laut.de-Kritik
Willkommen in Europa. Hier feiern noch alle zusammen.
Review von Michael SchuhSchon der Titel ist ein Statement: "Live In Europa". Nicht etwa "Live In Esslingen", das Dokument eines Heimspiels also, wie es dieser bodenständigen Band auch zuzutrauen gewesen wäre. Nein, Die Nerven sind herum gekommen in den letzten Jahren, sie veröffentlichen jetzt bei Glitterhouse, einem Label, bei dem man Helmet oder Mudhoney mitdenken darf.
Willkommen in Europa. Kann man auch politisch deuten. Bei einem Livegig der Nerven bricht nämlich nichts auseinander, da wird niemand vor die Tür gesetzt, da greift ein Teilchen ins andere und es entsteht ein Zusammengehörigkeitsgefühl. Den Augenblick feiern. Nur eine Minute schweben. Oder wenigstens ein ganzes Konzert lang.
Möglichst laut, möglichst viel Lärm, an den Grundkoordinaten, die Basser Julian Knoth zu Karrierebeginn 2010 als Devise ausgab, hat sich bis heute nicht so viel geändert. Dicht, massiv, atonal, harmonisch, oft bedrückend, immer deep: Diese drei fucking Burschen from Stuttgart haben den Dreh eindeutig raus. Da erzählt man ihren Konzertbesuchern natürlich nichts Neues.
Der stets leicht fiebernde Sänger Max Rieger, der dazu als Kontrast wirkende Ruhepol Knoth und der manische Drummer Kevin Kuhn im Rücken beider: Die Nerven live sind ein echtes Erlebnis, das eine Aufnahme hinreichend rechtfertigt. Wer die Band nicht kennt, mag mit den Studioalben besser versorgt sein, für die sich immer vergrößernde Fangemeinde ist "Live In Europa" ein Muss. Eine Preaching-to-the-converted-Nummer, die sicher auch erklärt, warum die Show nicht auf CD erscheint, sondern auf 3000 limitierte Vinyl-Versionen (180g, 2LP) plus Streaming.
Ein Konzert mit den beiden letzten Album-Openern "Die Unschuld In Person" ("Out") und "Albtraum" ("Fun") zu beginnen, ist an sich schon eine Ansage, aber Die Nerven legen danach mit dem aufrüttelnden "Hörst Du Mir Zu?" praktisch noch eine Kelle drauf.
Lange Instrumentalpassagen prägen hier und da die Liveversionen, denen die Freude am präzise getimeten Jam anzumerken ist. Bloß kein hippieskes Gedudel, das nächste Break kommt schneller als du denkst! Songs wie "Jugend Ohne Geld" legen live sogar noch an Intensität zu, auch mein Favorit "Dreck" knallt ordentlich.
"And now to something completely different" kündigt Rieger dann das Joy Division-Cover "No Love Lost" an. Spezialistenstoff selbstverständlich: Der Song ist nicht auf den offiziellen zwei LPs der UK-Postpunk-Legenden, sondern auf der frühen EP "An Ideal For Living".
"Unserer Meinung nach ist es ein schönes Zeitdokument geworden; es handelt sich hier um die letzte und definitive Möglichkeit dieses Set zu hören", bewirbt das Trio die Doppel-Scheibe. Die Live-Qualitäten der Gruppe sollte man sich jedoch auch mit kommenden Veröffentlichungen im entsprechenden Clubumfeld zu Gemüte führen.
3 Kommentare mit 15 Antworten
Ich versteh' den Vinyl-Hype nicht so recht und hätte lieber eine (Doppel-) CD für den halben Preis genommen.
Ansonsten, tolle Band und feine Live-Versionen: 4 Sterne passt!
Ich versteh' den "Die Nerven"-Hype nicht so recht. Außer vielleicht, dass sie medial und musikalisch kontinuierlich wie ungewollt zur Verbform ihres Namens aufleben?
Rieger wäre m.E. besser gefahren, hätte er sich von Otremba noch ein paar Bilder malen lassen und diese dann als Artwork für seine kommenden "All diese Gewalt"-Veröffentlichungen genutzt, während er weiter alleine sein Ding macht und auf die anderen beiden nutzlosen Allerweltsgestalten bei Die Nerven scheißt.
welcher "NERVEN"-Hype?
Kann sein, dass ich da inzwischen ne sehr begrenzte Sicht drauf habe, die kommen aber m.E. bei den üblichen Verdächtigen der deutschen Musikpresse durch die Bank überschwänglich positiv weg, oder nicht? Sogar Borcholte bei bei SPON hofiert die doch, meine ich?
Gerade die "All diese Gewalt"-Platte hat speziell mir offenbart, dass Rieger die anderen Honks gar nicht braucht, um im Hörer das von ihm scheinbar gewünschte Gefühl auszulösen. Schlimmer noch: Im Vergleich dazu wirken die Gestalten bei "Die Nerven" wie unnötiger Ballast statt als tragfähiges musikalisches Fundament...
"Kann sein, dass ich da inzwischen ne sehr begrenzte Sicht drauf habe, die kommen aber m.E. bei den üblichen Verdächtigen der deutschen Musikpresse durch die Bank überschwänglich positiv weg, oder nicht?"
das kommen radiohead auch.
hype definiert sich doch m.E. eher durch überbordende berichterstattung. die ist aber bei den nerven ansich nicht festzustellen. pokemon go war ein hype, zzt. diese komischen drehdinger der kiddies. aber doch nicht "die nerven".
Nun ja, vielleicht spielt bei denen auch nur die Nische eine so große Rolle bei der Bewertung. Gute, verkopfte (zeitweise "härtere") Gitarrenmusik mit nicht zu plumepen deutschen Texten ist halt ein so dünn besiedeltes Genre, dass es derzeit scheinbar völlig ausreicht, als Band zu existieren, um innerhalb des Genres von der versammelten Musikkritik zu "den Besten" gezählt zu werden.
Ach, egal. Ich finde Messer eh viel besser. Und selbst die nicht mehr so sehr, seit sie sich mMn recht kümmerlich in "The Messer" umbenannt haben. Das klingt so furchtbar dilettantisch nach Abi-Band.
*plumpen
"Nun ja, vielleicht spielt bei denen auch nur die Nische eine so große Rolle bei der Bewertung. Gute, verkopfte (zeitweise "härtere") Gitarrenmusik mit nicht zu plumepen deutschen Texten ist halt ein so dünn besiedeltes Genre, dass es derzeit scheinbar völlig ausreicht, als Band zu existieren, um innerhalb des Genres von der versammelten Musikkritik zu "den Besten" gezählt zu werden."
gebe ich dir vollkommen recht.
finde aber die nerven, van holzen oder isolation berlin in der tat musikalisch recht ansprechend.
Bei Van Holzen und Isolation Berlin finde ich paar Sachen auch ganz ansprechend. Messer haben jetzt zwei wirklich gute Alben in Folge geliefert.
Weiß auch wirklich nicht, warum "Die Nerven" nicht bei mir zünden wollen. Das traditionelle "Glitterhouse"-Label ist in meinem Regal auch auffallend häufig vertreten, und für Lines wie "Jeder Traum eine Falle / Jedes Trauma eine Farce" vom "All diese Gewalt"-Album kann ich Rieger auch echt angemessen feiern, aber nach wie vor regt sich bei mir wenig bis nichts, so oft ich "FUN" oder "OUT" auflege und nach 3-5 Tracks hab ich mehr Lust auf was anderes.
Hast du die Jungs schonmal live gesehen?
Bei deren Auftritt in Hamburg vor ... 2(?) Jahren war ich hin und weg. Deren Lieder wirken auf der Bühne verdammt gut
@corou
Nei, ich gebe zu, das steht noch aus. Und das kann meine Meinung zu Bands auch krass verändern. Aber für's Einzelkonzert war ich zu wenig angefixt und ne Festivalkonstellation inklusive meiner Anwesenheit hat sich die letzten 2 Jahre auch noch nicht ergeben. Hab aber auch vor dir noch nie von jemandem die direkte Empfehlung hinsichtlich deren Live-Fähigkeiten bekommen.
live sind die auf jeden Fall stark und leider wurde das nicht wirklich auf dieser Live-Veröffentlichung aufgefangen.
als ich die nerven beim puls-festival in erlangen live zum ersten mal gesehen hab...ähm erlebt hab...war das für mich echt ne offenbarung! hab schon oft gelesen und gehört, dass die gut sein sollen, und ich dacht mir: mal schauen...und ich hab noch nie einen live-sound so wuchtig, aber auf den punkt gespielt erlebt, v.a. bei "angst". das fand ich aufm album als ein ganz gutes punk-stück, aber live...ja himmel, live jagen die das stück durch den raum, das haut einen fast um, genau wie einiges anders "der letzte tanzende", "blaue flecken".
Wenn ich mir die Frage stelle, warum ich die eigentlich so gut finde...fällt mir keine richtige "Begründung" ein, es ist glaub ich v.a. diese unheimliche Intensität und Wucht und gleichzeitige Präzision, mit der sie eigentlich recht einfache (gerade das sind doch die kunstvollsten) Melodien zum klirren bringen
Riegers Soloprojekt sagt mir auch mehr zu als Die Nerven aber ich denke, dass er die Band als kreativen Output braucht, um in seinem Soloprojekt dann genau solche tollen Lieder zu schustern.
Und souli, warum so aggressiv gegenüber den beiden anderen der Band? Das ist dann doch übertrieben.
Ach, und ich muss noch kurz die Geekbrille aufsetzen:
helmet waren nie offiziell bei Glitterhouse, sondern bei Amphetamine Reptile Records. Die wiederum kooperierten bis 1995 mit Glitterhouse hinsichtlich des deutschen Vertriebs. Ganz anders als bspw. Monster Magnet, die tatsächlich mit ihrer allerersten EP "Monster Magnet" ein Glitterhouse-Signing waren, jedoch mit dem ersten Funken Erfolg im Rücken sofort zu Caroline Rec. (USA) wechselten.
Selbiges gilt i.Ü. bei genauerer Betrachtung für Mudhoney, welche nur in D über Glitterhouse vertrieben wurden, da letztere bis Anfang der 90er offizielle europäische(!) Dependance für Subpop waren.
Entsprechend tauchen die Vertriebs- und Dependance-Geschichten auch nicht im Backkatalog von Glitterhouse auf.
/geekmode off
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zerstör nich den flow, mann
...aber Füchse sind gar keine Rudeltiere!