laut.de-Kritik

Als die Bilder tanzen lernten ...

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1982 steckte das Musikfernsehen noch in den Kinderschuhen. Zwar wurde jenseits des großen Teiches die neue Dekade mit der Premiere des ersten Musikfernsehsenders der Welt gefeiert. Die Europäer mussten sich jedoch noch weitere sieben Jahre gedulden, bevor MTV den Sprung über den Atlantik wagte. Ein Entwicklungsland in Sachen bebilderter Musik war Europa zu jenem Zeitpunkt aber längst nicht mehr. Bereits Mitte der 70er Jahre erkannten einige Kreativköpfe die Wirkungsmächtigkeit, die aus der Verbindung von Musik und Bild erwuchs.

Die Sheffielder Industrial-Pioniere Cabaret Voltaire um ihren Mastermind Richard H. Kirk zählen neben Throbbing Gristle und SPK zu den frühen Protagonisten des Mediums Musikvideo. Sie dürfen sich das Verdienst zuschreiben, Musik und Bilder im Popkontext zusammengeführt und den Bildern dabei gleichzeitig eine Schlüsselrolle im ästhetischen Gesamtkonzept zugewiesen zu haben. Der Grund hierfür findet sich im performativen Charakter, den die Liveshows der Industrial-Veteranen hatten.

Hier flossen Musik, Film, Theater und Performancekunst von Beginn an zusammen und schwollen etwa bei Throbbing Gristle zu einer apokalyptischen Informationslawine aus verzerrten Noisesounds, panischen Schreiorgien, widerlichen Kastrationsszenen und verstörendem Blitzlichtgewitter an. Ganz so extrem wie die Industrial Erfinder um Genesis P.Orridge geben sich Richard H. Kirk, Steven Mallinder und Chris Watson nicht.

Natürlich sind die Bildwelten von Cabaret Voltaire zumeist in schlichtem Schwarz-Weiß gehalten, doch schrecken sie vor ganz üblen Schockern im Stile von TG zurück. So zappeln auf dem 1982 produzierten Video sich selbst kasteiende Derwische über den Bildschirm, oder Fluchtversuche an der Berliner Mauer werden einer medialen Zweitverwertung zugeführt. Stets ist jedoch der künstlerische Charakter der Bildcollagen dominant. Nie werden gesellschaftliche Wertsetzungen derart offensiv attackiert wie bei Throbbing Gristle.

Fast in Vergessenheit gerät bei all dem, dass sich auf "Double Vision Present: Cabaret Voltaire" einige der größten Hits des Sheffielder Trios finden. "Nag Nag Nag", das jüngst von Akufen und Tiga & Zyntherius in Form gebracht wurde, fehlt hier genauso wenig, wie "Walls Of Jericho", "This Is Entertainment" oder "Obsession". Die nicht ganz zeitgemäße Bild- und Tonqualität ist dem Zeitgeist des Dokuments geschuldet und stört nicht wirklich. Wer sehen möchte, wie die Bilder erste zögerliche Tanzschritte zur Musik von Popkünstlern machten, der wird auch so an "Double Vision Present: Cabaret Voltaire" Gefallen finden.

Trackliste

  1. 1. Diskono
  2. 2. Obsession
  3. 3. Trash Part 1
  4. 4. Badge Of Evil
  5. 5. Nag Nag Nag
  6. 6. Eddies Out
  7. 7. Landslide
  8. 8. Photophobia
  9. 9. Trash Part 2
  10. 10. Seconds Too Late
  11. 11. Extract From Johnny YesNo^
  12. 12. Walls Of Jericho
  13. 13. This Is Entertainment
  14. 14. Moscow

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