laut.de-Kritik
Im Zug von Chicago nach Los Angeles.
Review von Giuliano BenassiWo liegt Rock Island? Die Suche nach der Antwort führte den britischen Barden Billy Bragg und den US-amerikanischen Indie-Produzenten Joe Henry auf eine Zugreise quer durch die USA.
Am 14. März 2016 bestiegen sie in Chicago den Texas Eagle. Im Gepäck hatten sie neben zwei Gitarren, einem Tontechniker und einem Kameramann auch einen abenteuerlich aussehenden Mikrofonständer und eine Liste an Stücken, die sie unterwegs aufnehmen wollten. Zeit, sie einzuüben, hatten sie in ihrem Schlafabteil genügend. Bragg schnappte sich die untere Koje, Henry musste sich mit der oberen begnügen.
Noch vor der Abfahrt nahmen sie im großen Saal des Chicagoer Bahnhofs das Stück auf, das Bragg ins Grübeln gebracht hatte. Jenes "Rock Island Line", das zum Repertoire Lead Bellys gehörte und später zu Lonnie Donegans erstem Hit wurde.
Eine produktive Session, die auch die nächsten zwei Stücke hervorbrachte. "The L&N Don't Stop Here Anymore" befasst sich mit dem wirtschaftlichen Untergang einer Region, in der nicht mal mehr der Zug hält, "Midnight Special" stammt erneut aus dem Repertoire Lead Bellys, der es im Knast lernte, als er wegen Mordes einsaß. Im Refrain hoffte er, von ebenjenem Zug angeschienen zu werden ("shine a light on, shine a light on me"), weil das als gutes Omen galt.
"Railroad Bill", die Geschichte eines Banditen, der die L&N ausraubte, nahm das Duo während eines kurzen Aufenthalts in St. Louis neben dem Zug auf. Etwas gemütlicher ging es bei Hank Williams' grandiosem "Lonesome Whistle" zu, das vor dem Schlafen gehen in ihrem Abteil entstand. "KC Moan" verewigten sie nicht im namensgebenden Kentucky, sondern in einem Park im Bahnhof von Fort Worth, Texas.
In San Antonio endete der erste Zug. Sie nutzten die Gelegenheit, um sich für eine Nacht ins Gunter Hotel einzumieten. Um zu duschen, sicherlich, aber auch wegen seiner musikalischen Relevanz. Denn in Braggs Zimmer, 414, hatte Robert Johnson 1936 seine ersten Aufnahmen gemacht. Allerdings wagten sie sich an "Waiting For A Train", ein Stück Jimmy Rodgers', der ab 1930 in dem Hotel lebte.
Am nächsten Morgen begaben sie sich in die Gepäckaufbewahrungshalle. Dort machten sie sich an Lead Bellys "In The Pines" (das auch Nirvana mit dem Titel "Where Did You Sleep Last Night" auf "Unplugged" spielten) und an John Hartfords Klassiker "Gentle On My Mind".
Weiter ging es mit dem Sunset Limited, der New Orleans mit Los Angeles verbindet. Sie dürften sich kaum wie jene sagenumwobenen Menschen gefühlt haben, die auf Güterzügen hopsten, um von A nach B zu kommen, doch nutzten sie einen der ersten Stops (Alpine), um Woody Guthries "Hobo's Lullaby" aufzunehmen.
Blieb noch Zeit für "Railroading on The Great Divide" (Carter Family, El Paso) und den Volksheden "John Henry" (Tucson), der es mit seinem Hammer mit einem Presslufthammer aufnahm, bevor der Zug um halb fünf Uhr morgens in Los Angeles eintrudelte. In der Halle nahmen sie sich noch Gordon Lightfoots "Early Morning Rain" an ("You can't jump a jet plane like you can a freight train"), bevor sie sich erschöpft verabschiedeten.
In einer gewissen Hinsicht begaben sich Bragg & Henry auf die Spuren von Alan Lomax, der in den 1930er Jahren mit einem Aufnahmegerät durch die ländlichen Regionen der USA reiste, womit der Untertitel dieses Albums ("Field Recordings From The Great American Railroad") erklärt wäre. Passend dazu auch die Ansagen, das Rattern des Zuges, das Klatschen gelegentlicher Zuhörer oder das Zwitschern von Vögeln, die im Hintergrund immer wieder zu hören sind und den Charme des Albums noch einmal verstärken.
Erkannt wurden die zwei übrigens nur einmal, erzählen sie süffisant - der Mikrofonständer sei viel interessanter gewesen als die zwei Straßenmusiker mit ihren Klampfen. Durch Rock Island, eine Stadt am bzw. im Mississippi, hat sie ihre Reise nicht geführt. Hoffentlich ein Grund, irgendwann zu einer weiteren musikalischen Reise dieser Art aufzubrechen.
Noch keine Kommentare