laut.de-Biographie
Stevie Wonder
Als Paul Simon 1976 für "Still Crazy After All These Years" den Grammy für das Album des Jahres erhält, ehrt er in seiner Dankesrede einen Kollegen, der solches überhaupt erst möglich gemacht hat: "Ich möchte Stevie Wonder danken - dafür, dass er im vergangenen Jahr KEINE Platte heraus gebracht hat."
Mitte der 70er Jahre führt an Stevie Wonder nämlich eigentlich kein Weg vorbei. Den Preis für das Album des Jahres hat er quasi abonniert: 1973, '74, '75 und dann wieder '77 (für "Songs In The Key Of Life") bekommt er die begehrteste Trophäe der Musikwelt zugedacht, und auch sonst wird der wahrhaft außergewöhnliche Musiker, Produzent und Entertainer mit Preisen wie Superlativen überhäuft.
Seine Geschichte beginnt allerdings gar nicht glamourös am 13. Mai 1950 in Saginaw in Michigan. Viel zu früh drängt der kleine Steveland Hardaway Judkins Morris ans Licht der Welt. Bei der Beatmung im Brutkasten kommt es zu Komplikationen. Eine zu hohe Sauerstoffkonzentration lässt das Neugeborene erblinden.
Stevie Wonder interpretiert diesen Schicksalsschlag später als einen Wink des Allmächtigen: Bei mehreren Gelegenheiten betont er, nur so habe er seine anderen Sinne - insbesondere natürlich sein Gehör - so besonders sensibilisieren können.
Als Stevie vier Jahre alt ist, zieht seine Familie nach Detroit. Schon jetzt zeigt sich, welch musikalisches Kind da heranwächst: Der Kleine singt im Kirchenchor. Mit neun beherrscht er zudem Klavier, Schlagzeug und die Mundharmonika.
Zwei Jahre später fällt der talentierte Knabe Ronnie White auf. Als Mitglied der Soul-Formation The Miracles kennt er Motown-Chef Berry Gordy und arrangiert für den kleinen Stevie ein Vorsingen. Gordy, seit jeher mit einer goldenen Nase fürs Geschäft gesegnet, wittert Morgenluft und nimmt Stevie Wonder, zwölf Jahre alt, unter Vertrag.
Die ersten Platten erscheinen entsprechend seinem zarten Alter als Little Stevie Wonder. Die musikalische Größe des jungen Musikers lässt den niedlichen Zusatz jedoch bald aus seinem Namen kippen. Seine Platten verkaufen sich auch so wie geschnitten Brot.
Der Ehrgeiz treibt Stevie Wonder an. Nie zufrieden, strebt er unentwegt danach, besser zu singen, besser zu komponieren, besser Klavier zu spielen. In allem will er besser sein - und vor allem die Fäden selbst in die Hand nehmen. Seit 1976 fungiert er bei jeder seiner Nummern mindestens als Co-Autor. Das so erworbene Geld investiert Stevie Wonder in sein eigenes Studio, sein eigenes Label Black Bull Music, und strebt überhaupt nach immer mehr Kontrolle über sein Schaffen.
Mit den Produzenten Robert Margouleff und Malcolm Cecil entspinnt sich eine langjährige Zusammenarbeit. Gemeinsam drehen die Herren an den Knöpfen und Modulen der gerade aufkommenden Synthesizer. Die Resultate bescheren Stevie Wonder den kommerziellen Durchbruch.
"Talking Book" mit den Nummer-eins-Hits "Superstition" und "You Are The Sunshine Of My Life" läutet 1972 ein, was später als Stevie Wonders "klassische Periode" in die Musikgeschichte eingehen soll. "Innervisions" und "Fulfillingness' First Finale" setzen in den Folgejahren die Serie fort.
Dennoch trägt sich Stevie Wonder Mitte der 70er mit dem Gedanken, dem Musikgeschäft den Rücken zu kehren. Er engagiert sich zunehmend für Charity-Projekte. Man munkelt, er wolle nach Afrika übersiedeln, dort mit blinden und anders behinderten Kindern arbeiten und plane bereits sein Abschiedskonzert.
Irgendetwas muss ihn doch noch umgestimmt haben: 1975 nimmt er die Zügel seiner Karriere wieder energisch in die Hand. Sein Anwalt handelt an Stelle des eben ausgelaufenen Vertrages bei Motown einen neuen Deal für ihn aus, der Stevie Wonder nicht nur für seine Zeit beispiellose Vorauszahlungen und Gewinnbeteiligungen zusichert, sondern darüber hinaus auch erhebliches Mitspracherecht in der Labelpolitik einräumt.
"Mir ging es weniger ums Geld als darum, meine Familie abzusichern", so der eben zum ersten Mal Vater gewordene Musiker. Außerdem wolle er Motown als "einziges lebensfähiges Unternehmen in der Plattenindustrie, das sich in schwarzer Hand befindet" um jeden Preis vor dem Schicksal anderer kleinerer Firmen bewahren, die von den großen grußlos gefressen werden.
Nach für Stevie Wonders Verhältnisse endloser Frickelei erscheint im Herbst 1976 "Songs In The Key Of Life". Das Doppelalbum mit beigelegter 7"-EP übertrifft die in den Himmel gewachsenen Erwartungen mühelos und entpuppt sich nicht nur als künstlerischer Meilenstein, sondern auch als größter kommerzieller Erfolg in Stevie Wonders Laufbahn.
Letzterem soll er in den 80er Jahren sogar noch eine Schippe drauflegen. Seine Hinwendung zu glatteren, schmalzigeren Pop-Songs beschert ihm neben besten Verkaufszahlen dann aber auch reichlich Kritik.
Sein humanitäres Engagement hält Stevie Wonder über all die Jahre aufrecht. Er engagiert sich für Benachteiligte, aber auch in der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung und nimmt mehrere Benefiz-Stücke auf. Darüber hinaus schreibt er weitere Kuschelnummern, aber auch Soundtracks für Filme.
1996 erhält er wieder einmal einen Grammy, diesmal den für das Lebenswerk - das er allerdings noch lange nicht für beendet erklärt hat.
Doch natürlich hadert auch der Erfolgreiche gelegentlich mit dem Schicksal: "Mein Leben wäre vollständig, wenn ich nur für zehn Minuten meine Kinder sehen könnte", sagt Wonder immer wieder.
In den Folgejahren hört man wenig von Stevie Wonder, bevor er für den Sommer 2005 mit "A Time to Love" das erste Studioalbum nach über zehn Jahren ankündigt. Die Scheibe leitet eine Art Wonder-Revival ein, das einige Best-Ofs zur Folge hat und in einer umjubelten Konzertreise 2008 gipfelt, die ab Frühjahr 2009 auch auf der DVD "Live At Last" zu begutachten ist.
Den Höhepunkt seines künstlerischen Schaffens markiert aber nach wie vor "Songs In The Key Of Life". Zahlreiche Kollegen, darunter Michael Jackson, George Michael oder Whitney Houston, erklären die Platte zu ihrem Lieblings-Album. Besonders schöne Worte findet Elton John:
"Lassen Sie es mich so sagen", entgegnet er auf die Frage nach seinem Alltime-Favoriten, "Wohin ich auch gehe, ich habe immer ein Exemplar von 'Songs In The Key Of Life' dabei. Meiner Meinung ist das das beste Album, das je aufgenommen wurde, und es lässt mich jedes Mal, wenn ich es höre, in völliger Verzückung zurück."
Wer so verzückt über das eigene Werk ist, kann sich mit neuem Output gemächlich Zeit lassen - vielleicht besser so, um das Vollbrachte nicht zu verwässern. Zwei Songs immerhin, von denen der eine als Genre-übergreifende Black Lives Matter-Hymne flasht, folgen im Herbst 2020 nach langem Break. Sie künden von Stevies Gründung eines eigenen Labels, auf seine alten Tage.
Und einem Musiker gelingt es 2022 auch, Wonder zu einem Gastauftritt auf seinem Album zu bewegen: dem Maroon 5-Keyboarder PJ Morton aus New Orleans. Darüber hinaus findet der Herr über die 'Keys Of Life' auch vier bis sechs Jahrzehnte nach seinen großen Hits breiten Anklang bei Artists vieler Genres. Ob in Soul, R'n'B, Blues, Folk oder Reggae - oft wird er in Interviews als Referenz für zeitloses Songwriting und Inspirationsquelle genannt.
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