laut.de-Biographie
Father John Misty
Den wuchtigen Mikrofonständer wirft sich Father John Misty gleich mal lässig in den Nacken, wie ein Holzfäller seine Axt auf dem Weg in den Wald. Dann geht die große Father-Show los: Der Nick-Cave-Hüftschwung ist dabei, wie auch der verzweifelte Griff an den Kopf. Auch die sehnsuchtsvoll ausgestreckte Boygroup-Hand in Richtung Publikum. Schließlich der Sprung aufs Schlagzeug und ein letztes Räkeln und Aufbäumen am vordersten Ende der Bühne. Aber wer ist dieser Mann noch gleich?
Father John Misty, abseits der Bühne Joshua Tillman, ehemals unter dem Künstlernamen J. Tillman aktiv, vollzog einen bemerkenswerten Wandel: Aus dem klemmigen Schlagzeuger der Sentimental-Folk-Helden Fleet Foxes wird 2012 quasi über Nacht die zynisch-romantische Kunstfigur Father John Misty.
Der junge Tillman wächst in einem evangelikanisch geprägtem Haushalt in Rockville, einem Vorort von Washington D.C. als ältestes von vier Kindern auf. Sein Vater arbeitet als Ingenieur bei Hewlett-Packard, und ist deshalb in den ersten Lebensjahren des Buben wenig zu Hause. Mit sechs Jahren äußert John das erste Mal den Wunsch, vor Publikum zu performen. Allerdings nicht als Musiker, der Junge möchte Pastor werden. Später kommentiert Tillman die Zeit der christlichen Prägung durch seine Eltern als "kulturell erdrückend". Früh lernt das Kind, Schlagzeug zu spielen. Mit zwölf Jahren bringt sich der Autodidakt auch das Gitarrenspiel bei.
Die christliche Erziehung beengt den jungen Mann zunehmend. Ihm ist es in seiner Jugend nicht erlaubt, weltliche Musik zu hören oder sich mit anderen Kulturen zu beschäftigen. Mit 17 Jahren erkämpft er sich schließlich gegen seine strengen Eltern neue Regeln. Er darf fortan auch Musik hören, die nicht eindeutig christliche Werte transportiert, mindestens jedoch ein 'spirituelles Thema' behandeln muss. Eines der ersten Alben, die sich Tillman kauft, ist Bob Dylans "Slow Train Coming".
Nachdem er kurz ins Nyack College in New York reinschaut, ohne dort je einen Abschluss anzustreben, zieht es den 21-Jährigen nach Seattle. Er heuert in einer Bäckerei an und nimmt nachts erste Demos auf, bevor er um 4.30 Uhr anfängt, kleine Brötchen zu backen. Eines seiner Bänder findet den Weg zu Damien Jurado, der Tillman im folgenden Jahr als Opening Act mit auf Tour nimmt.
Bei diesen ersten Shows verkauft J. Tillman CD-Kopien seiner Platte "I Will Return". Auf dieser Tour lernt er auch Eric Fisher kennen, der für ihn "Long May You Run, J. Tillman" produziert.
Die erste offizielle Platte, "Minor Works", erscheint auf dem Independent Label Fargo Records, ein Jahr später veröffentlichen sie auch die beiden früheren Werke des College-Abbrechers. 2007 folgt "Cancer And Delirium" auf dem größerem Label Yer Bird Records.
2008 erlangt Tillman größere Aufmerksamkeit, als er sich den Fleet Foxes als Drummer anbietet. Er bleibt festes Bestandteil des Line-Ups und tourt mit der Band in den vereinigten Staaten und Europa. Nach der Promotion für "Helplessness Blues" gibt Tillman seine letzte Show für die Fleet Foxes am 20. Januar 2012 in Tokio.
Am 1. Mai 2012 tritt Tillman auf dem Bonnaroo Music Festival auf. Mit ihm Gepäck hat er sein Solo-Album "Fear Fun", das erste Mal herausgegeben unter seinem neuen Künstlernamen Father John Misty. Ein paar Monate bevor das Album in den Plattenregalen steht, erscheint ein Video zum Song "Hollywood Forever Cemetery Sings", in dem "Parks And Recreation"-Star Aubrey Plaza mitspielt, und das mediales Interesse auslöst.
Der Singer/Songwriter hat im Laufe seiner Karriere viele Stationen besucht. So stehen auf der Liste seiner bisherigen Bands: Saxon Shore, Fleet Foxes, Jeffertitti's Nile, Pearly Gate Music, Siberian, Har Mar Superstar, Poor Moon, Low Hums, Jonathan Wilson, Bill Patton, The Lashes und Stately English. Mit Damien Jurado, Jesse Skyes und David Bazan war Tillman schon auf Tour unterwegs. Als gefragter Solo-Künstler akzeptiert, veröffentlicht er 2015 das zweite Album als Father John Misty namens "I Love You, Honeybear".
Größere Aufmerksamkeit generiert er mit "Pure Comedy" im Jahr 2017 – und einem berüchtigten Bühnen-Meltdown im Vorjahr. Seinen Auftritt beim XPoNential Festival unterbricht Tillman zugunsten eines ausschweifenden Entertainment-verdummt-die-Gesellschaft-Rants, der anschließend im 13-minütigen "Pure Comedy"-Epos "Leaving LA" mündet. Grund war – so heißt es im Nachhinein – eine Donald Trump-Rede vom Vortag.
Als Father John Misty mit einem Grammy für das "Best Recording Package" ausgezeichnet wird, befindet er sich gerade auf Tournee in Australien. Mit dem kaum minder gesellschaftspessimistisch gestimmten "God's Favorite Customer" legt er schon im Folgejahr nach und verpackt seinen inzwischen legendär vergnügt-bitteren Humor gleich im Albumtitel. Die zehn neuen Songs stellen sämtliche Jünger antiker Singer/Songwriter-Glanztaten von Neil Young bis John Lennon zufrieden.
Nach dem Tourfinale im September 2019 bleibt es länger ruhig um Tillman, der seine Social-Media-Aktivitäten nach mehreren Versuchen vollends eingestellt hat. 2020 erscheint das Live-Album "Off-Key In Hamburg", aufgenommen in der Elbphilharmonie 2019 gemeinsam mit der Neue Philharmonie Frankfurt.
Im weiteren Verlauf der Pandemie bastelt Father John Misty an neuem Material. Dies klingt schließlich erstaunlich anders: Auf "Chloë And The Next 20th Century" injiziert er seinem Barock-Pop mit ausladenden Streicher-Arrangements die große Swing-Geste. Als Bonus-Track liegt ein Lana Del Rey-Cover bei, die sich 2023 mit einem Feature auf "Did You Know That There's A Tunnel Under Ocean Blvd" revanchiert. Golden Twenties hin oder her: Es sind wahrlich aufregende Zeiten für songwritervernarrte Melancholiker.
Auf dem Ende 2024 veröffentlichten "Mahashmashana" schraubt Tillman die Big-Band-Anteile zurück, hebt den Anspruch der Lyrics dafür wieder an. Songs wie "She Cleans Up" und "Josh Tillman And The Accidental Dose" begeistern mit geschmackvoller Instrumentierung und klugen Texten. Father John Misty bleibt experimentierfreudig und unberechenbar. Für seine Deutschlandtermine gilt das weiterhin nicht: Wer ihn sehen will, muss mal wieder nach Berlin reisen.
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