laut.de-Kritik

Jahrzehnte vor Jacko tanzte er den Moonwalk und das Apollo trug ihn auf Händen.

Review von

Zeitreisen sind ein schönes Gedankenspiel. Jedem leidenschaftlichen Musiknerd fallen sofort eine Handvoll Konzerte in der Vergangenheit ein, deren Legendenstatus quasi zum Besuch verpflichtet. Bob Dylan am 25. Juli 1965 zum Beispiel, als sein erster Auftritt mit elektrischer Gitarre von versammelter Folk-Riege ausgepfiffen wurde. Johnny Cash am 13. Januar 1968 in der Strafvollzugsanstalt in Folsom, Kalifornien. Oder aber auch ein Gig am 24. Oktober 1962 im Apollo Theater in Harlem: James Brown.

"Live At The Apollo" zeugt von jenem Mittwochabend vor knapp 50 Jahren, als Brown zum siebten Mal in der legendären Konzertstätte auf der Bühne stand. Weil sein Label damals nicht an das Potenzial von Livealben glaubte, finanzierte der Künstler diese Aufnahme selbst. Ob der damalige Chef von King Records im Nachhinein seinen Gluteus Maximus verkostete ist nicht überliefert, ganz im Gegenteil zu dem niederschmetternden Erfolg dieser Scheibe.

Warum es so kam ist schnell erklärt: Das Album bietet unverdünntes Live-Feeling eines der energiereichsten Performers seiner Zeit in kompakter Form (knappe 30 Minuten Laufzeit). Mit James Brown hatte man Kunst und Unterhaltung in Personalunion, ähnlich wie bei dessen großem Vorbild Little Richard. Mit ihm gemein hatte Brown ungeheures Talent, Marktverständnis und darüberhinaus kannten beide die Tugend der harten Arbeit.

Browns Bühnenauftreten potenzierte seine Charakterzüge ins Riesengroße, Übermenschliche. Von der ausufernden Einleitung bis hin zum "Erschöpfungscape", das der Zeremonienmeister vor den Zugaben wieder und wieder auf den scheinbar ausgepowerten Sänger warf, um ihn von der Bühne zu begleiten, James Brown war einer der ersten wahren Showmen im Musikgeschäft.

Vor jedem Konzert heizte ein MC das vorwiegend weibliche Publikum mit einer Aufzählung der größten Singles, Ehrenbezeichnungen und Errungenschaften an: "The hardest working man in showbusiness, Mr. Dynamite, the amazing Mr. Please Please Himself, the star of the show: James Brown!", heißt es in der "Introduction" von Fats Gonder. Sekunden später erbebt die Hütte vor wildestem Justin Bieber/Tokio Hotel-Fankreischen, James Brown ist angekommen.

"You know I feel alright", ruft er ins Publikum. Wissen wir. Er beginnt sein Frage- und Antwort-Spiel mit Band und Publikum, eine ursprünglich vom frühen Jazz geklaute Stilform. "I'll Go Crazy" samt dem lückenlos folgenden "Try Me" sind schunkelnde Soul-Balladen, teilweise noch im Doo-Wop-Stil der 50er mit starker Unterstützung der Famous Flames, Browns dreiköpfigem Backgroundchor. Bevor er in den 70ern den Funk erfand, war Brown eben ein urbrünstiger Soulsänger, der die Fähigkeit besaß, sein Publikum gleich reihenweise in ekstatische Zustände zu versetzen.

Der Präzision und dem Feel der Band tat der klassische R&B natürlich keinen Abbruch. Einzählen ist scheinbar nur etwas für Anfänger, die auch ungestraft mal einen Ton versemmeln oder nicht pünktlich zur Probe erscheinen. Brown dagegen verhängte gegen falsch spielende Bandmusiker Geldstrafen, drillte sie für ein perfektes Zusammenspiel, das jede kleine Fingerregung des Godfathers of Soul richtig zu deuten wusste. Ein Kopfnicken, ein "Come On", und schon ging es in den nächsten Part.

Dabei machen sie auch zwischen den Songs kaum Halt, lassen nie locker. Mit "Think" und "Night Train" streift Brown auch erste Ableger seines zukünftigen Sounds, natürlich fast dreimal so schnell wie die Studioversionen. Im Gegensatz zu Chuck Berry und Little Richard war Brown stets befreit von einem Instrument und konnte so seinen ganzen Körper in den Dienst der Performance stellen. Jahrzehnte bevor Michael Jackson über die MTV-Bühne glitt, moonwalkte James Brown schon durch das Apollo in Harlem.

Kernstück des Albums ist eine 10-Minuten-Version von "Lost Someone". Eine ergreifende Gesangsvorstellung von schnurrenden Tieftönen bis hin zu scharf an die Grenze des Stimmumfangs genagelte Urschreie – James Browns Stimmbänder hatten wahren Soul. Über komplett reduzierten, instrumentalen Hintergrund begibt er sich mit tausenden kleinen Phrasierungen in eine Art Selbst-Meditation, die ihn zu höchsten Höhen verleiteten.

Dabei war alles fließend, lange Jams arrangierte er kurzweilig und unterhaltsam. Selbst klassische Ansagen wie "Okay, das müssen wir jetzt noch einmal machen" werden bei Brown zu einem Teil des Songs, zum festen Bestandteil seiner Melodieführung.

Eigentlich fleht er sein Publikum knappe sieben Minuten an, mit ihm zu singen, und sich gegenseitig die Liebe zu schwören. Nicht nur vereinzelte Schreie des Verzückens antworten ihm, die Münder in New Yorks 125ter Straße hängen vor lauter Begeisterung sperrangelweit offen. Das Apollo trägt ihn auf Händen, und das hört man dank der exzellenten Aufnahmequalität "live in living colour".

Als alles und jeder dem kollektiven Ohr-gasmus entgegenschwebt, reißt Brown mit einem Medley die größten Singles seines damaligen Werks im Minutentakt runter. Der unglaubliche Trance-Zustand von "Lost Someone" fällt wie ein Vorhang, es kommt wieder mehr Bewegung ins Set.

Der neue Schwung gipfelt in der Frage "All onboard?". "Night Train" groovt noch nicht mit der Wucht der späteren Backingband The JBs, sondern huldigt eher dem schwungvollen, swingenden Stil der frühen Sechziger. Die wenigen Takte Bigbandmusik am Ende des Songs stehen stellvertretend für die Veränderung des James Brown-Sounds, für die dieses Album ausschlaggebend war.

Die Debatten über die Produktion und Veröffentlichung von "Live At The Apollo" trieb Brown von seinem R&B-Label weg und ließ ihn neue Wege gehen. Und schon wenige Monate später landeten Songs wie "I Feel Good" oder "Papa's Got A Brand New Bag" im Radio. Man zeige mir bitte einen Werbeblock, eine Abi-Feier oder eine Strandparty, die ohne James Brown auskommt. Sie alle gehen auf dieses Album zurück.

Mit einer knappen halben Stunde Laufzeit ist der Genuss dieses Live-Dokuments am Stück zu empfehlen. Bis zur letzten Sekunde begeistert das Apollo-Konzert mit einem James Brown, der wahrlich alles in die Performance steckt, und trotzdem erst am Anfang einer großen Karriere steht.

Inspiriert von diesem Album schraubten auch andere Bands und Künstler an der Energie ihrer Liveshows. Die MC5 wollten mit ungestümem Rock'n'Roll ihren Seelen so freien Lauf lassen wie damals James Brown. Bruce Springsteen befehligte seine E Street Band mit ähnlichem Grandeur und ließ auch keinen Flecken Bühne von seinem Schweiß unbenetzt. Prince vermengte Einflüsse von Jimi Hendrix mit den gewaltigen Auftritten von James Brown und wurde selbst zur Legende. Dazu kommt natürlich jeder, der jetzt und vor zehn Jahren ins heutige Schmalspurfach R&B eingereiht wird. Liebe moderne Soul-Diven und tanzende Youngsters, liebe Ushers und Ne-Yos – here is the original. The star of the night: James Brown!

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. Introduction
  2. 2. I'll Go Crazy
  3. 3. Try Me
  4. 4. Think
  5. 5. I Don't Mind
  6. 6. Lost Someone
  7. 7. Medley
  8. 8. Night Train

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20 Kommentare

  • Vor 12 Jahren

    Seit gestern oder sogar vorgestern online und noch kein einziger Kommentar? Da sieht man mal, was für musikalische Müslischalen sich hier rumtreiben. Banausen!
    Traurig. Klasse Album. Klasse Review.

  • Vor 12 Jahren

    "Seit gestern oder sogar vorgestern online und noch kein einziger Kommentar?"

    liegt vll an der tatsache das es sich um ein live-album handelt, und somit eig. nicht als meilenstein gelten kann ?

  • Vor 12 Jahren

    Völliger Quatsch, Nicolas. Anschenend hast du noch nie eine der Zahlreichen Konzertmitschnitte von Mr. Dynamite gehört. Wenn man JB hören will, dann am besten seine Live-alben. es gibt nur wenige Künstler, die so dermaßen performen konnten/können, das man den Bühnenschweiß sogar auf der heimischen Couch riechen kann! Ich bedauere zutiefst deinen Tod und das ich niemals eine Show von ihm erlebt habe.

  • Vor 12 Jahren

    ARMEE-MESSER
    @ soulburn
    In deinen Worten kann ich keine rücknahme deines Stimmritzensatzes entdecken. da kannst du dir die feiertage an den hut stecken

  • Vor 12 Jahren

    Na toll, jetzt hast du mir das Weihnachtsfest versaut. Wie soll ich jetzt noch ruhigen Gewissens schlafen? Ständig konfrontiert mit diesem seelenzerfetzenden moralischen Dilemma, entweder meine persönliche Meinung zu Jennifer Rostock revidieren zu müssen und für einen rückgratlosen Wendehals gehalten zu werden, oder für immer in dem Wissen weiterzuleben, dass Der-Wal einen meiner Kommentare nicht gut heißen kann und mir deshalb keine schönen Feiertage wünschen mag? Ich glaube dies ist der Moment, ab dem ich nie wieder in den Spiegel schauen kann, ohne mich selbst zu hassen - und doch bleibe ich dabei: Schöne Feiertage, mein lieber Wal! Mit Bussi-Bussi und Zuckerguss oben drauf!

  • Vor 12 Jahren

    @ soulburn
    Na siehste, jetzt schämst du dich doch schon. du bist auf dem richtigen weg. wenn du willst, kann ich dir für deine dementi formulierungshilfe anbieten (sog. täterhilfe-programm)