laut.de-Kritik

Prügelnder Punk gegen Putin: Die Anarcho-Truppe will nicht mehr nur spielen.

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Gogol Bordello bringen begriffsbezogen Sprengstoff mit, denn da ist erstens der alberne Name der 1999 gegründeten Band, der wie der Lieblingspuff des russischen Schriftstellers Nikolaj Gogol klingt. Dann ist da noch das Wort Gypsy im Titel des 2005 erschienenen Album "Gypsy Punk", der darauf anspielt, dass die Musik der Truppe von den traditionellen Klängen der Roma inspiriert ist und hierzulande oft unreflektiert als "Zigeuner-Punk" übersetzt wurde. Und dann sind da drittens noch die russisch-ukrainischen Wurzeln des Frontmannes Eugene Hütz.

So viel Widersprüchlichkeit erträgt nicht jeder heutzutage, wie gut, dass ihr zweites Album schon mal vorausschauend "Multi Kontra Culti Vs. Irony" hieß und der anarchisch chaotische Sound der Gruppe jeglichen Balkan-Folk-Kitsch von vornherein wegfegte. Vor fünf Jahren erschien mit "Seekers And Finders" das letzte Album mit all den typischen Trademarks der Band, das trotz rasanter Rhythmen einen gewissen Stillstand markierte.

Mit "Solidaritine" hat Gogol Bordellos Musik nun eine neue Dringlichkeit bekommen. Denn während der Fertigstellung des neuen Albums stellt sich die Welt für Hütz, geboren 1972 in Kiew und nach der Tschernobyl-Katastrophe mit den Eltern in die USA emigriert, auf den Kopf, als Russland einen Krieg gegen die Ukraine beginnt. Der Fun-Faktor verblüht, die Punkrock-Wurzeln treten stärker hervor, wie man es im wütend rohen und dennoch optimistisch klingenden Opener "Shot of Solidaritine" zu spüren bekommt.

Das Album soll nun aber nicht nur musikalische Solidarität zeigen, Hütz sammelte die letzten Monate auch unermüdlich Geld und Aufmerksamkeit für sein Heimatland. Für ihn ist es selbstverständlich, das Album mit dem ukrainischen Begriff für Solidarität und auf dem Cover mit der Flagge zu versehen, denn er stellt jeden Song in diesen Dienst, wenn er sagt: "Jede Art von Kunst zu veröffentlichen, die sich nicht mit der aktuellen Situation in der Ukraine befasst, wäre ziemlich verabscheuungswürdig".

Gogol Bordello bündeln die "Forces Of Victory", und so sieht beispielsweise die aktuelle Facebook-Startseite der Band eher nach Aktivisten-Page denn nach Band-Marketing aus. Böse Zungen könnten sagen, dass das eine das andere nicht ausschließt, aber "Solidaritine" ist kein gefühliger Soundtrack zum Krieg, sondern grantige Mission – gebastelt aus Punk, Ska und Rock mit Geige, Akkordeon oder Saxophon. Mit den, den ewigen Bausteinen von Gogol Bordellos Musik.

In den neuen Songs sind die Bausteine nicht zum anarchischen Kinderspiel gedacht, sondern zum absoluten Festmeißeln, denn das Album steht für Überleben und Ausdauer. Die Leitworte zu diesem Ziel sind in ihrer Cover-Version von Fugazis Post-Hardcore-Klassikers "Blueprint" zu hören: "I'm not playing with you / I'm not playing with you / I'm not playing with you, yeah, you".

Trackliste

  1. 1. Shot of Solidaritine
  2. 2. Focus Coin
  3. 3. Blueprint
  4. 4. The Era of the End of Eras (feat. HR)
  5. 5. I'm Coming Out
  6. 6. Knack For Life
  7. 7. The Great Hunt of Idiot Savant
  8. 8. Take Only What You Can Carry (Feat. Kazka)
  9. 9. My Imaginary Son
  10. 10. Forces Of Victory (Feat. Serhiy Zhadan And Kazka)
  11. 11. Fire On Ice Floe
  12. 12. Gut Guidance
  13. 13. Huckleberry Generation

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2 Kommentare mit einer Antwort

  • Vor einem Jahr

    Vorallem der letzte Absatz liest sich als hättet ihr ausversehen den Promotext des Labels eingefügt.

  • Vor einem Jahr

    Würde mich mal interessieren, was die Rezensentin unter "Balkan-Folk-Kitsch" versteht. Klingt für mich angesichts der ansonsten offenbar um political-correctness bemühten Ausführungen fast schon...??!! diskriminierend??!!.
    "Zigeuner-Punk" ist übrigens in erster Linie die wörtliche und auch sinngemäß korrekte Übersetzung von "Gypsy-Punk".
    Wenn schon, müsste hier also in Richtung Band von einer unreflektierten Betitelung des eigenen Albums gesprochen werden - meiner Meinung muss das nicht - nur aus der Logik heraus. Es gibt ne Menge Sinti und Roma, die mit dem Begriff "Zigeuner" kein Thema haben, und es gibt ne Menge Sinti und Roma, die mit dem Begriff "Zigeuner" ein Thema haben - normal und beides ok.