laut.de-Biographie
Current 93
Current 93 sind ein Phänomen. Ein einheitlicher musikalischer Stil existiert nicht. Kommerzieller Erfolg bleibt seit Jahrzehnten aus. Und dennoch genießt das Projekt um Mastermind David Tibet weltweite Anerkennung und Verehrung in Künstlerkreisen, bei den Medien und den treuen Fans.
Der Komponist, Autor, Maler und Labelgründer ist damit eine Art Woody Allen der Musikszene. Geld macht er wenig mit seiner Kunst. Doch sobald er ruft, eilen sie alle herbei. Egal, ob Nick Cave, Will Oldham alias Bonnie "Prince" Billy, Björk, Marc Almond oder Kultstar Antony Hegarty, den Tibet einst entdeckt hat.
Als Ableger der frühen britischen Industrial-Bands Throbbing Gristle und Psychic TV im Jahr 1980 von David Tibet, Christoph Heemann und John Balance von Coil gegründet, gerät Current 93 über die Jahre zu einem der produktivsten und vielseitigsten Acts jenseits aller Genregrenzen.
Die ersten Releases wie "Nature Unveiled", "Dogs Blood Rising" oder "Live At Bar Maldoror" leben allesamt von den düsteren Ambient-Landschaften, deren von mittelalterlichen, gregorianischen Chorälen durchsetzte Weltuntergangsstimmung sie schnell zu Klassikern der Noisemusik werden lässt.
Ab Mitte der 80er treten dann Tibets Vorliebe für Buddhismus, Hinduismus, Juden- und Christentum immer mehr in den Vordergrund, vermischt mit der alten Vorliebe für Okkultes wie Crowleys Thelema. Seine poetischen Lyrics sind fortan der Kristallisationspunkt, um welchen herum sich das zunehmend melodische Universum von Current 93 organisiert.
Die Texte verknüpfen gern verschiedene Religionen und Mythen miteinander. Ebenso integriert Tibet kulturelle Aspekte alter indischer und chinesischer Gesellschaften. Zerstörung, Tod, Mutation und Apokalypse mischen sich in drastisch bildhaften Schilderungen mit strahlender Erlösung und anmutiger Schönheit.
Mehr und mehr kommen nun auch akustische Instrumente zum Einsatz, ersetzen ihre elektronischen Vorgänger und machen Current 93 neben Death In June zu den Protagonisten der entstehenden Neofolk-Szene. Das 92er Album "Thunder Perfect Mind" gilt als Höhepunkt dieser Entwicklung. Die neuen amerikanischen Folk-Künstler wie Devendra Banhart, CocoRosie oder Conor Oberst bringen dem Werk und Tibet persönlich eine fast Guru-artige Verehrung entgegen.
Das künstlerische Fortschreiten und stetige Verändern des Stils bleibt getreu der tibetschen Philosophie hiervon vollkommen unberührt. In den 90er Jahren erfährt die hohe Produktivität von Current 93 durch Tibets gesundheitliche Probleme einen leichten Dämpfer. Stilistisch wendet er sich vermehrt der Klassik und dem Chanson zu.
Die minimalistischen Arrangements - meist nur ein Piano - verleihen der Poesie eine fast hypnotische Deutlichkeit und Intensität. Die Entdeckung der Sanftheit im Vortrag unterstreicht die warme eindringliche Klangfarbe seiner Stimme optimal.
In diesen Tagen lernt Tibet den Straßenmusiker Antony Hegarty kennen. Fasziniert von der charismatischen Engelsstimmme bietet Tibet ihm einen Plattenvertrag auf dem kleinen Current-Label an und produziert das Debütalbum von Antony. Gemeinsame Liveauftritte der beiden einzigartigen Künstler folgen und geraten zu umjubelten Messen großer Liedkunst.
Das Kultivieren dieses schöngeistigen Status' ist jedoch nicht Sache des in Malaysia aufgewachsenen Briten. Nach dem 2006 gefeierten Allstar-Album "Black Ships Ate The Sky" wirft Tibet das Current-Konzept erneut komplett um. Krautrockige Fuzzgitarren und metallische Riffs zersägen und sezieren die ehemals reinen Kammermisik-Strukturen.
Das Album "Aleph At Hallucinatory Mountain" bedrückt und befreit den Hörer zu gleichen Teilen. Zu dem brachialen Klangbild gesellt sich ein teils geifernder, fast kreischender David Tibet. Hernach weitet sich der Projektcharakter mit wechselnden Besetzungen und vielen Gästen deutlich aus. Steven Stapleton (Nurse With Wound) und Pianist Michael Cashmore steigen zwar nicht offiziell aus, bleiben gleichwohl außen vor. Dafür gewinnt Andrew Liles als Mitarrangeur und Mitproducer deutlich an Gewicht. Das zahlt sich bei Abmischungen und Sound der folgenden Platten deutlich aus.
2014 folgt mit "I Am The Last Of All The Field That Fell" ein weiteres Highlight. Auf der Gästeliste stehen Antony/Anohni, Nick Cave und erstmals auch der New Yorker Avantgarde-Guru John Zorn. Vier Jahre später erscheint - ganz und gar ohne Schaulaufen von Superstars - das herausragende "The Light Is Leaving Us All". Hier kehrt Tibet erstmals seit langem wieder zurück zum Neofolk und reanimiert etliche Symbole seines Backkatalogs.
So bleibt Tibet unberechenbar wie eh und je. Die Konstante bei Current 93 ist die stetige Veränderung und Häutung des eigenen Schaffens. "Was mich an dieser Welt immer interessiert und fasziniert hat, sind die verschiedenen Gesichter des großen Mysteriums, das die Mitte unserer absoluten Alltagsbanalität umkreist."
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