laut.de-Kritik

Ein Jazz-Trip in die Tiefsee.

Review von

Dieses Album ist ein Wurmloch in alle Richtungen: Hier spielen ein historisch verwurzelter Vordenker der Jazz-Avantgarde, ein Filmsoundtrack schreibender E-Gitarren-Nerd und ein in der Tiefsee tauchender Alt-Rock-Journalist zusammen. Im Trio improvisieren sie eine musikalische Landkarte eines vom Klimaschutz zerfrästen Korallenriffs, fünfzig Minuten, ein Song. Und so viel Spaß es macht, anhand dieser Platte die irren Lebensläufe von Wadada Leo Smith, Henry Kaiser und Leo Varty nachzuerzählen, lohnt es sich allen voran erst einmal, dieses Album für sich stehen zu lassen: "Pacifica Koral Reef" strahlt auch ohne Kontext eine eindrucksvolle, magische Stimmung aus, ein audiovisueller Tourguide durch das Meer.

Smith bezeichnet seine musikalische Philosophie als Ankhrasmation, ein Brückenwort aus verschiedenen spirituellen afrikanischen Konzepten, aus denen er seine ganz eigene Technik der Musik-Notation herleitet. Die kann man online einsehen, sie besteht aus visualisierenden Gemälden, die irgendwie intuitiv wie eine Science-Fiction-gewordene Alternative zu herkömmlichen Noten ist, halb aufgeschriebenes Motiv, halb lebendiges Bild. Mit diesen Grundfesten spielt nun auch sein neues Trio, das ebenfalls einen Hintergrund in der improvisierten oder halb improvisierten Musik besitzt.

Es ist ein audiovisueller Trip durch die musikalische Textur. In seinen eigenen Texten bezeichnet Smith die Grundvoraussetzung seines Schaffens darin, dass seine Musik nichts von seinen Kollaborateuren einfordere als den absoluten Ernst und guten Willen, sich darauf einzulassen. Zwei Gitarren und eine Trompete stehen also im Raum, herauskommen solle möglichst eine Aufnahme des Ozeans. Dadurch entfernt man sich logischerweise von Jazz-Konventionen, selbst für die Avantgarde muss man seine eigenen Wege finden. Aber das tun sie:

Varty darf mit seiner akustischen Gitarre nach eigener Aussage zuerst solo den eigenen Herzschmerz ausbaden. Klingt erst einmal nicht konkret nautisch, aber er liefert eine Grundtextur, in der sich die richtige Bewegung abzeichnet. Flüchtig und schaukelnd plätschern seine Griffe hin und her, wir befinden uns auf der Meeresoberfläche, sie trägt eine gewisse Ruhe, aber bewegt sich. Von allen Momenten des Albums ist das hier derjenige, auf den man sich am aktivsten einlassen muss, denn hier stellt sich erst beim wiederholten Hören Klarheit ein, wohin der Klang das Album bringen soll.

Graduell steigt Smith ein, der seine Trompete im Stil der späten Sechziger spielt, als Mitglied der Association For The Advance of Creative Music spürt man ihm die Nähe zur kosmischen Jazz-Schule an, die nähe zu Musikern wie Sun Ra, Don Cherry oder dem elektronischeren Arbeiten von Miles Davis. Und er lässt die Trompete heulen über die Gitarre, die unter dem hellen, schreienden Klang in die Tiefe zu tauchen scheint. Dass sich langsam, schrittweise auch Kaiser untermischt, merkt man vielleicht aufs erste Hören überhaupt nicht.

Vielleicht macht Kaiser aber den Hauptteil der Arbeit, dieses Album zu so einem immersiven audiovisuellen Werk zu machen: Sein Einfädeln von kleinen Bits an Echo und E-Gitarren-Feedback fächert den Klangteppich dieses Recordings immer weiter auf. Er sorgt für kleines Heulen, für Echolot-Tiefenschatten, er versteht offensichtlich das Entstehen von Raumklang, und sein gerade im Mittelteil stets dominanter werdendes Spiel ordnet die Raumtiefe der anderen beiden Instrumente organisch an.

Ein bisschen fühlt man sich an das letztjährige "Promises" von Pharoah Sanders und den Floating Points erinnert, das eine ganz ähnliche kompositorische Struktur nutzte, um ein sich permanent bewegendes Gefüge anzuordnen. Aber während Sanders linear in den Kosmos aszendierte, schwimmt dieses Recording in einem trüben und turbulenten Ozean davon, die Bewegungen lassen sich nicht in Pattern anordnen und es entsteht weder Symmetrie noch Ordnung. Es fällt schwer, "Pacifica Koral Reef" in kohärente Abschnitte zu unterteilen, doch skippt man durch die Aufnahme, merkt man, dass sie sich keine drei Minuten am selben Ort befindet.

Schlussendlich stellt sich tatsächlich sogar etwas wie Harmonie in der bedrohlichen, aber irgendwie schönen Kulisse ein. Prominent hört man einen klaren, schillernden Synthesizer zwischen den abebbenden Hauptinstrumenten, man fühlt sich am Ende der knappen Stunde, als tauchte man tief ein und schließlich wieder auf, als kehre man zum flimmernden Licht der Oberfläche zurück. "Pacifica Koral Reef" soll auch ein Stück weit eine Aussage über die Umwelt sein, aber manchmal fällt es schwer, überhaupt so spezifisch darüber nachzudenken. Je öfter man es hört, fühlt es sich eher wie eine archetypische Meditation über das Meer an sich an: Seine Tiefe, seine Unergründlichkeit, seine Finsternis und seine Schönheit. Was auch immer man in dieser Platte sieht, wird letzten Ende völlig subjektiv sein. Die evokative Kraft dieser Improvisation sollte dennoch außer Frage stehen.

Trackliste

  1. 1. Pacifica Koral Reef

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