laut.de-Kritik

Ein Anwärter auf das Pop-Album des Jahres.

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Du hast das verdammte Recht darauf, wütend zu sein! "I ran into this girl, she said why you always blaming?/ Why you can't just face it?/ Why you always gotta be mad?/ I got a lot to be mad about ..." Solange Knowles ist eine wütende junge Frau. Diese Wut schluckt sie nicht mehr runter und steckt sie nicht mehr zurück. Jetzt bleibt nur noch die Flucht nach vorne. Ihr Song "Mad" präsentiert sich als komprimierter künstlerischer Gefühlsausbruch. Für diesen Rundumschlag braucht es aber keine Gewalt, keine panischen Schreie, keinen gegen die Wand klatschenden Kopf. Im Gegenteil: Der Song entspinnt sich als eine formvollendete, durchdringend schöne Komposition, als musikalische Antithese, die Solanges Rolle in einer Gesellschaft, die es ihr verbietet wütend zu sein, glasklar skizziert. Zunächst rotiert da nur ein schäbig kratzender Beat, der schon bald von einem hypnotischen Piano umschlungen wird, ehe Solanges makellose Stimme die wirklich ideal getimten Arrangements erweitert. Dazu rappt ein merkwürdig auf den Punkt bringender Lil Wayne: "And when I attempted suicide, I didn't die/ I remember how mad I was on that day/ Man, you gotta let it go before it get up in the way/ Let it go, let it go..." Willkommen am Tisch, bitte nehmen sie Platz!

Als 'kleine Schwester', das ist keine besonders aufwühlende Erkenntnis, hat man es nicht einfach. Die Fußstapfen der Älteren sind groß, ein Ausweichen unmöglich. Irgendwie wird alles, was du machst oder eben auch nicht machst, als aktive Reaktion gewertet, als Reflex auf das Tun und Schaffen des familiären Konterpart. Was aber, wenn deine große Schwester der vielleicht größte Popstar der Gegenwart ist? Was aber, wenn besagt große Schwester in genau diesem Jahr ihr wohl bestes Werk veröffentlicht hat? Wie reagierst du? Mach es einfach wie Solange Knowles und spring ein für alle Mal aus dem scheinbar undurchdringlich gezeichneten Schatten. Geh einen Schritt weiter. Attacke! "A Seat A The Table" erweitert das von weiblichen Popstars geprägte Popjahr 2016 um einen weiteres Glanzstück.

Selbstverständlich wird dieses Album mit Blick auf "Lemonade" gedeutet. Das ist richtig und wichtig. Die beiden Platten haben viel mehr gemeinsam, als nur den geschwisterlichen Background, sondern teilen sich auch den selben diskursiven Dunstkreis. Beide LPs sind selbstbewusste und komplex verflochtene Manifeste für die Rechte und das Bewusstsein der schwarzen Frau. In einer Zeit, in der Amerika angesichts anhaltender Polizeigewalt und offenkundigen Rassismus am Scheideweg steht, erheben die beiden Knowles-Schwestern ihre tönenden Stimmen und verpacken den offenkundigen Protest in vertrackte Kontemplationen und Denkprozesse. Doch während Beyoncé den Blick von außen nach innen und dort ins explizit Private richtete, geht Solange den umgekehrten Weg. Sie startet ihre politischen und popkulturelle Reflexionen in ihrer Kindheit, lässt ihre Eltern zu Wort kommen und nutzt die mikrokosmischen Beobachtungen, um sich den Makrokosmos, das große Ganze zu erschließen. Die zarten Verzahnungen zwischen den Werken der beiden Schwestern erscheinen absolut faszinierend und einzigartig und trotzdem schleift Solange ein in sich geschlossenes und für sich allein stehendes Konzeptwerk aus dem vorliegenden Rohmaterial.

Rein musikalisch bewegt sich Solange auf einem überbordenden Fundament, das sich durch die Geschichte der Black Music wühlt. Zunächst stehen da Spoken-Word-Sequenzen, erweitert zu fleischigem Blues, ergänzt Jazz-Abfolgen, katalogisiert in hypermodernen R'n'B-Verdichtungen. Das Album ist eine einzigartige Energiequelle, die eine grandiose und ausfüllende Wärme ausstrahlt, wie man sie schon lange Zeit nicht mehr zu spüren bekam. Dieser alles umgarnende, fehlerfrei gesponnene rote Faden führt dazu, dass wir "A Seat A The Table" in erster Linie als von verschiedenen Interludes zusammengehaftetes Kunstwerk und beinahe eassayistisches Produkt verstehen müssen, das unbedingt am Stück konsumiert werden sollte.

Trotzdem müssen wir zumindest einige Songs und vor allem die durchweg fesselnden Lyrics ins direkte Rampenlicht zerren: "Don't touch my hair/ When it's the feelings I wear/ Don't touch my soul/ When it's the rhythm I know/ Don't touch my crown/They say the vision I've found...", heißt es in "Don't Touch My Hair", dem wohl zärtlichsten und zugleich passiv aggressivsten Stück der Platte. Solange zeigt aktiv Grenzen auf, zeichnet ein vielfarbig schillerndes Bild des weiblichen Körpers, den sie auf einem zurückhaltenden Beat in den Kampf führt. "But you know that a king is only a man/ With flesh and bones, he bleeds just like you do/ He said, 'Where does that leave you?'/ And, 'Do you belong?`/ I do, I do...", heißt es in "Weary" dem merkwürdigsten Stück der Scheibe, das wie ein Mond um die Themenfelder Trauer und Erschöpfung kreist. Verschiedene Samples materialisieren sich kurzeitig, zerfallen umgehend und ergeben eine Klangcollage, die im direkten Anschluss im fast euphorischen "Cranes In The Sky" konterkariert wird. "All my niggas in the whole wide world/ Made this song to make it all y'all's turn/ For us, this shit is for us!", heißt es in "F.U.B.U.", der intensivsten und direktesten Hymne des Werks, die in Kombination mit dem Q-Tip Feature "Borderline (An Ode To Self Care)" sicherlich die stärkste Phase des Albums bildet. Hier gibt es nur noch eine Richtung, aus dem Schatten ins alles durchdringende Licht. Ein Protestsong, der zusammenschweißt und auflodern soll und musikalisch doch so vielgliedrig vor sich hin brodelt, dass er auch als bloße Musik genossen werden darf.

Eigentlich unfassbar: Summa Sumarum ist Solanges drittes Album noch ein Stückchen besser als der ebenfalls brachiale Opus "Lemonade" und damit zweifelsohne ein glühendheißer Anwärter auf das Popalbum des Jahres. "A Seat A The Table" könnte zum Meilenstein reifen, weil es auf lautstarke Ankündigungen verzichtet und Taten sprechen lässt. Weil es nicht davor zurückschreckt, auch mal altbacken zu wirken, nur um im nächsten Song futuristisches Potenzial zu offenbaren. Weil wir selbst in den kleinsten Gesten große Bedeutungen erkennen und dadurch auch über gewisse Längen und Gleichförmigkeiten hinweg sehen können. Weil es so rund und glatt und doch so diffus und fast grotesk anmutet, dass es dich als Hörer gleichermaßen aufreibt und besänftigt. Weil es R'N'B neu definiert, auf Null zurücksetzt und zersetzt und politisch auflädt ohne auch nur einmal mit dem Zeigefinger zu wedeln.

Trackliste

  1. 1. Rise
  2. 2. Weary
  3. 3. Interlude: The Glory Is In You
  4. 4. Cranes In The Sky
  5. 5. Interlude: Daddy Was Mad
  6. 6. Mad
  7. 7. Don´t You Wait
  8. 8. Interlude: Tina Taught Me
  9. 9. Don´t Touch My Hair
  10. 10. This Moment
  11. 11. Where Do We Go
  12. 12. Interlude: For Us By Us
  13. 13. F.U.B.U.
  14. 14. Borderline (Ode To Self Care)
  15. 15. Interlude: I Got So Much Magic, You Can Have It
  16. 16. Junie
  17. 17. No Limits
  18. 18. Don´t Wish Me Well
  19. 19. Interlude: Pedestals
  20. 20. Scales
  21. 21. Closing: The Chosen Ones

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