Porträt

laut.de-Biographie

BERWYN

"Nichts, das in meiner Karriere passiert ist, ergibt irgendeinen Sinn", wundert sich BERWYN und lacht dabei. "Ich glaube nicht, das ich irgendetwas besonderes bin – aber, verdammt, der Scheiß hier ergibt wirklich gar keinen Sinn!"

Doubletime-Rückblick: Donda, DOOM und DeutschrapMeToo
Doubletime-Rückblick Donda, DOOM und DeutschrapMeToo
Ein Jahr voller Bushido-Reklame, zimperlichen Rappern mit mimosigen Fans, Kollabos aus der Hölle, alles überschattet von der Astroworld-Tragödie.
Alle News anzeigen

Es klingt aber auch ein bisschen irre: Vom Einwandererkind ohne gültige Aufenthaltserlaubnis zum heißen Scheiß der Stunde, aus dem Nichts zu "Later .... With Jools Holland" und direkt weiter in Drakes Kontaktverzeichnis und auf die Watchlist der BBC für den "Sound of 2021" - so eine Story hört man wirklich nicht alle Tage.

Auch, wenn es sich so anfühlt: Natürlich kam Berwyn Du Bois nicht aus dem Nichts, sondern aus Trinidad. Hier wird er in eine ausgesprochen musikbegeisterte Familie hineingeboren. Der Vater, eigentlich Busfahrer von Beruf, arbeitet nebenher als DJ.

"Er saß immer auf der Veranda und hörte sein Motown-Zeug und seinen Soul", erinnert sich der Sohn. "Mit Hip Hop und Rap allerdings konnte er gar nichts anfangen. Er fand das vulgär. Er kam aus einer anderen Welt, in der sich alles um sweet music und Liebe und Romantik drehte. Für mich wurde es zu einer Art Mission, die Grenzen zwischen den Genres zu verwischen und Leuten wie meinem Dad dabei zu helfen, in allem etwas Schönes zu finden."

So weit sind wir allerdings noch nicht. Zunächst hört der kleine Berwyn, der selbst schon im Schulchor singt, also Papas Soul-Platten - und natürlich den in seiner karibischen Heimat allgegenwärtigen Soca. Dass ihm sein Vater Unterricht an der traditionellen Steel Pan aufdrängt, beurteilt er rückblickend gnädig: "Ich wurde in meinem Leben wahrhaftig zu schlimmeren Dingen gezwungen."

Lange währt das Idyll nicht: Als er neun Jahre alt ist, zieht Berwyn mit seiner Mutter nach Romford in den Osten Londons um. Es beginnt eine von unerfreulichen Erfahrungen geprägte Zeit. Das Grundproblem der Familie: der unsichere Aufenthaltsstatus. Wer nicht weiß, ob und wie lange er bleiben darf, hat kaum Perspektiven. Ohne die geht die Motivation flöten, etwas aus sich zu machen. Schlecht bezahlte oder gar keine Jobs führen in Armut, die wiederum zu dummen Entscheidungen verleitet ... ein Teufelskreis.

Berwyn erlebt, wie seine Mutter im Gefängnis landet. Zeitweise ist er obdachlos, schläft im Auto. Dazu kommen - bei einem schwarzen Jungen in einem weiß dominierten Umfeld nahezu unausweichlich - Erfahrungen mit Rassismus.

Obwohl ein guter Schüler, sieht Berwyn keine Zukunftsperspektive für sich. Ohne die nötigen Papiere steht ein Studium ohnehin außer Frage. Wozu sich also groß anstrengen? Er flüchtet sich in die Musik. Erst eine Lehrerin erkennt, mit welchem Talent sie es da zu tun hat. "Sie hat sich Zeit genommen und mir klar gemacht, dass ich trotz allem Möglichkeiten habe."

Um die Jungs wenigstens einen Abend in der Woche von der Straße und potenziellen Dummheiten fernzuhalten, nimmt sie Berwyn und einen Klassenkameraden wöchentlich in einem Club mit, in dem Folk gespielt wird. Außerdem bietet sie Berwyn die Möglichkeit, nach Feierabend am schuleigenen Computer zu basteln. Ein Hausmeister sieht ab und zu nach dem Rechten.

Unter diesen Bedingungen keimt ein musikalisches Multitalent. Inspiration holt sich Berwyn im britischen Musikfernsehen, das er bei seiner Tante kennenlernt, und über die wenigen CDs, die er sich leisten kann - von Mario, Chris Brown und 50 Cent. Berwyn schreibt und produziert allerdings bald seine eigenen Songs. Er rappt, singt und bringt sich autodidaktisch verschiedene Instrumente bei, darunter Gitarre, Violine und vor allem Piano.

Mit der Schulzeit enden jedoch die ohnehin schon beschränkten Möglichkeiten. Berwyn erlebt, wie seine Klassenkameraden zu den Universitäten entschwinden. Er selbst hat auch Empfehlungen für mehrere Studiengänge in der Tasche. Tatsächlich einen zu beginnen, das kommt wegen nach wie vor fehlender Aufenthaltsgenehmigung aber nicht in Frage.

"Ich wusste das ja, meine ganze Schulzeit hindurch", erinnert er sich im Interview mit The Line Of Best Fit. "Das Schlimmste daran ist, dass du mit niemandem darüber reden kannst. Du existierst als eine Art schmutziges Geheimnis, und das jedes Mal, wenn du das Haus verlässt. Ich fühle mit jedem Kind, das mit dieser Situation klarkommen muss, jeden Tag."

Berwyn schlägt sich mit Gelegenheitsjobs durch, arbeitet zeitweise in einem Sandwichladen in einem Krankenhaus. Immer stärker wird der Gedanke, er könne einfach nach Trinidad zurückkehren und dort noch einmal neu anfangen. Das Sprichwort von der Hoffnung, die zuletzt stirbt, scheint jedoch auf Berwyn gemünzt zu sein. "Du musst immer Hoffnung haben, das ist in jeder Lebenslage das Allerwichtigste."

BERWYN - Tape 2 / Fomalhaut Aktuelles Album
BERWYN Tape 2 / Fomalhaut
So hat sich R'n'B seit "Kiss Land" nicht mehr angefühlt.

Aus einer religiösen Familie stammend, findet er Trost im Glauben: "Ich habe mich daran geklammert, weil woran sollte ich auch sonst glauben? An Menschen? Menschen haben mich fallen gelassen, Menschen haben Entscheidungen getroffen, die mich in die Situation gebracht haben, in der ich mich befand. Wie könnte ich darauf vertrauen?"

In einer Art letztem Aufbäumen nimmt er 2018 in einem zweiwöchigen Kraftakt ein Demotape auf. Wo und wie das allerdings veröffentlichen? Kein Plan.

… irgendwo hier muss sich der eingangs erwähnte Wahnsinn vollzogen haben: Die Aufnahmen gelangen Richard Russell vom Label XL Recordings zu Ohren. Er holt den jungen Niemand für gleich mehrere Tracks auf sein Kollabo-Projekt Everything Is Recorded. Es folgen ein Deal mit Columbia und eine Single: "Glory" beschert Berwyn eine Einladung zu "Later ... with Jools Holland", wo er dem Song spontan noch einen weiteren Vers anhängt, der die weltweiten Black Lives Matter-Proteste zum Thema hat.

Der Track schlägt ein wie die viel strapazierte metaphorische Bombe. Radiomoderatorin Tiffany Calver wird auf den jungen Künstler aufmerksam, der seinen Namen - bereits jetzt mit vollem Recht - inzwischen in Großbuchstaben schreibt. Sie postet einen seiner Songs auf ihrem Instagram-Kanal, und einer ihrer Follower verlangt erst nach mehr, dann nach BERWYNs Telefonnummer. Wer sollte die verweigern - wenn es Drake ist, der da fragt?

"Ich war der allerpeinlichste Drake-Fan", erinnert sich BERWYN. "Aber ich war ja nicht mehr 17, ich bin reifer geworden, also dachte ich, ich sei etwas besser vorbereitet. Aber in dem Moment, als ich seine Stimme gehört habe ... Mann, habe ich 'vorbereitet' gesagt?! Vergiss es. Vergiss alles! In dem Moment, in dem ich bei dieser ersten Sprachnachricht auf Play gedrückt habe ... ich hab' dieses Gerede von weichen Knien früher nie verstanden. Ich hab' Play gedrückt - und war Gelee. Gelee durch und durch."

Prominenter Rückenwind schadet natürlich nicht, aber BERWYNS "Demotape / Vega" spricht für sich und befördert seinen Urheber, wie schon erwäht, Ende des Jahres auf die Watchlist der BBC für den "Sound of 2021".

Für den Nachfolger braucht BERWYN nicht sehr lange. Die anhaltende Corona-Pandemie hat seine Produktivität eher noch befeuert. "Ich habe gearbeitet wie ein Verrückter", erklärt er. "Jetzt sitze ich auf um die 400 Songs."

Davon eine Auswahl treffen: wahrscheinlich sein größtes Problem. "Das ist echt schwierig! Du steckst dein ganzes Herz in einem Song, und ein halbes Jahr später stellst du fest, dass du so viele geschrieben hast, dass die meisten gar nicht rauskommen werden ..." Luxusprobleme!

Auch sein zweites Tape hat BERWYN nach einem Stern benannt: eine treffende Metapher, die gut zu seinem kometenhaften Aufstieg, seinem Strahlen, aber auch zu der Einsamkeit und Kälte an der Spitze passt. Es trägt den Titel "Tape 2 / Fomalhaut"

BERWYN rekapituliert darauf weiterhin die Vergangenheit, die ihn geprägt hat, und wundert sich ein bisschen über die Gegenwart. Er richtet seinen Blick aber auch in die Zukunft: "Ich will einfach immer das verdammt Beste machen, das ich je gemacht habe. Ich weiß nicht genau, wie das aussieht - vielleicht wie ein Grammy. Ich könnte mir aber auch vorstellen, irgendwann Premierminister von Trinidad zu sein."

Wie erst es BERWYN mit einer Karriere in der Politik ist: Wir werden sehen. Eins jedoch stellt er gegenüber The Face noch klar: "Ich mag eine Menge morbider Geschichten zu erzählen haben - aber ich bin kein morbider Typ."

News

Alben

Surftipps

Noch keine Kommentare