. Faszinierend.

Christopher: Wir haben unsere Übersetzerin Shadow getauft...

Weil sie euch permanent im Nacken hing?

Joe: Ja, aber das haben wir auch gebraucht. Wir sind immer mit ihr Essen gegangen und konnten dank ihr diese fantastischen Was-auch-immers der japanischen Küche probieren. Vieles kann man ja erst identifizieren, wenn man es im Mund hat, vorher sieht das Meiste aus wie avantgardistische Geleewürfel in verschiedenen Farben. Es war alles so lecker – die Essensqualität ist überall irre hoch, niemand würde - wie wir - auf die Idee kommen, sich überwürztes Fast Food reinzufahren.

Nächstes Klischee, habt ihr abgefahrene Automaten gesehen?

Christopher: Aber hallo: Eierautomaten. Reissackautomaten. Regenschirmautomaten. Es gibt alles - Spielzeug, Blumen, Klopapier, Angelköder.

Brian: Ich fand den Rhinozeros-Käferautomaten gut, da können Kinder sich ein neues Haustier holen, falls es nicht auf dem Weg zum Ausgabeschlitz stirbt. Beeindruckend war auch der Alkoholautomat, an dem sich jeder Grundschüler für ein paar Yen Schnaps ziehen kann. Und ja, es gibt auch diese Automaten, an denen man benutzte Unterhosen bekommt. Aber das hab ich mir ekliger vorgestellt, ist eher ein Scherzartikel für Bürokollegen als ein gängiges Perversen-Utensil.

Nikki: Während der Rush Hour gibt es ein paar Züge nur für Frauen, weil in überfüllten Abteilen in Japan so viel gegrabscht wird. Nicht die Chikans – so heißen die Grabscher – werden also ausgelagert, sondern die Opfer. Keine tolle Lösung: Wer weiblich ist und trotzdem in den gemischten Zügen mitfährt, weil er nicht in die getrennten Abteile reinkam oder sich beeilen musste, ist dann leichte Beute. Die Chikans nehmen an, dass die weiblichen Fahrgäste Bock drauf haben, sonst würden sie sich ja in ihren Extrazug zurückziehen. Und es gibt Puffs für Grabscher, die aussehen wie Zugabteile, mit Prostituierten, die die unbedarfte Pendlerin spielen!

Im Januar wurdet ihr bei den Grammys als "Best New Artist" nominiert, was sehr seltsam ist – schließlich macht ihr schon seit fünf Jahren Platten und spielt noch länger zusammen.

Joe: Ja, wir kapieren es auch nicht, echt. Wir haben selbst an einen Fehler geglaubt, als wir davon gehört haben. Macht irgendwie alles keinen Sinn, aber sich zu beschweren, wäre auch blöd gekommen.

Sind diese Galas wirklich so langweilig, wie man immer denkt oder ist es was anderes, wenn man nominiert ist und selber da sitzt?

Joe: Nein. Es ist wirklich so zäh, wie es aussieht. Es war vor allem sehr, sehr lang. Das war das erste Mal, dass ich Werbepausen vermisst habe. Wir sind gegen MGMT, die Ting Tings, Keri Hilson und die Zac Brown Band angetreten, die letztendlich auch gewonnen hat.

Habt ihr euch vorher angerufen und die Anzüge aufeinander abgestimmt?

Christopher: Das nicht, wir haben kostenlose Anzüge bekommen. Damit geht man dann auf den roten Teppich, dreht sich ein bisschen und fängt an, mit jedem zu reden, der vor einem steht. Gute vier Fünftel der kreischenden Leute und Fotografen haben keinen Schimmer, wer wir sind, aber fotografieren und brüllen trotzdem mal auf Verdacht – man kann ja nie wissen. War schon eine sehr surreale Situation, aber lustig.

Brian: Und die Aftershowparties waren gut. Kings of Leon hatten ein Wahnsinnsparty, und ich habe eine halbe Stunde mit Daft Punk geredet.

Hatten die ihre Helme auf?

Brian: Nee, natürlich nicht!

Woher konntest du dann wissen, dass sie es sind?

Brian: So'n Typ meinte: "Die beiden mit dem Akzent, das sind Daft Punk", und da standen dann zwei leicht nerdige, nette Franzosen, die das bestätigt haben. Vielleicht haben sie auch gelogen. Viel konnten sie eh nicht sagen, ich habe die beiden endlos lang über den Tron-Soundtrack vollgequatscht. Sie wiederum waren überzeugt, ich sei Caleb von Kings of Leon; ich hab sie natürlich in dem Glauben gelassen und das so lange wie möglich ausgekostet. Dann kam irgendeine Frage über die Band, die ich nicht beantworten konnte und ich musste ein billiges Ablenkmanöver fahren und schnell abhauen. Es war nicht besonders elegant, sowas wie: "Huch, was ist denn das da drüben? Ich muss weg!"
Caleb haben wir dann vage gewarnt und ihm vorgeschlagen, lieber nicht zu den beiden Franzosen da rüberzugehen.

Dass du ihm ähnlich siehst, hörst du bestimmt öfter ...

Brian: Ja, er hat auch schon mal angeboten, Bands zu tauschen. (Zu den anderen:) Und vielleicht komm ich drauf zurück, ihr Pappnasen!

Reden wir doch mal über "Swoon". Darauf habt ihr bestimmt keinen Bock, weil die Platte ja eigentlich schon ne Weile draußen ist, hier bei uns aber erst kürzlich erschienen ist.

Joe: Nö, es macht eigentlich mehr Spaß, mit Abstand darüber zu reden. Wir brauchen selbst erst ein bisschen Zeit, um artikulieren zu können, was hinter einem Album steckt.

Um so besser. "Swoon" klingt sehr dicht und atmosphärisch, und mir ist aufgefallen, dass du, Brian, die Gitarre oft als Mittel zur Textur benutzt.

Brian: Das stimmt, wir spielen damit schon länger. Ich mag Gitarren gerne laut und prominent, aber nicht schrill und nervig - und um einem Song einen gewissen Boden oder eine Struktur zu geben, können Gitarren quasi als Geräuschdecke dienen. Auf unserem ersten Album haben wir zum ersten Mal Gitarren und Keyboards gleichberechtigt benutzt. Bei "Swoon" haben wir das auf die Spitze getrieben und versucht, die Instrumente jeweils so klingen zu lassen, dass man sie nicht mehr exakt erkennen kann. Es geht eher um das Geräusch, nicht so sehr um die Instrumente.

Nikki: Wir mögen es alle nicht besonders, die Aufmerksamkeit auf irgendwas Bestimmtes zu lenken, so von wegen: 'Hört ihr auch alle dieses kranke Keyboard?!'. Wir mögen, wenn ein Song ein Song bleibt, eine Einheit. Daher ist es eigentlich nicht wichtig, wer was spielt. Beim Einspielen und Proben haben wir uns damit auch manchmal selbst herausgefordert, weil wir wirklich vergessen hatten, wer gestern was gespielt hat. Manche Gitarren klangen so bizarr, dass sie eigentlich nur von Joe sein konnten, den wir als Effektmonster am Keyboard stehen haben.

Auf manchen Songs hattet ihr ja auch ein Orchester dabei ...

Brian: Oh ja. Das waren die richtig guten Tage. Du fühlst dich mies? Hol dir ein 16-köpfiges Orchester ins Wohnzimmer und lass sie deine mickrigen Liedchen spielen. Ich sag dir, du fühlst dich, als ob du gerade einen Krieg gewonnen hättest.

"Wir sagten 'Swoon' statt 'Fuck' und 'Sorry'"

Der Klang ist sehr vielschichtig. Wie seid ihr die einzelnen Songs angegangen?

Brian: Sound ist wirklich wichtig. Viele unserer Lieder sind aus einem Bild entstanden, das zuerst im Kopf definiert werden muss. Dann muss daraus ein Klangbild werden. Wir reden lange drüber, welchen Sound wir erzielen wollen und warum, dann setzen wir uns zusammen und versuchen, den mit Instrumenten umzusetzen.

Und wie und wann kommen dann die Texte dazu?

Brian: Das ist sehr unterschiedlich, manchmal sogar erst ganz zum Schluss. Meistens legen wir spätestens mit dem Basis-Sound auch schon in gewisser Weise fest, worüber das Stück geht. Bevor ich Texte schreibe, weiß ich natürlich, mit welchem Gefühl oder Thema sich der Song auseinandersetzt. Das heißt also, dass nicht unbedingt die Worte gleich zu Beginn da sind, aber eine lose formulierte Überschrift gibt es ganz bestimmt. Ich würde mir ziemlich komisch bei der Entwicklung einer Struktur vorkommen, wenn ich nicht wüsste, wohin das Ganze führen soll. Einfach so Musik machen und sich dann einen beliebigen Text dazu ausdenken - das können wir nicht so gut. Würde sich sich zu losgelöst anfühlen.

Wenn man das Wort 'Swoon' hört, ohne genau zu wissen, was es bedeutet, hat es für mich zumindest einen eleganten und leicht melancholischen Anklang. Dann guckt man es nach und sieht, dass es schwinden oder Ohnmacht bedeutet – trotzdem passt sowohl das erste Gefühl als auch die Definition auf den Grundtenor eures Albums. Wie kamt ihr auf den Titel?

Nikki: Ja, das Wort war tatsächlich als Stimmungsbild gedacht. Es stand ganz am Anfang. Als wir für das Album zum ersten Mal im Proberaum waren, hat Brain SWOON auf eine Tafel geschrieben, die wir dort stehen hatten: "Ich weiß nicht, warum ich ständig über dieses Wort stolpere, aber es geht mir nicht mehr aus dem Kopf". Dann fingen wir an, damit über Wochen herumzuspielen und unser Umfeld damit zu nerven. Es wurde zum Selbstläufer: Fragte jemand etwas, antworteten wir "Hmm... Swoon?" Wir sagten Swoon anstelle von "Fuck", "Sorry" und "Hallo", benutzten es als Zustimmung und als Ablehnung. Das Wort war seitdem während des ganzen Albumprozesses präsent.

Christopher: Das ist es heute noch, weil Brian den falschen Edding auf der Tafel benutzt hat.

Brian: Es gibt auch noch einen ganz einfachen Grund: Ich liebe Ein-Wort-Titel für Alben. Für mich hörte es sich zunächst an wie ein Tanz aus vergangener Zeit, den es niemals gab: "Und sie tanzten einen Swoon". Das klingt für mich sehr romantisch und gleichzeitig traurig. Als wir es nachgeschlagen haben, waren wir von der harschen Erläuterung total überrascht, denn gerade junge Mädchen benutzen "swoon" oft in einem niedlichen Zusammenhang: Der Twilight-Typ läuft vorbei, oh swooooon! Aber wenn man die Definition liest, klingt das ganz anders: "Abrupter Verlust des Bewusstseins, Zusammenbruch aufgrund von Unterversorgung des Hirns mit Blut". Klingt doch unangenehm, oder? Ich find's schrecklich. Wer umkippt, dem fehlt etwas sehr Wichtiges. Wir haben das dann weiter gesponnen und uns alle möglichen düsteren Situationen vorgestellt: 'Was passiert wohl, wenn du auf der Straße zusammenklappst und mit dem Kopf auf dem Bürgersteig aufschlägst?'

Du hast schon in anderen Interviews gesagt, dass die Songs 'wie ein Zusammenbruch' klingen sollten, aber es hört sich an, als würden sie sich auch thematisch darum drehen - oder ist das ganz falsch?

Brian: Das stimmt. Wir haben die ersten vier Songs in genau der Reihenfolge geschrieben und fertiggestellt, in der sie auch auf dem Album zu finden sind. Es hatte von Anfang an einen kohäsiven Charakter, sehr wenig wurde verändert. Rückblickend war es überraschend für uns, wie nah wir an der Entwicklung des Albums entlanggelebt haben. Eine niedergeschlagene Grundstimmung beispielsweise spiegelte sich in dunklen Sounds. Es ist ein geradezu therapeutisches Album geworden, ganz besonders für mich.

Habt ihr denn eine schwere Zeit durchlebt?

Brian: Ach, naja (seufzt). Wir hatten alle persönliche Konflikte mit uns nahestehenden Menschen – just life stuff. Noch dazu kam, dass wir von einer sehr langen, erschöpfenden Tour zurückkamen und zuhause nicht so aufgefangen wurden, wie wir es uns gewünscht hatten. Die Gründe lagen natürlich auch in uns, aber es war alles ein bisschen viel auf einmal.

Hat die Therapie denn angeschlagen?

Nikki: Ja, und auf den letzten Stücken kann man es sogar hören. Es ist schon interessant, wie uns die Zeit und die Arbeit verändert hat - "Substitution" zum Beispiel haben wir sehr spät geschrieben; es hat daher einen sehr optimistischen, netten Anschlag.

Brian: Während der letzten Tour hab ich in Bezug auf das Album gedacht: 'Wäre doch schön, wenn ich mal ein paar emotionalere Songs schreiben könnte', und dann passiert lauter Zeug, das einen total runterzieht. Plötzlich geben deine Gefühle den Ton für alles andere an - und du kannst gar nicht mehr anders, als Songs über das Kollabieren zu schreiben. Im Nachhinein bin ich froh, dass ich wenigstens etwas aus diesen Erfahrungen und Emotionen machen konnte, statt sie nur zu verdrängen. Ich hätte sonst nicht gewusst, wohin mit dem ganzen Ärger. So hat vielleicht jemand mal was davon, das würde mich freuen.

Wie schafft ihr es eigentlich, die Band oder das Orchester auf eine gemeinsame Stimmung einzustellen? Redet ihr über Songs anderer Bands oder benutzt ihr Referenzen, die außerhalb der Musik liegen?

Joe: Ich hab oft an weißes Licht gedacht und habe mir vorgestellt, dass das einen ganz bestimmten Sound hat. Wir haben uns vor den Proben hingesetzt, die Augen geschlossen und Brian hat verschiedene Assoziationen aufgezählt, damit wir in die selbe Stimmung kommen. Vieles davon hatte mit Lichtspiel zu tun.

Brian: Ein Freund im Studio hat uns beim Arrangieren der Streicher geholfen. Er hatte die Aufgabe, aus unseren Melodien und Instrument-Schichten einen Soundtrack zu machen und ging diese Umsetzung zusammen mit uns an wie eine Filmmusik. Mit fantastischen Ergebnissen – tatsächlich haben wir eigentlich nur über Filmreferenzen geredet, über Szenen, Genres, Wendungen in einer Geschichte, Farbschemen...

Da ihr "Swoon" jetzt schon eine Weile mit euch herumtragt, spielt ihr live mit den Songs herum? Passt ihr sie so an, dass sie euch vielleicht besser gefallen als die Studioaufnahme?

Nikki: Ja, aber das heißt nicht, dass wir ihrer schon müde sind. Im Gegenteil, wir loten immer noch ihr Potential aus. Vor einiger Zeit haben wir ein Unplugged-Set gespielt, das hat überraschend gut geklappt und echt viel Spaß gemacht. Könnte mir gut vorstellen, das öfter zu tun.

Brian: Leider können wir ja nicht einfach das Orchester überall mit hinnehmen, daher passt man die Songs zwangsläufig der Bühne an. Kleine Details der Aufnahme gehen völlig unter und lassen sich auch nicht ohne großen Aufwand reproduzieren. Der Anfang ist immer schwer, wenn wir noch im Studio-Modus sind und subtilen Ergänzungen viel Aufmerksamkeit schenken. Dann merkt man aber, dass sich diese Kleinigkeiten falsch anfühlen, wenn man sie in eine Live-Atmosphäre umsetzen will, und ändert andere Dinge: zum Beispiel passen wir die Geschwindigkeit an, damit Songs schwerer, schroffer oder intensiver klingen, oder wir benutzen Pedale. Wenn man das mal ausgetüftelt hat, fühlen sich die Stücke tatsächlich repräsentativer an als bei der reinen Studioaufnahme. Das liegt daran, dass man sich bei Live-Proben Gedanken darüber machen muss, auf welche Elemente es bei einem Song wirklich ankommt – und die müssen sitzen. Man muss Wege finden, damit sich bestimmte Momente gleich anfühlen, aber mit unterschiedlichen Mitteln erzeugt werden.

Es gibt ja wohl auch kaum Langweiligeres als Bands, die sich live anhören wie auf der Platte.

Brian: Ja genau, ich verstehe auch nicht ganz, wieso man Perfektion derart streberhaft verfolgt, vielleicht ist es ja nur Unsicherheit? Meist klingen diese Bands einfach so glatt, weil hinten auf der Bühne noch ein iPod mit einer Extraspur rumsteht. Das kam für uns aber nie in Frage – klar, es gibt ein paar Streicher, die Joe auf seinem Keyboard umsetzen kann. Aber wenn wir kein Orchester auf der Bühne haben, dann sollte man auch keins hören. So eine Band wollen wir nicht sein.

Christopher: Naja, vielleicht werden wir ja später mal so eine Band. Zum Beispiel - heute Abend, haha! Hoffentlich sagt uns später jemand, wie geil wir geklungen haben!

Kennt ihr die Szene aus dieser italienischen Fernsehshow, in der die strohdumme Gastgeberin Muse vorstellen soll?

Brian: Nein, aber ich will's bitte, bitte hören!

Muse sollen in einer Fussballsendung mit einer überdrehten Moderatorin im Vollplayback auftreten. Da offensichtlich kein Mitarbeiter der Show Ahnung von der Band hat, tauschen sie dafür alle Positionen: Matthew Bellamy haut ungelenk auf dem Schlagzeug rum, der Drummer "singt" bocklos am Mikro vorbei und spielt dabei Bass, der Keyboarder Gitarre. Alle schauspielern unglaublich schlecht – vielleicht mit Absicht, aber die Moderatorin kapiert überhaupt nichts. Nach "Uprising" interviewt sie dann den Drummer, den sie für Matthew hält. Sie stellt ihm unbeirrt Fragen über seinen italienischen Wohnsitz, und er antwortet immer höflich: "Oh nein, das ist Matt – unser Drummer".

Brian: Das ist ja fantastisch. Wär ich da gern dabei gewesen! Ach ja, so sind sie eben. Manche Leute denken immer, Muse sind diese Bombastband, die mindestens aus einem Raumschiff herabschweben, wenn man sie trifft. Dabei sind das so lustige Leute. Geil. Das bringt mich auf Ideen.

Habt ihr Träume für die Band?

Brian: In letzter Zeit sind wir damit etwas spät dran gewesen. Ein Traum war, mal irgendwo im Fernsehen aufzutreten. Mittlerweile waren wir schon bei David Letterman und Conan O'Brien in der Show. Ich weiß auch noch, wie wir in der Küche zusammensaßen und uns ausmalten: "Mann, wär das nicht cool, wenn wir mal nach Europa fliegen könnten?!" Und jetzt sitzen wir hier zum vierten Mal und duzen die Rezeptionistin.

Nikki: Touren ist ein Traum. Unterwegs sein, das Erfühlen von verschiedenen Stimmungen an den diversen Orten, die Klassenfahrt-Atmosphäre – da fühlen wir uns wohl und geborgen.

Ist es denn im Umkehrschluss schön oder deprimierend, nach einer Tour wieder zu Hause zu sitzen?

Christopher: Manchmal ist es eher deprimierend. Zunächst weiß man nicht, wohin mit sich, dann passt man sich an und fühlt sich wie ein Faultier. Man merkt es daran, wie viel Aufregung kleine Ereignisse auslösen - wenn es dich begeistert, einen Taco zu kaufen oder Pläne für den Nachmittag zu machen: "Freunde, mein Kuli ist leer!" - "Wow! Alles klar! Ruf alle an, wir holen einen neuen Stift! Let's go!"

Aber dieser Pipikram ist vermutlich notwendig, um die Ideen wieder fließen zu lassen und etwas neues anzufangen – oder kannst du auf einer Tournee schreiben?

Brian: Kleine Ideen, kleine Krümel, aber keine Songs. Man braucht Zeit, um seinen eigenen Gedanken zuzuhören, aber auf Tour dröhnt alles. Ich weiß inzwischen, wie wichtig das Heimat-Umfeld ist. Wir mussten erst lernen, dass man trotz aller Tour-Verrücktheit nicht aufhören darf, ein halbes Auge auf zu Hause zu werfen und immer mal wieder nachzuhören, wie die Dinge dort stehen. Es ist wichtig, um nicht den Boden unter den Füßen zu verlieren - sonst bewegt man sich schnell in einem Kosmos aus Insiderwitzen und Erlebnissen, die niemand außer der Band teilen kann. Wie heißt es: "The Road is no place to start a family".

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