laut.de-Kritik

Ohne den Bassisten-Darling hin zu neuen Übertracks.

Review von

Bassist steigt bei Band X aus. Auch in dieser Redaktion fragt man sich in solchen Fällen öfter, ob diese Neuigkeit nun unbedingt eine Meldung wert ist. Der Sänger als identifikationsstiftendes Band-Abbild, der Gitarrist als meist extrovertierte Figur: Da stellt niemand Fragen. Aber die Nischenposition am Bass? Interessiert die irgendwen? Ohne jemandem zu nahe treten zu wollen: in den meisten Fällen nicht.

Wie anders die Uhren bei der Band Interpol ticken, konnte in diesem Punkt vor vier Jahren am Ausstieg des Bassisten Carlos Dengler, von Fans ehrfurchtsvoll Carlos D. genannt, beobachtet werden. Ein Mann mit vielen Gesichtern, noch mehr Frisuren und den schönsten Oktavspielereien an seinem Gerät von allen Retro Rock-Bands seit 2001. Ist so ein Mann, auf dessen Konto immerhin songtragende Killer-Bassmomente wie in "Evil" und "The Heinrich Maneuver" gehen, ersetzbar?

Die schlichte wie überraschende Antwort lautet: Ja. Ziemlich einfach sogar. Und zwar nicht, weil Neu-Bassist und Sänger Paul Banks den eigentümlichen Dengler-Stil zu kopieren versuchen würde. Banks' Spiel ist vergleichsweise reduziert, aber dennoch pointiert genug, um das Fehlen Denglers gar nicht richtig greifbar werden zu lassen.

Eine achtlose, anämische Vorstellung war der geschmackssicheren Gruppe nach solch einer Zäsur auch nicht zuzutrauen, erst recht nicht nach der doch rätselhaften und schon unter erschwerten Bedinungen entstandenen, letzten Platte "Interpol". Diese klang wie eine in Ton gegossene Verweigerung nach dem kommerziell missglückten Major-Debüt mit "Our Love To Admire" auf EMI - ein Gedankenkonstrukt, das selbstverständlich alle Mitglieder bestreiten.

Dass Denglers Abschied ausgerechnet auf die mäßigste und überfrachtetste Produktion der gesamten Interpol-Diskographie fiel, wird einem erst im Lichte von "El Pintor" so richtig bewusst. Same Band, New Story: Banks, Gitarrist Daniel Kessler und Drummer Sam Fogarino lassen ihrem Sound endlich wieder die Freiräume, die ihn so unverwechselbar machen.

Die Single "All The Rage Back Home" enttäuscht da fast schon - und das obwohl sie mit einer zarten Gitarrenline beginnt, die mich entfernt an den Übertrack "Rest My Chemistry" erinnert. Als dann gleich die tonnenschwere Traurigkeit in Banks' Stimme so butterweich in Kesslers engmaschiges Emotionsnetz fällt ("When she went 'There Love, come over' / My head abounds / Oh, the feelings"), scheint der Auftakt geglückt, doch diese Steilvorlage zum Klassiker verbaut sich die Band, indem sie unnötigerweise in einen Uptempo-Part galoppiert, der im Interpol-Kontext nur Business as usual darstellt. Davon abgesehen zählen auch Banks' Fußballchor-ähnliche "Hey hey hey hey"-Einschübe gegen Ende nicht zu seinen größten Momenten.

Man will jetzt aber mehr, mit oder ohne Dengler, und "My Desire" liefert prompt. Der Song sprengt alle gekannten Konventionen: Ein echobeladenes Kessler-Riff, das eigentlich gar keines ist und nur aus drei Tönen besteht, hallt im luftleeren Raum, wird erst mit Fogarinos Einsatz geerdet und stimuliert Banks endlich wieder zu einer dieser hymnischen Melodien, die sofort alle Schleusen öffnen. Mit jedem Hören des Tracks offenbaren sich neue Soundmomente und Effektspielereien, gerade Kesslers zahlreiche Gitarreneinschübe in der Bridge sind kaum fassbar.

Als weiterer Übertrack spielt sich "Same Town, New Story" in die Alltime-Bestenliste der Band: Wieder steht nicht der Bass, sondern Kesslers außerirdische Gitarrenfigur im Vordergrund, die mit der Präzision eines Metronoms voranschreitet. Doch mehr noch als in "My Desire" reißt Banks das Ruder an sich und veredelt die Nummer mit großartiger Melodie und gefühlvollem Backgroundgesang. Anders als etwa beim Uptempo-Stück "Anywhere", das sehr ans erste Album erinnert, begeistert "Same Town, New Story" mit Akkordfolgen, die man so von der Band noch nie gehört hat.

Und was genau war dieses Mal so anders? Da gehen die Meinungen innerhalb der Band auseinander. Zwar wolle man Dengler nichts Böses, wie alle unisono in Interviews betonen, doch offensichtlich ist es der als einziger noch mit Dengler in Kontakt stehende Kessler, für den "El Pintor" einfach ein weiteres Interpol-Album darstellt. Banks dagegen macht keinen Hehl daraus, dass die nicht schon vorab in Stein gemeißelten Basslinien Denglers für ihn dieses Mal einen neuen Freiraum beim Melodienfinden bedeuteten. Fogarino lobte derweil die Tatsache, dass man entgegen 2010 endlich wieder gemeinsam in einem Raum spielte.

Wie auch immer: Mit den im "Antics"-Style wabernden "My Blue Supreme" und "Tidal Wave" sowie dem zähen, desillusionierten "Twice As Hard" gelingen Interpol weitere Manifeste, die die atmosphärischen Stärken der Band betonen, ohne in alten Mustern zu verharren. Zumal in den Letztgenannten auch der Interpol-typische Crescendo-Wahnsinn wieder zu voller Blüte auffährt.

In seiner Gesamtheit gerät "El Pintor" damit zu einem Album, das auch ganz ohne Bassisten-Diskussionen überzeugt. Selbst wenn Songs wie "Breaker 1" und "Ancient Ways" eher zum Durchatmen fürs Album-Finish taugen: Zwölf Jahre nach "Turn On The Bright Lights" sind Interpol wieder eine unverzichtbare Größe im Indierock-Sektor.

Trackliste

  1. 1. All The Rage Back Home
  2. 2. My Desire
  3. 3. Anywhere
  4. 4. Same Town, New Story
  5. 5. My Blue Supreme
  6. 6. Everything Is Wrong
  7. 7. Breaker 1
  8. 8. Ancient Ways
  9. 9. Tidal Wave
  10. 10. Twice As Hard

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20 Kommentare mit 7 Antworten

  • Vor 10 Jahren

    Für mich das beste seit Bright Lights. Das selbstbetitelte Album war auch sehr geil, aber die Songs klangen sehr oft nach Soundkollagen. Hier scheinen sie aber endlich wieder an das Debut anknüpfen zu können. Nach der Empfehlung mehrer Laut User nochmal in LP Nr. zwei und drei reinzuhören, muss ich jedoch sagen, dass weder Antics noch Love mich wirklich überzeugen können. Paar gute Tracks, aber das Gesamtbild gefällt mir nicht. Egal, El Pintor ist ja jetzt da. ;)

    • Vor 10 Jahren

      Hab mir auch nochmal alle Alben in richtiger Reihenfolge angehoert. kann mir ja vorstellen dass fuer viele Nyc, Obstacle I und Leif Erikson die besten Interpol-Songs sind. Aber dann sind da auf dem Debut auch Songs wie Stella und Roland die mir absolut gar nichts geben. Antics ist da schon eher aus einem Guss. Auch wenn mir die drei oben gennanten songs besser gefallen. interpol war fuer mich schon immer eine band mit 1,2 lueckenfuellern auf ihren alben. haben sie gar nicht noetig. Auf der neuen kann ich wrong und breaker ueberhaupt nichts abgewinnen.
      man munkelt das naechste album wird el barto/homo heissen.

    • Vor 10 Jahren

      Bei Bright Lights treffen für meinen Geschmack alle Tracks in Schwarze. Gerade sowas wie Stella empfinde ich auch äußerst mutig, um das vorherige Tempo der Platte auf einmal zu erhöhen, ohne das der Track da unpassend wirkt. Aber ich scheine mit meiner Kritik für Antics und Our Love wirklich alleine zu sein. Selbst die Singles von Antics, wie Heinrich und Evil Hands, hauen mich nicht um. Bei El Pintor passt bisher alles, selbst Breaker. Fragt sich natürlich nur noch, ob das Album sich über einen längeren Zeitraum beweisen kann. Das konnte ausnahmslos bisher nur Bright Lights. ;)

  • Vor 10 Jahren

    "Interpol" fand ich am Anfang sehr stark, wurde aber leider mit jedem Hören langweiliger.
    El Pintor klingt auf jeden Fall erstmal sehr gut (ist ja schon länger im stream) und könnte vielleicht auch länger gefallen. So richtig gepackt hat mich seit "Turn on the Bright Lights" nciht mehr so viel von Interpol. Zumindest keine ganzen Alben. Aber "El Pintor" könnte da durchaus mal ne positive Überraschung sein mit der ich so nicht gerechnet hätte...

  • Vor 10 Jahren

    ich kenne jetzt nur die ersten beiden alben.. warum wird eigentlich mit dem begriff retro so rumgeworfen bei denen? kann ich nicht nachvollziehen

  • Vor 10 Jahren

    Kann ich nur beipflichten, bei ancient ways, ist nicht mit durchatmen. ist mehr wie ne welle die dich vorantreibt. unglaublich. Was mir aufgefallen ist das banks stimme mehr richtung julien plenti styl gewandert ist.

  • Vor 10 Jahren

    "Der Joker" bringt es auf den Punkt. Interpol ist wie die Editors popiger geworden und seit dem Album Interpol nicht mehr Indie. Aber noch immer um Klassen besser als diverse anderen sogenannte Indie-Bands, like FF oder KC.
    4,5/5 wegen "Same Town, New Story" - sonst wären es 5/5. ;-)

  • Vor 10 Jahren

    Acient Ways ist mein absoluter Liebling des Albums. Eher ein düsterer Sturm der dich wegbläst, denn was zum durchatmen (wobei aus Sturm-Sicht passt's dann wieder ;-)). Etwas störend empfinde ich die für mich sehr ähnlich klingenden Intros von My Desire und Same Town, New Story.

    Ich mochte die 2007er-Interpol-Entwicklung nicht sehr und war sehr froh über das 2010er-Album. El Pintor ist in diesem Sinne eine Weiterentwicklung. Etwas düsterer in den Tiefen, etwas wilder in den Spitzen.

    Aber ich sehe auch noch ganz viel Steigerungspotenzial. 8,5/10