27. Januar 2021

"Rock-Hörer halten elektronische Musik für emotionslos"

Interview geführt von

Steven Wilson hat Erfahrung damit, einige alte Fans zu vergraulen und sich im Gegenzug immer neue Anhänger zu generieren.

Damit ist er bis dato gut gefahren, und das wird auch mit dem Release von "The Future Bites" nicht anders sein. Coronabedingt treffen wir uns im virtuellen Zoom-Raum und fühlen dem ehemaligen Wunderwuzzi des Progrock wieder einmal auf den Zahn.

Steven Wilson: Sorry, dass ich zu spät bin, ich bin ein paar Mal rausgeflogen und hatte auch sonst Probleme mit meinem Internet.

Och, ich habe gar nicht erwartet, dass du pünktlich bist. Ich weiß ja, dass du gerne erzählst.

Gut zu wissen. Mein Ruf eilt mir voraus.

Dein neues Album sollte erst im Juni 2020 erscheinen, dann im September, und jetzt kommts im Januar 2021 raus. Hast du in der Zwischenzeit etwas daran geändert?

Das war schon sehr interessant. Zum ersten Mal befand ich mich in einer Situation, in der ich über das Material reflektieren konnte, nachdem ich es fertiggestellt hatte. Jedes andere Album, das ich - vor allem in den letzten zehn Jahren - gemacht habe, lief so, dass ich die Arbeiten abgeschlossen habe, es der Plattenfirma geliefert habe, und dann kam es raus. Es lief wie in einer Maschine, man hat absolut keine Chance, mal über das zu reflektieren, was man da getan hat. Wenn ich ein Album mache, verbringe ich 18 Monate meines Lebens damit, das zu schreiben, Demos aufzunehmen und es dann einzuspielen, das Material abzumischen und zu mastern. Nach diesen 18 Monaten kann ich die Songs dann kaum noch hören und kann auch gar nicht mehr objektiv an die Sache rangehen. Diesmal war das wegen der Pandemie anders. Ich konnte mir das Album sechs Monate nach dem Ende der Aufnahmen noch einmal anhören. Und ich habe tatsächlich eine entscheidende Veränderung vorgenommen. Ich habe den letzten Song ausgetauscht, der etwas temporeicher war. Ich war nicht ganz glücklich damit und habe einen langsameren und schöneren Track mit vielen Texturen ans Ende gesetzt. Eine Ballade. ("Count Of Unease", Anm. der Red.) Das hebt das ganze Album auf ein transzendenteres Level.

Du erwähnst öfter in Interviews, dass ein Album für dich eine musikalische Reise darstellt. Wo geht die Reise diesmal hin?

Über die Jahre hinweg hat es mich immer frustriert, dass man Songs aus dem Album-Kontext vorab veröffentlicht. Ja, man muss das machen, es ist Teil der Promotion. Für mich war das aber immer so, als würde man eine Szene aus einem Film herausnehmen, sie online stellen und behaupten, das würde meinen Film repräsentieren. Dieses Album ist keine Ausnahme, für mich zählt das Gesamtkonzept, die musikalische Reise. Deswegen ist es auch oft so, dass Leute das große Ganze nicht verstehen, wenn sie nicht das komplette Album gehört haben. Sie hören sich "Personal Shopper" an und denken: "Ah, jetzt macht er einen auf Disco." Sie hören "Eminent Sleaze" und denken: "Ah, jetzt macht er Funk." Sie hören "King Ghost" und meinen: "Ah, jetzt macht er auf Elektro." Der Punkt ist: All diese Songs sind Teil eines großen Ganzen. In einem anderen Interview ging es um eine ähnliche Geschichte. Da habe ich mir gedacht, was wäre gewesen, wenn man von einem Album wie "Dark Side Of The Moon" einen Song aus dem Kontext gerissen und ihn separat veröffentlich hätte. Stell' dir mal "The Great Gig In The Sky" vor. Hätte man das so veröffentlicht, hätten die Leute gedacht: "Oh, Pink Floyd machen jetzt Gospel!" Hätten sie "Money" so rausgebracht, würde man sagen: "Oh, sie machen Funk!" Bei "On The Run" würden viele "Oh, sie werden elektronisch" denken. Und damit muss man sich als Musiker in der modernen Welt auseinandersetzen. Man muss ein kleines Stück Musik aus dem schön zusammengebauten Konstrukt herauspicken, und die Leute denken automatisch, dass das stellvertretend für das Album steht. Aber der Punkt ist ja, dass die Platte viel mehr Aspekte besitzt und so aufgebaut ist, dass es - hoffentlich - eine zufriedenstellende musikalische Reise darstellt.

Ich hoffe mal, dass das für deine Fans gilt. Aber wie bei jedem Album, das du veröffentlichst, haben wir ja auch diesmal wieder die Situation, dass deine Anhänger gewisse Erwartungen haben, wie deine Songs klingen sollten. Wie sehr bereitet es dir eigentlich Spaß, mit diesen Erwartungen zu spielen und dann letztendlich genau das Gegenteil zu machen?

Jeder Künstler heutzutage hat ein Problem. Und zwar dann, wenn du etwas Neues ausprobieren möchtest. Social Media liefert dann im selben Moment ein Feedback. Du erhältst Hunderte Meinungen, und alle basieren auf persönlichen Vorlieben. Das kann schon sehr negativ oder sogar beleidigend ausfallen. Warum es da eine kleine Minderheit gibt, die ihre negativen und zum Teil auch verletzenden Kommentare so in die Öffentlichkeit posaunen muss, erschließt sich mir nicht. Einige meiner langjährigen Zuhörer werden aufgrund der fehlenden Classic- oder Progressive-Rock-Elemente und dem gestiegenen Anteil an Elektronik, Funk und direkterem Pop sagen, dass ich einen 'Fehler' begangen oder etwas 'falsch' gemacht hätte, oder ich wäre langweilig und würde schlechte Songs schreiben. Was ich aber eigentlich gemacht habe, ist, dass ich etwas erschaffen habe, das nicht ihrem speziellen Geschmack entspricht. Es ist ja nicht so, dass ich diese Leute absichtlich ärgere, indem ich etwas Unrockiges mache, ich möchte einfach nur, dass jedes Album anders klingt. Ich habe einfach dieses Bedürfnis, unterschiedliche Alben zu machen und verschiedene Sachen auszuprobieren. Vielleicht respektieren diese Leute auch, dass ich das so machen möchte, und folgen mir vielleicht weiter, bei dem, das ich dann als nächstes mache. Und das könnte dann wiederum etwas völlig anderes sein. Um auf deine Frage zurückzukommen: Ich will einfach immer wieder etwas Neues machen, mit anderen Leuten zusammenarbeiten, verschiedene Genres erkunden. Ich habe mich ohnehin nie als Künstler gesehen, der nur in einem Genre zu Hause ist.

Ich habe jüngst den Space Rocks-Kanal von Alexander Milas gesehen. Da hast du im Gespräch erwähnt, dass du an einem bestimmten Punkt deiner Karriere angefangen hast, dich zu sehr nach deinen Fans zu richten. Wann ungefähr war das?

Da gab es zwei Sachen. Ziemlich zu Beginn meiner Karriere, als ich versucht habe, einen Fuß in die Tür zu bekommen, hatte ich nicht wirklich eine Fanbase. Da habe ich nicht versucht, mich nach Fans zu richten, sondern eher danach, was im Markt gut ankommen könnte. Mit No Man haben wir ein paar Singles gemacht, mit denen wir versuchten, den Zeitgeist einzufangen. Wir haben uns dafür gehasst, weil wir nicht mochten, was wir da taten. Wir haben das gemacht, weil wir dachten, es verhilft uns zu einer Karriere im Musikbusiness. Das war das eine. Das andere Mal hatte ich dann das Gefühl, dass ich anfange, mich selbst zu wiederholen. Die letzten drei oder vier Porcupine Tree-Alben hörten sich für mich zu ähnlich an. Von "In Absentia" bis "The Incident" behandelten sie musikalisch eigentlich nur noch verschiedene Aspekte von ein und demselben Ding. Und das war der Punkt, an dem ich beschlossen habe, nicht mehr in der Band sein zu wollen. Wir haben angefangen, uns zu wiederholen. Das hatte gar nicht mal so sehr etwas damit zu tun, dass ich mich nach den Fans gerichtet habe. Viel eher lag das an der Dynamik, Teil einer Band zu sein. Wenn du eine neue Richtung einschlagen willst, ist es mit vier unterschiedlichen Individuen schwer, das umzusetzen. Das war schon frustrierend. Aber sonst bin ich eigentlich schon gut darin, bestimmte Erwartungshaltungen eben nicht zu bedienen.

Immer wenn ich mitbekomme, dass du ein neues Album rausbringst, habe ich eigentlich nur eine Haltung: Lass dich überraschen.

Das gefällt mir und ich mag den Gedanken, dass ich nach 28 Jahren im Business an einem Punkt angekommen bin, an dem die Leute nicht von mir erwarten, dass ich ihnen immer mehr von dem gleichen Zeug serviere. Ich glaube aber auch, dass man sich das über einen langen Zeitraum verdienen muss, dass Fans einem die Freiheit geben, sich zu entwickeln. Deshalb bewundere ich Künstler wie David Bowie, Frank Zappa, Kate Bush oder Stanley Kubrick. Das waren für mich immer sehr große Vorbilder, weil Fans von ihnen fast erwarteten, dass sie neue Aspekte ihrer musikalischen oder filmischen Persönlichkeit erkunden. Es frustriert mich immer wieder, dass es oft darauf hinausläuft, dass Künstler eine Formel für den Erfolg suchen, und wenn es klappt, sie diese immer und immer wiederholen. Aber das ist genau das, was die meisten Musiker machen. Auch von mir erwarten einige, dass ich ihnen immer und immer wieder das gleiche serviere. Da ist es für mich natürlich auch reizvoll, dem nicht nachzukommen.

Ich frage mich nur immer wieder, was dann als nächstes kommt. Du wirst unter deinem eigenen Namen wohl kaum ein Drone-Album aufnehmen.

Ich hab' mich das auch gefragt, ob ich ein Bass Communion-Album unter meinem eigenen Namen rausbringen würde. Nein, würde ich nicht. Unter meinem eigenen Namen werde ich immer Song-orientierte oder Gesangs-orientierte Alben aufnehmen. Innerhalb dieser Vorgaben setze ich mir keinerlei Grenzen, wo es als nächstes hingehen wird. Ich habe auch Freude daran, nicht zu wissen, was ich als nächstes machen werde. Viel hängt davon ab, mit wem ich zusammenarbeite. Der Sound von "The Future Bites" wurde sehr von meinem Co-Produzenten David Kosten beeinflusst. Das hat David Bowie auch so gemacht. Er hat immer wieder mit anderen Leuten gearbeitet. Man kann sich selbst nicht ändern, aber das Arbeitsumfeld und mit welchen Leuten du dich umgibst. Das gibt dir auch immer wieder einen neuen Blick und neue Ideen.

Das hast du in der Vergangenheit ja auch schon gemacht, als du das Artwork bei "The Raven" Hajo Müller anvertraut hast und nicht mit Lasse Hoile gearbeitet hast. Du hast auch immer mit anderen Musikern kooperiert. Machst du so etwas mit Absicht? Das neue Album ist ja auch vom Design völlig anders.

Das mit den Musikern hängt auch immer damit zusammen, welches musikalische Vokabular ich auf dem jeweiligen Album verwende. Was das Artwork angeht: Beim "Raven" wollte ich etwas haben, das wie ein Buch aus den 1890ern mit Illustrationen daher kommt, das du in einem Antiquariat findest. Das neue Album ist da natürlich ganz anders. Es behandelt eher die Zukunft und klingt zeitgemäß, elektronisch und behandelt unter anderem die eigene Identität, Konsum, Produkt-Marketing. Es soll den Hörer auch daran erinnern, dass er selbst am Konsum teilnimmt, wenn er die Platte kauft oder hört. Das erfordert natürlich eine völlig andere visuelle Ästhetik. Deshalb habe ich mich auch an jemand anderen gewendet, aber mit Lasses Segen, und er hat das auch verstanden. Das gilt auch für die Musik. Dieses Album ist - von den frühen Porcupine Tree-Sachen abgesehen - das am meisten Solo-Album bisher. Ich spiele alle Gitarren- und fast alle Bass-Spuren, fast alle Keyboards. Die meisten Kollabos betreffen die Vocals und Backing Vocals. Elton John spricht ja sogar ein paar Worte in "Personal Shopper".

"Du kannst dich den sozialen Medien nicht verweigern"

Wo du Elton John erwähnst. Im Video zu "Personal Shopper" spricht er ja im Mittelteil über Konsumprodukte. Als er 'Sunglasses' sagt und genau in dem Moment eine typische Elton John-Brille auftaucht ... spätestens da sollte eigentlich jeder mitbekommen haben, dass du dich selbst viel weniger ernst nimmst, als es vielleicht in der Öffentlichkeit gesehen wird.

Ich nehme meine Arbeit schon ernst. Aber ich habe eben auch viel Spaß bei dem, was ich tue. "Personal Shopper" ist ein gutes Beispiel, denn viele denken, ich wäre jetzt sehr negativ gegenüber Konsum im Allgemeinen eingestellt. Das ist aber gar nicht so.

Du hast ja auch einen witzigen Auftritt im Video, wo du dem Typen, der sich für einen Ring zwei Finger abhacken lässt, ein High Five auf der Rolltreppe gibst.

Ich bin froh, dass du das witzig findest. Finde ich nämlich auch, und es sollte auch witzig rüberkommen. In dem Song gibt es aber eine Dualität. Auf der einen Seite ist der Song witzig und gewissermaßen eine Liebeserklärung an den Konsum. Ich konsumiere auch sehr gerne. Du musst ja nur hinter mir an die Wand schauen. (Die komplette Wand besteht nur aus Plattenregal, Anm. der Red.) Ich bin selbst ein Shopper. Bücher, Platten, CDs, DVDs, das alles. Shopping während des Lockdwons war sogar noch spezieller. Auf der anderen Seite gibt es diesen heimtückischen Aspekt beim Shoppen, speziell beim E-Commerce. Nämlich in dem Sinne, dass wir ständig von Algorithmen manipuliert werden, die unsere Daten analysieren und diese gegen uns verwenden, um uns zu überreden, Sachen zu kaufen, zu hören, anzusehen, überreden, Leute zu wählen oder Sachen zu glauben. Das geht auch auf das letzte Album zurück, das sich darum dreht, wie Fake News und Verschwörungsmythen funktionieren und Leute an das Zeug glauben. Das schlägt dann die Brücke zum Konsum und wie wir ständig damit bombardiert werden, Sachen zu kaufen, die wir eigentlich gar nicht benötigen. Der Song ist also spaßig, auf der anderen Seite gibt es diesen verstörenden und zynischen Aspekt des modernen Konsums.

Ich finde das Video ja äußerst gelungen. Regie führte Lucrecia Taormina. Wie kamst du ausgerechnet auf sie?

Sie war eine von vielen, die im Pitch waren, für das Video. Wir haben ungefähr 15 Produktionsfirmen und Regisseure angeschrieben und wollten mal schauen, wie die Kreativen die Idee hinter dem Song interpretieren. Was ich an ihrem Entwurf mag, ist, dass sie den schwarzen Humor und die witzige Seite dahinter genauso eingefangen hat wie den zynischen Aspekt. Das hat etwas von Comedy-Horror. Man sieht, wie man ein Stück seiner Seele weggibt, wenn man sich dieser algorithmischen Überredung hingibt. Mir ist klar, dass viele Leute online ein Video oft nur 30 Sekunden oder eine Minute anschauen und dann weiterswitchen. Also stellte ich mir die Frage, wie man in so einer kurzen Zeitspanne zum Betrachter durchkommt. Und an ihrer Idee fand ich spannend, dass jedes Mal, wenn jemand etwas kauft, man einen Teil seines Körpers verliert. Das ist der Gag, das ist das Konzept. Und dann möchte man sehen, was als nächstes passiert und was die logische Erklärung für das Ganze ist. Deshalb funktioniert das Video auch so gut. Ich habe sofort verstanden, was sie damit ausdrücken wollte.

In "Personal Shopper" hat Elton John seinen Auftritt im Mittelteil. Ich habe auf dem Album aber noch einen Elton John-Moment für mich entdeckt. Kannst du dir vorstellen, was ich meine?

Well, reden wir über "12 Things I Forgot"?

Jup.

Meinst du die "Rocket Man"-Backing Vocals?

Ja. Aber auch die komplette Stimmung. Als ich mitbekommen habe, dass Elton auf dem Album vertreten ist, habe ich mir gedacht, den Track könnte er ebenso singen, ohne dass es auffallen würde, dass du ihn geschrieben hast.

Schön, dass du das so siehst. Elton John ist einer meiner großen musikalischen Helden und ist fest in meiner DNA verankert. Als wir an dem Lied gearbeitet haben, haben wir in der Tat öfter von den "Rocket Man"-Backing Vocals gesprochen. Also ja, schuldig im Sinne der Anklage, haha! Aber es ist nichts falsch daran, Elton John-Einflüsse auf einem Album zu haben. Der Mann ist einfach ein brillanter Künstler.

In einem der letzten Interviews, die wir führten, habe ich dich gefragt, warum du nur sehr wenig persönliche Infos preisgibst. Und jetzt hast du jüngst der Öffentlichkeit deine Frau und deine Stiefkinder gezeigt. Wie kam es zu dem Sinneswandel?

Nun ja. In erster Linie war es deshalb, weil ich jetzt glücklich verheiratet bin und ich das mit der Öffentlichkeit teilen wollte. Ich poste ja nicht sehr viel, zu meinem Geburtstag oder so. Ich habe schon eine Linie, die ich nicht überschreite aber ich bin mir auch im Klaren darüber, dass man als Künstler im 21. Jahrhundert in den sozialen Medien stattfinden muss. Du kannst dich dem nicht verweigern. Während der Pandemie kann ich nicht touren, ich kann nicht im Fernsehen auftreten, keine Signing-Sessions in Plattenläden machen. Das einzige, das mir bleibt, ist Social Media. Sogar dieses Interview geht über das Internet. Die einzige Möglichkeit, die ich als Musiker habe, um mich zu promoten, ist das Internet. Ich weiß, dass das ein bisschen heuchlerisch ist, wenn ich mich auf der einen Seite darüber aufrege und das dann selbst nutze. Aber ich habe einen Weg für mich gefunden, das auf eine Art zu genießen.

Lass' uns mal über den Sound des Albums reden. Täusche ich mich, oder ist das mit Abstand bislang deine basslastigste Produktion ever?

Ja. Ich bin ja auch der Bassist auf dem Album. Der Grund, warum der Bass so dominant ist, liegt auch darin begründet, dass die Gitarre eine geringere Rolle spielt und deshalb anderen Sounds mehr Raum gibt, wie der Elektronik oder dem Bass. Es klingt einfach zeitgemäßer. Wenn du aktuelle Musik hörst, erkennst du, dass der Bass sehr wichtig ist. Ich behaupte aber nicht, dass mein Album ein modernes Pop-Album wäre. Im Laufe der Produktion des neuen Albums haben wir auch einige neue Sachen gehört, wie das neue Album von Billie Eilish. Der Sound des Albums ist wirklich hervorragend. Das ist zwar nicht meine Welt, aber ich konnte von der Herangehensweise an den Klang viel für mich lernen. Ich habe einige Produktionstechniken davon übernommen und sie in meine eigene Welt eingebaut. Dass die tiefen Frequenzen mehr in den Vordergrund rückten, hat eben damit zu tun, dass ich eine moderner klingende Platte machen wollte.

Wenn wir schon bei den tiefen Tönen sind, darf ich mal deinen langjährigen Kollabopartner Nick Beggs zitieren: "Steven will, dass ich exakt das spiele, das er von mir verlangt, und ich gebe ihm dann etwas, von dem er nicht wusste, dass er es haben will."

Das ist eine sehr gute Beschreibung. Es ergibt keinen Sinn, mit jemandem zusammenzuarbeiten, wenn du deinem Partner nicht erlaubst eigene Ideen einzubringen. Gleichzeitig habe ich aber auch eine sehr klare Vorstellung davon, wie die Platte klingen soll, wohin mein Schiff segeln soll, oder welche Metapher du auch verwenden möchtest. Ich möchte aber auch überrascht werden, und Nick ist in dieser Hinsicht wirklich großartig. Auch wenn ich die meisten Bass-Parts eingespielt habe, hat er bei "Eminent Sleaze" wieder abgeliefert, mit diesen dubbigen Chapman Stick-Sachen. Das war überhaupt nicht das, was ich mir für den Song vorgestellt habe, aber das ist ein schönes Beispiel, wie mich überraschende Ideen begeistern können.

"Ich will nicht alles erklären müssen"

Du remixt ja auch sehr viele klassische Alben im 5.1.-Sound und hast in einem Interview mal dem Publikum erklärt, wie 5.1.-Sound funktioniert. Findest du das nicht auch etwas schräg, dass man 2020 den Leuten das noch erklären muss?

Du wärst überrascht, wie vielen Musikern ich erklären muss, wie das funktioniert. Viele von den Künstlern, für die ich 5.1.-Mixe gemacht habe, musste ich erst erklären, was 5.1. überhaupt ist! Aber im Zuge der Album-Promo jetzt muss ich den Leuten erklären, was Dolby Atmos ist. Auf der BluRay ist ja ein 5.1.- und ein Atmos-Mix. Okay, vor einem Jahr wusste ich das selbst nicht. Ich war im Abbey Road Studio und hab mir den Atmos-Mix von "Sgt. Pepper" angehört. Ich verstehe das schon. Manchmal entwickelt sich die Technik so schnell, dass man nicht hinterher kommt. Die meisten dürften mittlerweile mitbekommen haben, was 5.1. bedeutet, aber jetzt sind wir bei 7.1.4, und das ist wiederum eine komplett neue Welt. Aber das ist ja auch eine Frage des Geldes und ob du genug Platz hast. Du benötigst ja alleine vier Lautsprecher über dir, und daran scheitert es bei den meisten wohl schon.

Du hast mal erzählt, dass du einige Anfragen für 5.1.-Mixe abgelehnt hast. Mich würde interessieren, welche das waren.

Das sag' ich dir nicht. Ich mache 5.1.-Mixe bei Alben, die ich selbst gut finde. Es wäre nicht fair, so einen Job bei einem Album zu machen, das ich nicht wirklich mag. Ich habe während des Lockdowns ein paar Arbeiten übernommen, die ich wohl normal nicht gemacht hätte. Mein Hauptkriterium dabei ist die Frage, ob ich dem Album gerecht werden kann. Da waren einige gute Alben dabei, mit denen ich aber nicht wirklich viel anfangen kann und sie deshalb abgelehnt habe.

Aber Namen willst du keine nennen, oder?

Alex, ich kann dir die nicht nennen, denn das wäre wie ein 'Fuck you' gegenüber dem Künstler.

Kein Ding. Als ich mir "King Ghost" vom neuen Album angehört habe, habe ich mich gefragt, was die Stimme im Mittelteil mir da eigentlich erzählen möchte. Ich habe versucht, das zu entziffern, habe aber nichts verstanden.

Da werde ich dir nicht weiterhelfen. Ich lass' das mal im Vagen. Ich will ja nicht alles erklären müssen. Das gehört zu den Dingen, die ich nicht erklären will.

Ich frage deshalb, weil diese Sequenz das Mysteriöse in dem Track unterstützt.

Ja, das stimmt. Das witzige ist ja, dass der Song komplett elektronisch ist. Sogar die Stimme. Gleichzeitig klingt er aber sehr organisch und emotional. Ich wollte auch die Vorstellung konterkarieren, dass elektronische Musik kalt und gefühllos ist. Leute, die Rockmusik hören, hängen ja oft der Vorstellung nach, dass elektronische Musik nicht emotional sein kann, und hier haben wir einen Song, der zum Emotionalsten gehört, das ich je geschrieben habe - und der ist komplett elektronisch.

Als du "The Future Bites" Anfang 2020 angekündigt hast, hast du auch Dates für Live-Shows bekanntgegeben. Was kann man denn davon erwarten, wenn sie denn in hoffentlich nicht allzu ferner Zukunft stattfinden? Im Vergleich zu früheren Touren hast du ja ziemlich große Hallen gebucht.

Die Idee mit den großen Venues stammt von meinem Agenten. Der meinte, dass die Zeit reif wäre für die großen Arenen. Das hat meinem Ego schon geschmeichelt, dass ich in so großen Hallen spielen kann. Bevor die Absagen kamen, liefen die Ticketverkäufe für die Konzerte richtig gut und es sah danach aus, dass alle ausverkauft werden. Das hat mich echt umgehauen. Leider wird das so nicht stattfinden. Keine Ahnung, wie wir das hinbekommen könnten, denn die Arenen sind alle drei Jahre im Voraus ausgebucht. Die ersten freien Hallen gibt es erst wieder Anfang 2023, also muss ich wieder in kleinere Venues gehen. Aber um auf deine Frage zurückzukommen: Vieles, das auf dem Album ist, eignet sich ganz hervorragend, um das im Live-Kontext zu präsentieren. Die Idee mit Konsum und Identität, das sind Themen, mit denen man auf der Bühne wahrscheinlich sehr viel Spaß haben kann. Das wird ganz sicher wieder sehr visuell. Das geht dann bis dahin, wie der Merchandise-Stand gestaltet wird. Stell' dir einfach vor, wie das "The Future Bites"-Konzept da reinpassen könnte. Ich war schon in der Planung dafür und musste das auf Eis legen und beschäftige mich erst jetzt wieder damit. Wir sind noch in der frühen Planungsphase, aber ich möchte etwas Umfassendes machen, mit einer gehörigen Prise schwarzem Humor.

Du hast vor einiger Zeit mit Tim Bowness den Podcast "The Album Years" an den Start gebracht, wo ihr immer über herausragende Alben aus einem bestimmten Jahr redet. Können wir da in Zukunft noch etwas erwarten?

Du meinst, dass wir einen Film daraus machen? Hehe, ja, eventuell.

Oder eine Comedy-Show?

Ja, genau, wir machen eine Sitcom. Wir hatten jede Menge Spaß dabei. Als wir angefangen haben, hatten wir überhaupt keine Vorstellung, ob das überhaupt jemanden anspricht. Da reden halt zwei Typen völlig nerdig über Platten. Das haben Tim und ich ja schon immer gemacht. Wir hatten über 120.000 Zuhörer, das war schon verrückt. Es gibt ja keinen Mangel an Alben, über die man reden könnte. Wir haben jetzt zwölf Episoden, in denen wir elf verschiedene Jahre beleuchten. Wir haben einige Jahre noch gar nicht bedacht und könnten die, die wir schon hatten, gut und gerne noch ein paarmal durchgehen, weil wir so viele Alben aus Mangel an Zeit gar nicht berücksichtigt haben. Die andere Idee, die wir hatten, war, uns ein paar Gäste einzuladen, um mit uns zu diskutieren. Seien das bekannte Musiker, Journalisten, Comedians oder irgendjemand, der die gleiche Leidenschaft für Musik mit uns teilt. Wir fangen nämlich langsam an, uns zu wiederholen, und vielleicht fällt der Name Robert Fripp auch zu oft. Deshalb wäre es nett, jemanden dazu zu holen.

Du hast mal erwähnt, dass du liebend gerne mal einen Soundtrack für einen Film schreiben möchtest. Hat sich in der Hinsicht was getan?

(schüttelt energisch den Kopf)

Never. Computerspiele, ja. Filme, Fehlanzeige.

Du willst mich doch veräppeln.

Ne, gar nicht. Ich würde das wirklich gerne machen, aber bislang hat sich noch kein Regisseur oder sonst wer bei mir gemeldet. Noch nicht. Ich bin guter Hoffnung, dass ich das noch machen kann, bevor ich ins Gras beiße. Den Score für einen richtig coolen Film zu übernehmen, ist nämlich das letzte unerfüllte Ziel, das ich noch habe.

Ich hätte jetzt eher vermutet, dass du Anfragen abgelehnt hättest, weil sie nicht in die Richtung gehen, die du dir künstlerisch vorstellst.

Nein, ich konnte gar nichts ablehnen, weil mich noch niemand angefragt hat. Natürlich würde ich nicht alles machen. Es sollte schon etwas sein, auf das ich stolz sein kann und für das ich gerne meine Zeit investiere. Aber bisher hat mich echt noch niemand gefragt, und das ist schon etwas frustrierend.

Na, dann machen wir aus diesem Interview doch einfach eine Bewerbung oder eine Aufforderung an Regisseure, dir mal ein Jobangebot zu unterbreiten.

Ja, genau! Bring it on! Ich bin bereit!

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8 Kommentare mit 10 Antworten

  • Vor 3 Jahren

    Durch geskipt.....wo Wilson drauf auch drin!

    Viel zu entdecken, kaum Rock, Gitarre versteckt sich..dafür viel 80er Pop auf hart, meint klare Bässe und Synthies gefallen und tun nicht aua wie in den 80ern überwiegend.

    Insgesamt mir zu wenig, da meine Emotionen nicht abgeholt werden, die Frauenstimme der letzten Alben fehlt mir und natürlich die Gitarren.

    Halte das für ein durchschnittliches (Wilson) Album.

    • Vor 3 Jahren

      Bin auch nicht so begeistert. Durchschnittsware von Wilson ist natürlich immer noch ein großes Kaliber. Wird aber, wie die Vorgängerplatte, vermutlich bald vergessen, weil er vorher eben zu gut war.

    • Vor 3 Jahren

      "weil er vorher eben zu gut war"

      Schön das du das genauso wahrnimmst. Der Eindruck seit "Hand Cannot Erase", er will zuviel. Das Hand war perfekt, Gipfel der Schaffenskraft erreicht.

      Das hängt aber weitesgehend damit zusammen, das man die da definierten Trademarks immer wieder erwartet, bestes Beispiel dafür "Regret#9", Gitarrensolo des Jahres.

    • Vor 3 Jahren

      HCE war halt vollendeter Hybrid seines Schaffens, seiner fast dreissig Jahre. Was danach kam war bewusstes loslaufen auf neues Terrain. Kann man machen, hört man aber deutlich raus dass er es nicht dreissig Jahre beackert und studiert hat.

  • Vor 3 Jahren

    Es kommt ganz darauf an, welche, mein Lieber.

  • Vor 3 Jahren

    Steven Wilson war grad bei "What's In My Bag" von Amoeba (leider nicht im Musikladen, sondern "nur" per Webcam). Sehr sehenswert und durchaus überraschend, was er an Musikalben empfiehlt!
    https://www.youtube.com/watch?v=MbtvzJdKYTc

    • Vor 3 Jahren

      @Liam Lennon:
      Sehenswert - absolut. Er hätte mich aber mehr überrascht, wenn er Maria Hellwig oder Schiller aus dem Plattenschrank gezerrt und in die Kamera gehalten hätte :)
      Gruß
      Skywise