laut.de-Kritik
Nach 24 Jahren überraschend gut.
Review von Giuliano BenassiUnglaublich, aber wahr: Nach unzähligen Best-Ofs, ausverkauften Welttouren und Rock-Oper-Revues haben sich die alten Haudegen von The Who noch einmal ins Studio gewagt und ihr erstes Studioalbum seit 1982 veröffentlicht.
Die 24 Jahre dazwischen haben selbstredend ihre Spuren hinterlassen. Mit John Entwistle (2002) kam ein weiteres Gründungsmitglied abhanden, das zweite nach Keith Moon (1978). Beide starben eines natürlichen Rockertodes: Der erste an Drogen und Alkohol, der zweite an kokain-induziertem Herzversagen. So können sich die Hinterbliebenen, Sänger Roger Daltrey und Gitarrist/Mastermind Pete Townshend damit trösten, sich seit Entstehung der Band 1964 von keinem ihrer Mitstreiter im Zwist getrennt zu haben. Ein einmaliger Rekord, zumal sie mit Zakk Starkey (Schlagzeug) und Pino Palladino (Bass) würdigen, wenn auch nicht ebenbürtigen Ersatz gefunden haben.
Von alledem ist zunächst nichts zu spüren. "Endless Wire" beginnt wie das wohl beste Album der Gruppe, "Who's Next" (1971): Mit einer Synthetizer-Sequenz. Was damals revolutionär anmutete, hört sich auch heute noch ganz gut an. Verschiedene Notenfolgen kreuzen sich und ergeben ein neues Ganzes. Wie bei "Baba O'Riley" setzen anschließend Townshends Gitarre und Daltreys Röhre ein.
"Man In A Purple Dress" liegt dagegen in der Tradition einfühlsamer Akustikgitarrenballaden im Stile von "Behind Blue Eyes". Bereits diese zwei Stücke reichen aus, um festzustellen, dass The Who die Lust am Musizieren nicht verloren haben, wobei sie mit der einen oder anderen Überraschung aufwarten. Bei "In The Ether" begibt sich Daltrey in den Stimmkeller und erinnert an Tom Waits. "Two Thousand Years", "Unholy Trinity" und "They Made My Dreams Come True" könnten sich auch bei den Dubliners ganz gut anhören. "Trilby's Piano" klingt trotz Streicherbegleitung recht schräg.
Dennoch sind sie ihrem Sound treu geblieben: Einfache, knackige Akkorde, ausgereifte Begleitung, harmonische Background-Vocals und die alles überragende Stimme Daltreys, der man zwar anhört, dass sie einige Jahre auf dem Buckel hat, die aber zweifellos gut gereift ist und nun Nuancen besitzt, die sie früher nicht hatte. Auch der Hang zum Ohrwurm ist noch vorhanden, am meisten im (selbstironischen?) "We Got A Hit".
Der größte Verdienst der Band liegt darin, ihren Stil ins 21. Jahrhundert gerettet zu haben, ohne sich selbst zu karikieren. "Black Widow Eyes" beschäftigt sich mit der Geiselnahme im russischen Beslan, bei der 2004 hunderte Schulkinder starben. Die Ballade "God Speaks, Of Marty Robbins" handelt von der Erderwärmung, der Titeltrack vom Internet, aber mit recht poetischen Begriffen: "We found this pile of paper / Written by that ether man / … / He had a mad old plan / He'd turn us into music / He'd show us to our portals / He gathered wire and angels / To entertain immortals", heißt es zu Beginn.
Das Album lässt sich also aus verschiedenen Winkeln betrachten. Das liegt auch daran, dass sich die Stücke eher wie zusammengesetzte Splitter aus verschiedenen Musicals (sorry, Herr Townshend, Rock-Opern) anhören als wie Material mit einer organischen Anordnung. Aber das sind Fans von The Who ja gewohnt. Fest steht, dass Daltrey und Townshend auch jenseits der 60 die Fähigkeit zu rocken nicht verlernt haben.
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