laut.de-Kritik
Der Deutschrocker covert sich einmal quer durch seine Diskografie.
Review von Sven KabelitzJubiläen sind ein verzwicktes Ding. Man feiert sie gerne, nur wie? Ein neues Album? Eine schnöde Best-of? Ein Live-Album oder gar eine umfangreiche Neuauflage der alten Alben? Vierzig Jahre (uffz) nach "Reine Nervensache" stand Heinz Rudolf Kunze mal wieder vor dieser Frage. Löste er sie vor knapp zehn Jahren (auch uffz) auf "Ich Bin - Im Duett Mit" noch damit, die alten Songs zusammen mit anderen Acts neu aufzunehmen, lässt er diesmal die anderen Acts weg. "Werdegang" bietet 23 Neuinterpretationen und einen neuen Track ("Wenn Es Vorbei Ist"). Statt Gästen gibt es diesmal ein Buch dazu.
Über die erste Hälfte der Songs durften die Fans des Singer/Songwriters entscheiden, deren Auswahl erwartungsgemäß keine sonderlichen Überraschungen bereit hält. Die restlichen Stücke wählte Kunze selbst aus. Zusammen mit den Produzent*innen Tim Tautorat, Anne De Wolf, Ulrich Rode, Steffen Graef, Klaus Sahm, Jens Schneider, Jules Kalmbacher und Udo Rinklin bemühte er sich dann, den Lack von den alten Klassikern zu kratzen und etwas Neues in ihnen zu entdecken. Manchmal scharrt er dabei so hart an den Liedern herum, dass es schon krampfhaft wirkt.
Das Ergebnis fällt launisch aus, variiert irgendwo zwischen Vollkatastrophe, akzeptabel und wirklich gelungen. An dieser Stelle würde ich sehr gerne auf den Einfluss der einzelnen Produzent*innen eingehen, doch leider steht mir nur ein Stream ohne weitere Daten zur Verfügung. Gerade die erste Hälfte fällt durch eine für Kunze seltsame Electro-Pop-Ästhetik auf, die nicht immer zu den Songs passen mag. Was da mit "Dein Ist Mein Ganzes Herz" ("Dein Ist Mein Ganzes Herz") geschieht, verdient den Begriff Meuchelmord.
Als wolle er sich endgültig von diesem seine Karriere bestimmenden Stück befreien, sticht er mit Synth-Sechzehnteln auf den hilflos auf dem Boden liegenden Song ein. Seine Rechnung hat er aber ohne diesen Refrain gemacht, der wohl in jedem Genre funktioniert. Zudem dürfte "Wir haben uns auf Teufel-komm-raus geliebt / Dann kam er, und wir wussten nicht mehr weiter" wohl zu den besten Eröffnungszeilen im Deutschrock gehören. Davon abgesehen kann diese Version bitte ganz schnell wieder weg. Einfach nur schlimm.
Auch "Lola" ("Ausnahmezustand"), "Finden Sie Mabel" ("Wunderkinder") und "Vertriebener" ("Dein Ist Mein Ganzes Herz") tappen in eine ähnliche Falle, verlieren auf der verbissenen Suche nach neuer Frische ein Teil ihrer Tiefe. Fast scheint es, als wolle Kunze seine Fans für die Wahl ihrer Lieblinge abstrafen. Am besten funktioniert "Wenn Du Nicht Wieder Kommst". Einst schwungvolle und von Bläsern angetriebene "Brille"-Single, nun eine zurückgenommene Ballade.
In neuen Track "Wenn Es Vorbei Ist" singt er pathetisch von einem Leben nach der Corona-Pandemie. Dabei bleiben Melodie, Text und die genutzten Bilder in 2D. Zudem bleibt er so vage, dass alle von Karl Lauterbach bis zum quersten Querdenker munter mitschmettern können. Ab hier geht es jedoch deutlich aufwärts mit "Werdegang". Wie viel mehr Kunze besonders bei seinen Bildern zu bieten hat, zeigen das garstig herbe "Götter In Weiß" ("Gute Unterhaltung") und das formenreiche "Finderlohn" ("Draufgänger").
In "Mit Welchem Recht" räumt in aller Deutlichkeit mit jenem Missverständnis auf, mit dem ihn die AfD und ihre Anhänger aufgrund von "Willkommen Liebe Mörder" ("Tiefenschärfe") vereinnahmt hatten. "Mit welchem Recht wollen wir Menschen verwehren / Zu uns zu kommen einfach um zu überleben / ... / Willst du der Erste sein / Der auf der Mauer steht / Willst du als Erster auf das Heer der Armen schießen."
Ich habe jetzt lange nach einem Unterschied zwischen dieser und der Version von "Der Wahrheit Die Ehre", seinem besten Album seit zwanzig Jahren gesucht. Nun ist der Song vier Sekunden länger, aber mehr fällt mir nicht auf. Faszinierend, dass mit "Noch Hab Ich Mich An Nichts Gewöhnt" ("Reine Nervensache") ausgerechnet sein ältester Song - auch dank ein paar kleinen Änderungen - am aktuellsten klingt. Das Fatshaming zu Beginn flog raus, dafür gibt es vier neue Zeilen zu Corona.
Alter Text: "Zum Beispiel, dass ein naher Mensch / Vor Schmerzen schreit und stirbt / Der Tod schlechthin, ein Fakt, das nicht / Für Gottes Schaltplan wirbt." Erweiterung: "Zum Beispiel, dass die Seuche herrscht/ Die unsichtbare Pest / Wir halten uns zwar nicht umarmt / Doch aneinander fest.". Mit diesen kurzen Part sagt er mehr aus, als mit dem kompletten "Wenn Es Vorbei Ist". "Zum Beispiel, dass man Liebe kaum / Zu dritt erleben kann / Und mancher, den als Frau man wünscht / Verkehrt nun mal als Mann" war schon 1981 da, könnte aber kaum aktueller klingen. Eine einnehmende Dynamik und ein David Gilmour-artiges Gitarrensolo komplettieren die Neuaufnahme. Das klare Highlight auf "Werdegang", das nochmal zeigt, wie gut HRK zu Beginn seiner Karriere war.
Nur kurz dahinter reiht sich "In Der Alten Piccardie" ein, das damals schon positiv aus dem eher misslungenen "Deutschland" heraus stach. Ein charmantes und sentimentales Prequel zum "Brille"-Titelsong, das von seinen ersten zwei Jahren an der Schule an der niederländischen Grenze erzählt. Eine nostalgische und autobiografische Erinnerung an die Kindheit und an die daraus resultierende Aufbruchstimmung. Nun mit leichtem Beatles-Flair und einem dramatischen Zwischenpart ausgestattet.
Für "Werdegang" benötigt man einerseits ein starkes Nervenkostüm, im Gegenzug erhält man zur Belohnung allerdings auch wahre Perlen. Leider sind 24 Songs auf einem Album wie immer bei Heinz Rudolf Kunze des Guten zu viel. Seiner Karriere dürfte dieses Detail jedoch wenig anhaben.
2 Kommentare
Ziemlich gemischte Werkschau. Man merkt, dass mehrere Produzenten daran herumgefrickelt haben. Sehr gelungen sind das rockige „Das ist Klaus“ und das an Depeche Mode erinnernde „Nicht mal das“.
Die Klassiker „Dein ist mein ganzes Herz“, „Lola“ und „Finden Sie Mabel“ hätte man ohne Probleme in diesen Versionen auch in einem Hitmix auf dem Album verwursten können. Schlimme Erinnerungen an Pur und Wolfgang Petry kommen hier auf.
für mich zu viel Elektronik; aber kann man machen.