laut.de-Kritik
Ihr Credo "Dark & Long" bekommt eine völlig neue Bedeutung.
Review von Toni HennigSeit November letzten Jahres veröffentlichen Underworld auf ihrer Homepage wöchentlich neue Werke, wobei sie der mehrteiligen "Drift"-Reihe besonderen Wert zumessen, die im Dezember mit "Drift Episode 1 "Dust"" ihren Anfang nahm. Dort räumten sie den australischen Avantgarde-Jazzern von The Necks eine eigene Seite ein. Die beteiligten sich ebenfalls an "Drift Episode 2 "Atom"".
Für "Appleshine Continuum", das zugleich die EP beschließt, trafen sich die beiden Formationen zu einer gemeinsamen Improvisations-Session in den Air Studios in London. Darüber hinaus entstand das über 45-minütige Stück in einem einzigen Take.
Die Basis für diese Nummer legen Underworld zunächst mit "Appleshine", das uns mit nach vorne gehenden Beats und ebenso geradlinigen Bassdrum und Snare-Klängen von Rick Smith sowie dem melancholischen Gesang Karl Hydes direkt in die mittleren 90er zurück katapultiert. Da lösten sie sich auf "Dubnobasswithmyheadman" endgültig von ihrer rockigen Vergangenheit und kreierten einen einzigartigen elektronischen Sound, der sich am ehesten als Dark Techno bezeichnen lässt.
Den Track spinnen sie gemeinsam mit The Necks zu "Appleshine Continuum" weiter, das noch etwas druckvoller aus den Boxen tönt, während man die Stimme zusätzlich mit Halleffekten unterlegt. Dadurch klingt diese Version gegenüber dem Original um Einiges lebendiger.
Zu Beginn kreist der Song um Hydes Stimme. Die drängt zugunsten des abwechslungsreichen Orgelspiels von Leo Abrahams, das stark an die freien und verspielten Momente von Miles Davis' "In A Silent Way" erinnert, nach und nach in den Hintergrund und taucht im weiteren Verlauf nur noch vereinzelt auf. Dabei entwickelt sich in Verbindung mit dem rauen Beatfundament ein dunkler Sog, der seine rauschhafte Wirkung nicht verfehlt. Ab der Mitte bereichert der Australier die Nummer mit kreisenden Minimal Music-Figuren am Klavier, wodurch sie noch mehr an Drive gewinnt.
Der Trip mündet in einer langen Improvisation von The Necks, die mit perlenden, virtuosen Piano-Klängen, filigranem Bass von Lloyd Swanton und versponnenem Schlagzeug von Tony Buck an schäbige Eckkneipen und Nachtclubs in einer Millionenmetropole nach Mitternacht vorbeiführt. Zum Schluss verschwinden gestrichene Saiten- und verträumte Tastentöne nach und nach ins Ungewisse, bis nur noch zärtliche Stille bleibt.
Dass die Kombination von Jazz und Techno bei Weitem nichts Neues ist, haben Innerzone Orchestra mit "Bug In The Bass Bin" (1996) und Laurent Garnier mit "The Man With The Red Face" (2000) schon in der Vergangenheit eindrucksvoll bewiesen. Trotzdem stellt sich "Appleshine Continuum" gerade durch seine epische Länge als bahnbrechend heraus, die es bei der Fusion dieser beiden Genres so gut wie überhaupt noch nicht gegeben hat - zumindest fällt mir kein anderes Beispiel der letzten zwanzig bis dreißig Jahre ein. Da bekommt das klassische Underworld-Credo "Dark & Long" sicherlich eine völlig neue Bedeutung.
Und das restliche Material? Das bewegt sich souverän zwischen lichtundurchlässigem Rave ("Threat Of Rain"), ätherischen Piano-Momenten ("Mole Hill"), nachdenklicher Electronica ("Brussels") und eingängigem Pop-Appeal ("Soniamode"). Gerade "Threat Of Rain", das mit nur wenigen repetitiven Gesangsfetzen auskommt, versprüht mit pumpender Bassdrum, kickender Snare und bedrohlichen elektronischen Zwischentönen eine zeitlose technoide Schönheit.
So konzentrieren sich die Briten größtenteils auf ihr Kerngeschäft, erweitern aber auch, indem sie mit The Necks unbekanntes Fusion-Terrain beschreiten, ihren musikalischen Horizont. Gerade die atemberaubenden Fähigkeiten der Australier sorgen dafür, dass Underworld endlich wieder zu alter Höchstform auflaufen.
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