laut.de-Kritik
Die New Yorker ziehen alle Register ihres Könnens.
Review von Michael EdeleWer mitreißende Musik sucht, die mit tollen Melodien, atemberaubenden Arrangements und einigen Überraschungen aufwartet, liegt mit "Systematic Chaos" schon mal nicht schlecht. Wer hätte erwartet, dass der Opener "In The Presence Of My Enemies Pt.1" geschlagene fünf Minuten als Instrumental durch die Speaker zischt, ehe James LaBrie zum ersten Mal einen Ton hören lässt? Die vier Herren an ihren Instrumenten ziehen in den fünf Minuten natürlich schon mal alle Register ihres Könnens und decken zwischen komplex verspielt und atmosphärisch eingängig alles ab.
Atmosphärisch, aber mit gesunder Härte klingt es auch, wenn James zum Micro greift, hält er sich gesanglich doch durchgehend in mittleren Tonlagen auf. Die hohen Sachen scheinen den Vergangenheit anzugehören, denn auch "Forsaken" kommt ohne Sackspalter aus. Die Halbballade ist weiß Gott nicht schlecht, rangiert aber sowohl auf dem Album, als auch in der kompletten Diskographie höchstens im Mittelfeld. Stilistisch vielleicht am ehesten zu "Images And Words" passend, vermisst man bei der Nummer den zündenden Funken, der den Song zum großen, akustischen Erlebnis macht.
Dafür setzt "Constant Motion" gleich mal ein deutliches Zeichen in Sachen Härte. In der einsetzenden Strophe macht uns LaBrie doch direkt mal den Hetfield, und auch wenn die Gitarre von John Petrucci ordentlich sägt, ist der Sound doch ein wenig zu warm, um wirklich aggressiv zu sein. Allerdings passt Mike Portnoy sein Drumming so weit wie möglich an und spielt weitgehend simpel und straight. Außerdem singt er zahlreiche Strophen mit James im Wechsel oder gemeinsam. Allerdings setzt "The Dark Eternal Night" in Sache Heavyness noch einen drauf. Nicht nur was Gitarren und Drums angeht, sondern auch und vor allem in Bezug auf den teilweise verzerrten Gesang. Der Chorus ist aber wieder ein Paradebeispiel für eine Melodie.
Von einer deutlich ruhigeren, sanfteren Seite zeigen sich die fünf New Yorker anschließend bei "Repentance". Der Song ist auf wesentliche Melodien reduziert und klingt somit stellenweise fast schon spartanisch für Dream Theater-Verhältnisse. Textlich arbeitet Mike damit die Stufen acht und neun des zwölf-stufigen Programms der Anonymen Alkoholiker auf. Die im Mittelteil zu hörenden Sprachsamples sind somit wohl so was wie die typischen Statements von inzwischen trockenen Alkoholikern. Das mag hier beim Lesen vielleicht nicht sonderlich aufregend klingen, jedoch entfacht der Song nicht nur unterm Kopfhörer seine ganz eigene, entspannende Wirkung.
"Prophets Of War" stellt manchen Fan womöglich auf eine harte Probe, sind die elektronischen Komponenten hier doch deutlich in der Überzahl. Wer sich stellenweise an Muse erinnert fühlt, muss nicht direkt sein Kleinhirn überprüfen lassen - Parallelen sind hier definitiv vorhanden. Ob einem das schmeckt, muss man selbst beurteilen.
Ich persönlich skippe lieber zu "The Ministry Of Lost Souls" weiter und gebe mich einem klassischen Soundtrack-Intro hin, das 15 Minuten Kopfkino par excellence einläutet. Auch wenn es ziemlich genau zur Hälfte der Nummer härter wird, wenn die Solo-Eskapaden starten, so bringen Dream Theater den Song doch zu einem versöhnlichen Abschluss.
Auch das abschließende "In The Presence Of Enemies Pt.2" beginnt ruhig, allerdings spürt man schon von Anfang an, dass dies nur die Ruhe vor dem Sturm ist. Da braut sich was zusammen - nach den ersten vier Minuten haben sich die dunklen Wolken zum ersten Mal verdichtet, und man zieht den Kopf zwischen die Schultern. Einzelne Melodien aus dem ersten Teil zu Beginn des Albums werden wieder aufgegriffen, doch alles hat einen bedrohlicheren Unterton. Kurz gesagt, der Song bietet einmal mehr alles, was die Band ausmacht und was man von ihr erwartet.
Da zumindest ich bei Dream Theater immer auf musikalische Genialität mit mindestens einem gewissen Schuss des ganze Besonderen und Unerwarteten spekuliere, muss es dieses Mal bei vier Punkten bleiben. Die beiden letzen Wünsche sind auf "Systematic Chaos" leider ein wenig unbefriedigt geblieben, und auch mancher Song bleibt etwas hinter den Erwartungen zurück.
92 Kommentare
eine der wenigen wirklich treffenden kritiken auf laut.de...
Wow, Nuno Junior, geh wieder nach Hause...
@topic: Geile Review, bestimmt hammerharte Scheibe. Die liegt zuhause und wartet auf mich. Schön blöd, dass ich 600 Kilometer von diesen heissen Tracks entfernt bin, aber man weiss ja: Vorfreude und so...
Danke, Edele!
Da muss ich tatsächlich erst von Laut von der Platte erfahren. Wird wohl mein nächster Blindkauf..
@Sonny Ambush (« leider sind Dream Theater mittlerweile zu einem »):
ideenlosen Haufen grotzkotziger Poser geworden. Vielleicht belehrt mich das neue Album aber eines besseren.
Das sagst du, wo du Octavarium doch noch so großartig fandest? (und das durchaus berechtigter weise meiner meunung nach)
So schnell geht das...