laut.de-Kritik
Musikalisches Valium mit gewohnt suggestiven Kräften.
Review von Michael SchuhÜber Enigma ist viel geschrieben worden seit 1990 und deshalb kann man ja mal mit einer Neuigkeit aufwarten, die noch nie Eingang in CD-Kritiken des Cretu-Projekts fand: Sandra bringt eine neue Platte raus. Ja, die Rede ist von einem Studioalbum, nicht von der just erschienenen Best Of-Platte und ihr Label ist sich auch nicht zu schade, im Zusammenhang mit Frau Cretu von der "Rückkehr einer deutschen Pop-Ikone" zu sprechen, was ganz nebenbei die Frage nach der Definition des Wortes "Ikone" aufwirft.
Versteht man darunter eine Person, die anhand ihres langjährigen Schaffens in der Öffentlichkeit hohe Popularität genießt, mag das für Sandra maximal bis 1990 gegolten haben. Dann aber übernahm ihr Ehemann das Ruder, denn seit seiner Debüt-Hitsingle "Sadness Part 1" im selben Jahr, ist es dessen Projekt Enigma, das mit der musikalischen Durchschlagskraft von Valium die Massen betört.
So richtig verstanden habe ich diese grenzenlose und sich in Nummer Eins-Platzierungen niederschlagende Begeisterung für Cretus meditative Beruhigungs-Soundtracks ja nie, man muss dem Mann nach seiner aktuellen, sechsten Album-Veröffentlichung aber zu Gute halten, dass er seinen Weg mit stoischer Konsequenz beschreitet und nur Nuancen in der Kompositionsfeinabstimmung ändert.
Das Wort Ikone lässt sich übrigens auch theologisch interpretieren: Schon im frühen Mittelalter verstand man unter Ikonen Abbilder, die zwischen dem Menschen und Gott als Mittler fungierten, die also überhaupt erst eine Verbindung zwischen Betrachter und Dargestelltem schufen. Diese Definition dürfte ganz nach dem Geschmack Cretus sein, der nicht nur als Freund der lateinischen Sprache und der griechischen Mythologie bekannt ist, sondern dessen spirituelle Trance-Sounds sich als Projektionsfläche für freies Assoziieren geradezu aufdrängen.
"A Posteriori", Erkenntnisgewinn nach Erfahrung, mag Cretu als Leitspruch sicher für all seine Alben beanspruchen, das neue Werk ist jedoch mit 54 Minuten das bisher längste im Enigma-Katalog geworden und in seiner reduzierten Umsetzung gleichzeitig das elektronischste. Sobald dem Willen zu einer roheren Identität auch die arg nervigen Textpassagen zum Opfer fallen, wirkt sich das äußerst positiv aus. Gerade die ersten, leicht technoid angetrippten Tracks sorgen so für eine wohltuende Klangmassage. "Feel Me Heaven" hat gar etwas vom ganz jungen Moby, nur eben in Slow Motion.
In "Dancing With Mephisto" treten dann erstmals die berüchtigten Enigma-Trademarks auf den Plan. Plötzlich habe ich Stimmen im Kopf und weiß doch gleichzeitig, dass das absolut bewusst geschieht. Cretus bevorzugte Schlagworte "Follow me / toi et moi / infinity / eternity" verbreiten allerdings auch nichts grundlegend Neues außer der alten Grundformel: Lehne dich zurück, schließe die Augen, reguliere deinen Atem, denn das irdische Glück ist nicht an materielle Dinge gebunden.
Das einstige Wollsocken-Stigma der gerne als Chakra-Begleitmusik belächelten Songs schüttelt Cretu anhand deeper Soundauswahl größtenteils lässig ab, wenngleich sein Krächzen in "Invisible Love" und "Sitting On The Moon" oder auch die Vocoderstimme in der Jules Verne-Adaption "20.000 Miles Over The Sea" wieder mal die Gemüter spalten dürfte. Die suggestive Kraft des Enigma-Soundtracks mag das Raum- und Zeit-Kontinuum weiter in Atem halten. Dennoch kommt mir die Faszination für Cretus wabernde Klangteppiche nach wie vor ähnlich fremd vor wie Zwölftonmusik, was der Mann aus Ibiza übrigens schon seit seinen Studientagen beherrscht. Sandras Comeback wird weniger mysteriös ausfallen, ich spüre es.
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