laut.de-Kritik

Ein Mittelfinger an TikTok.

Review von

Muss ein Album den eigenen Fans gefallen? Hayden Anhedönias Kampf mit den Früchten ihres Erfolgs war im letzten Jahr oft gezeichnet von Müdigkeit und einer explosiven Entnervtheit. Immer wieder zeigte sie sich unglücklich über die Art und Weise, wie viele der Menschen, die sie binnen weniger Monate an die Speerspitze einer neuen Generation an Indie-Artists katapultieren, ihrer Kunst begegnen. "Preacher's Daughter" öffnete die Tür für Heerscharen neuer Fans, aber sorgte ihr zufolge auch für den Verlust der Ernsthaftigkeit im Umgang mit ihrer Musik. Der zuvor intime Austausch mit ihren Followern wich schnell einem viralen Mahlstrom an Memes, Inside-Jokes und Stan-Lingo, die die Lore eines verwinkelten Albums über den Verlust der amerikanischen Unschuld nur zu gern auf einen simplen "Mother!"-Tweet herunterbrachen.

So kommt es auch nicht besonders überraschend, dass ihr Follow-Up zu diesem Album einen milde gesagt kontroversen Haken schlägt. Obwohl Ethel Cain beteuerte, dass ihre Liebe für die Genres, die sie auf "Perverts" ausleuchtet der alleinige Motivator hinter diesem Projekt sei, nimmt sie die zweite Fliege, die sie mit dieser Klappe schlägt, bestimmt gerne in Kauf. Denn während die Ästhetik ihres Vorgängers auf den Social Media-Profilen von True Crime-Enthusiasten und Gen Z-Indieheads einen nur allzu fruchtbaren Boden fand, dürften sich jene Profile zu den Klängen von "Perverts" spontan selbst entzünden.

Fühlte sich "Preacher's Daughter" ein wenig an wie Luca Guadagninos Film "Bones And All", lässt sich "Perverts" am ehesten mit dem experimentellen Analog-Horrorfilm "Skinamarink" vergleichen, der sich vor zwei Jahren auf die große Leinwand verirrte. Die monumentalen Songlängen mancher Tracks wirken auf dem Papier einschüchternd genug, bevor man realisiert, dass hier keine Crescendos, komplexe Arrangements, klassische Hooks oder überhaupt Gesang auf einen warten.

"Perverts" besteht zu großen Teilen aus Ambient-Drone und gleicht mehr dem Soundtrack eines fiktiven Horrorfilms als einem Indie-Album. Nicht minder als diese Tatsache überrascht jedoch, dass Cain diesen Left-Turn mit Bravour meistert. Die Genres, denen sie hier fast neunzig Minuten einräumt, definieren sich vor allem über Atmosphäre und Stimmung, und auf "Perverts" geraten diese geradezu erstickend.

Als hätte man die instrumentalen Momente ihres Debüts in einen dunklen Keller gesperrt und gewartet, bis sie sich langsam an die Dunkelheit gewöhnen. Musik, die bewusst herausfordert und unter die Haut geht. Die das Schwarz um einen herum noch ein wenig schwärzer, und die Schatten noch ein wenig lebendiger macht.

Der Titeltrack begrüßt uns mit einer verzerrten Version eines christlichen Chorals, die wie eine stotternde Radioübertragung durch eine leere Kirche hallt, ehe eine ominöse Drone sie gänzlich schluckt und über Minuten in Zeitlupe verdaut. Hintergründig flirrt etwas, Geräusche von pervertierten Field Recordings echoen durch das Klangbild wie Wasser, das durch rostige Kellerrohre rumpelt. Instrumente stöhnen wie alte Maschinerie. Ab und zu drängt sich die Drone wie eine Alarmsirene in den Vordergrund, die gepaart mit Cains spärlichen, gesprochenen, und kaum auszumachenden Worten ein unausweichliches Gefühl von Furcht auf die Schultern legt. Und am Ende: Nichts. Keine Explosion, kein Grande Finale, einfach nur die Schwere der plötzlichen Stille. "Perverts" öffnet mit einer musikalischen Séance, die mit voller Absicht die Aufmerksamkeit sämtlicher böser Geister auf sich zieht. Die finalen Worte klingen wie eine Drohung: "It's happening to everybody."

Auf anderen Drone-Pieces wie "Houseofpsychoticwomn" und dem Centerpiece "Pulldrone" spielt Cain mit anderer Instrumentation, die dem Album weitere Dimensionen der Düsterheit verleihen. Ersteres klingt, als sei man im Schleudergang der Waschmaschine von Baba Yaga gefangen. Ein Ton, als hätte sich ein Dudelsack aufgehängt, versteckt sich hinter einem musikalischen Strudel, der sich stetig abwärts dreht, bis einem übel wird. Immer wieder ist ein geplagtes Stöhnen wahrnehmbar, kontrastiert von Cain selbst, die wie unter Hypnose stumpf die Phrase "I love you" wiederholt, als sei diese Affirmation das letzte, was sie davon abhält, vollends ihren Verstand zu verlieren. Ein Song, der sich wie Fallen in absoluter Finsternis anfühlt.

"Pulldrone" lässt sich ein wenig mehr Zeit, bis er seinen Trick aus der Kiste lässt. Cain spricht ein langes Intro, während hintergründig bereits eine gesprungene Geige darauf wartet, sich in die erste Reihe unseres Trommelfells zu drängeln. Erstmal da angekommen, surrt das Instrument volle zehn Minuten vergebens um Hilfe. Es klingt wie das Klagelied eines ganzen Friedhofs, gleichermaßen durchbohrend und omnipräsent, wie zutiefst traurig und intim. Kaum ein anderer Song der LP evoziert solch lebendige Bilder von Verfall, von leerstehenden Häusern und der Einsamkeit, die in jedem einzelnen verbliebenen Zentimeter Holz wohnt. Man sieht die Montage förmlich vor dem eigenen Auge. Vorbei an knarrenden Dielen, rachsüchtigen Nägeln und schimmelnden Vorhängen auf der Suche nach irgendetwas, das Hoffnung macht. Doch bevor man den rettenden Sonnenstrahl fassen kann, fällt die Tür ins Schloss.

Inmitten dieser ausdauernden Meditationen, die sicherlich für viele die größte Herausforderung darstellen dürften, finden sich auch einzelne Fragmente, die an klassische Ethel Cain-Songs erinnern. Die Lead-Single "Punish" etwa löst die allgegenwärtige Bedrohlichkeit des Openers mit tonnenschwerer Melancholie ab. Nach zwölf Minuten schleichender Stimmungsmache tönen die plötzlich glasklar erklingenden Tasten der emotionalen Klaviatur, umso niederschlagender. Der Song gehört zum besten Material, das Cain bislang veröffentlichte und fühlt sich an, als würde man versuchen, die Slowcore-Balladen von "Preacher's Daughter" in Teer zu ertränken. Ein langsames, widerstandloses Versinken, das nur die grölenden Gitarren beweinen, die in der zweiten wie Abrissbirnen auf die eigenen Tränensäcke donnern.

Der zugänglichste Song der LP "Vacillator" hält als einziger Song Percussion bereit, reduziert das restliche Klangbild allerdings nochmals weiter. "If you love me, keep it to yourself" flüstert Cain immer wieder über einen hypnotischen Folk-Rhythmus, der sich wie ein Stripease in einem David Lynch-Film anfühlt. Gleichermaßen verführerisch wie tieftraurig. Ihre Stimme klingt wie ein entferntes Echo, das durch kalte Mauerwerke hallt, ihre Worte gleichen einer Mahnung, die zu spät kommt. Wie auf "Punish" werden hier die Themen von WPervertsW auch abseits der dichten Atmosphäre (und des wenig subtilen Titels) greifbar, wenn Cain die Scham die in den düsteren Ecken unserer eigenen Gefühlswelt lauert, eine Stimme gibt.

So sehr sich "Perverts" auf den ersten Blick wie ein gewollter Sprung in die entgegengesetzte Richtung anfühlt, so lassen sich viele Momente des Projekts durchaus wie eine sinnige Progression früherer Ideen Cains lesen. Viele der überwiegend instrumentalen Songs wirken wie ausgefeiltere, mutigere Versionen der Interludes auf WPreacher's DaughterW. "Onanist" etwa rückt stellenweise fast schon in Post-Rock-Gefilde vor, und bebildert eindrucksvoll den Akt der Masturbation nahezu ohne Worte als etwas gleichermaßes Wundervolles, wie zutiefst Schamvolles. Immer lauter grisseln die Gitarren, bis sie am Höhepunkt explodieren, fast kippt das Klangbild in etwas euphorisch, ehe ein kalter Weg jegliche Ekstase hinwegbläst und die Worte "It feels good", die Cain wie ein Mantra herunterbetet, mit jeder Wiederholung weniger wie eine Erkenntnis und mehr wie eine Beichte klingen lässt.

"Etienne" tönt wiederum wie ein Epilog zu "Pulldrone", der wehmütige Abschied von einem alten Leben das nicht mehr existiert, die Aufgabe der Jagd nach dem Sonnenlicht, ein letztes Mal träumen, bevor "Thatorchia" den Synapsen wieder das Licht ausknipst. Mit anhaltender Laufzeit werden die Instrumentals detaillierter. Der Horror weicht der Traurigkeit, die Furcht der Scham, bis das finale, wunderschöne "Amber Waves" den Vorhang lüftet, und der geschundenen Seele einen Hoffnungsschimmer gewährt. Nach über einer Stunde inmitten von rabenschwarzer Sehnsucht, Höllenfeuer und Selbstaufgabe, heißt man das Stück Menschlichkeit, das Cain hier exorziert, mit offenen Armen willkommen. Wer hier jedoch eine Katharsis im Stile von "Preacher's Daughter" erwartet, den lässt Cain mit der Konklusion im Regen stehen. Sechs Minuten einsame Gitarren-Akkorde, gefolgt von einem robotischen "I can't feel anything". Der Kreis schließt sich von neuem, der Oroborus verschlingt erneut seinen Schwanz: "It's happening to everybody"

Das Erstaunlichste an "Perverts" ist nicht, dass Ethel Cain diesen musikalischen Schritt geht, sondern die Selbstsicherheit, mit der sie es tut. Es wäre nur zu leicht gewesen, nach "Preacher's Daughter" zehn weitere "American Teenager" zu schreiben und bald neben Boygenius Indie-Festivals zu headlinen. Stattdessen dieses Album zu machen, zeugt von einem artistischen Selbstbild, das die eigene Vision so meilenweit vor alles andere stellt, dass man sich davor verbeugen möchte. Darüber hinaus bringt Ethel Cain mehr als genug Talent mit, dass sie sich sicher sein kann, dass ihr Fans folgen werden, egal in welche Tiefen sie diese Vision zukünftig noch führen wird. Vielleicht nicht alle, aber ich bin mir sicher, dass dieser Nebeneffekt durchaus willkommen ist.

Trackliste

  1. 1. Perverts
  2. 2. Punish
  3. 3. Houseofpsychoticwomn
  4. 4. Vacillator
  5. 5. Onanist
  6. 6. Pulldrone
  7. 7. Etienne
  8. 8. Thatorchia
  9. 9. Amber Waves

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