laut.de-Kritik

Oaklands Soul-Könige laden ein zum Tanzen, Trauern und Träumen.

Review von

Der abendliche Fahrtwind bläst in mein Gesicht. Ich sitze in einem merinoroten Oldtimer-Cabrio und fahre die Oakland Bay Bridge vom Stadtzentrum San Franciscos Richtung Osten nach Oakland entlang. Im Radio läuft "So Very Hard To Go" von Tower Of Power, während die Sonne auf magische Weise im Antlitz des Pazifik versinkt. Es ist der perfekte Moment. Die Welt ist in Ordnung.

Piep. Ich schalte die Playstation aus. Es ist das Jahr 2017, ich sitze alleine zuhause, gerade heimgekommen von einer verhauenen Physik-Klausur in der Schule. Die Welt ist gar nicht so in Ordnung. Alles, was ich gerade erlebt habe, war nicht real, sondern in einem Videospiel. Tatsächlich könnte ich – hier alleine in einem Kaff am Arsch der Welt in Deutschland, mit Controller in der Hand – nicht weiter weg von diesem ganz konkreten Lebenstraum sein. Von diesem perfekten Moment. Das Einzige, das daran real war, ist der Song.

Dieser einzigartige Song. "So Very Hard To Go", eigentlich ein gewöhnlicher Soul-Track übers Loslassen und Liebeskummer. Keine Ahnung, was mich daran so gepackt hat. Die brillanten Vocals von Lenny Williams, zum Zeitpunkt der Veröffentlichung im Mai 1973 Sänger von Tower Of Power? Die feinfühlige Gitarre im Intro? Die verspielten Bläser im Hintergrund? Was es auch ist, es bildet einen einzigartigen Sound, der sich durch das gesamte Album zieht.

"Tower Of Power" ist das dritte Studioalbum von der gleichnamigen Gruppe. Gegründet wurde diese Ende der 60er-Jahre in Oakland von den beiden Saxophonisten Emilio Castillo und Stephen "Doc" Kupka. Bis heute haben wahrscheinlich um die 60 Musiker*innen als Bandmitglieder an Tower Of Power mitgewirkt, die Besetzung änderte sich über die Jahre ständig. Castillo und Kupka sind jedoch bis heute dabei und bilden seit jeher den Kern des wichtigsten Instrumental-Blocks der Gruppe: die Bläser.

Vor allem auf "Tower Of Power" kann man das perfekte Zusammenspiel von Saxophonen, Trompeten, Flügelhorn und Posaune bewundern. Nicht nur in entspannten Soul-Werken wie "So Very Hard To Go", sondern auch in den zahlreichen Funk-Songs wie "Get Yo' Feet Back On The Ground", "Soul Vaccination" oder "What Is Hip?". Letzterer bildet den Auftakt der Platte mit der simplen wie genialen Botschaft: "What is hip? Hipness is!"

Wer jetzt noch keine gute Laune hat, bekommt diese spätestens mit dem Feel Good-Booster "This Time It's Real" – auf der Happy Vibes-Skala etwa auf einer Stufe mit Earth, Wind & Fires "September". Dabei geht es auf den meisten anderen Tracks gar nicht so happy zu, "Will I Ever Find A Love?" ist nur eines von mehreren Beispielen für die Lyrics, die sich meist mit tragischem Liebesschmerz auseinandersetzen.

Über die Trauer hinweg hilft bekanntlich nur eins: "Get Yo' Feet Back On The Ground". Und wenn man dann schon steht, kann man ja auch gleich eine Tanzeinlage zu den groovigen Nummer der Platte darbieten. Namentlich neben dem eben genannten "Get Yo' Feet Back On The Ground" (übrigens inklusive Wahnsinns Gitarrenriff) vor allem "Soul Vaccination": "Everybody get in line / Soul Vaccination fo' mo' better health / Part of our Soul protection plan / Get ready for the injection to cut down on the infection / 'Cause soon we've got soul perfection". Den Covid-19 Impfstoff in Ehren – so eine Soul-Impfung für alle könnte auf der Welt sicher wahre Wunder bewirken.

Ein letztes absolutes Highlight bildet dann noch "Both Sorry Over Nothin'", auf dem Bruce Conte mit seiner Gitarre zum Star mutiert. Den Abschluss markiert das sanfte "Just Another Day", das so sehr nach idyllischer Abspann-Musik klingt, dass es fast schon zu kitschig ist, wie gut es den Kreislauf der zehn Songs schließt.

"Tower Of Power" ist kein Album, das man lieben lernen muss. Dem man Zeit geben muss. Bei dem man auf die Details achten muss, um seine Genialität zu erkennen. Nein, man hört es und es entführt einen automatisch in den perfekten Moment. Setzt einen in dieses merinorote Oldtimer-Cabrio auf die Straße, zu welchen Träumen auch immer diese bei jedem und jeder einzelnen führen mag.

"Your dreams have all come true / Just the way you planned them" singt Lenny Williams in "So Very Hard To Go". Noch ist es nicht so weit, noch habe ich meinen kleinen Lebenstraum nicht verwirklicht. Aber ich bin der festen Überzeugung, dass er sich eines Tages erfüllen wird. Und wenn ich mir mal nicht mehr so sicher bin, dann mache ich einfach diesen Song an und schon spüre ich ihn wieder – den Fahrtwind in meinem Gesicht ...

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. What Is Hip?
  2. 2. Clever Girl
  3. 3. This Time It's Real
  4. 4. Will I Ever Find A Love?
  5. 5. Get Yo' Feet Back On The Ground
  6. 6. So Very Hard To Go
  7. 7. Soul Vaccination
  8. 8. Both Sorry Over Nothin'
  9. 9. Clean State
  10. 10. Just Another Day

Videos

Video Video wird geladen ...

Weiterlesen

LAUT.DE-PORTRÄT Tower Of Power

Die zehn Mann starke Funkband aus Oakland gehört zu dem Besten, was dieses Genre zu bieten hat. Zwei Stilmittel prägen ihre Musik wesentlich: Zum einen …

2 Kommentare