laut.de-Kritik
Angemessen und Streaming-freundlich.
Review von Yannik GölzWenn es einen Prozess gibt, nach dem K-Pop die Solo-Karrieren verteilt, dann erschließt der sich mir noch nicht. Denn oft kommen die mir ein bisschen gewürfelt vor. Nehmen wir Jeon Somi als Fallstudie: Die hat nach einer Castingshow 2017 am temporären Girlgroup-Projekt I.O.I mitgewirkt, war da mit "Very Very Very" an einem der besten Songs des Jahres beteiligt und wurde dann neben ihrer Gruppen-Kollegin Chungha als Breakout-Star deklariert. Aber im Gegensatz zu Chungha, die offensichtlich in Choreo und Rapskill glänzt, hatte Somi weder prominente Parts bei I.O.I. noch ein klares Forte. Sie hatte eigentlich nur Medienpräsenz, weil sie in ihrem langen Dasein als JYP-Trainee beinahe in sowohl Twice als auch ITZY gelandet wäre. Kam das Solo-Signing also einfach aus Brand-Recognition zustande? Das Debütalbum "XOXO" zeigt: Nicht ganz. Recht direkt an westlichen Sounds orientiert liefert sie einen kurzweiligen Ersteindruck mit Bounce, der eher für Streaming-Effekt als für K-Pop-Opulenz einsteht.
Auf das Intro "Dumb Dumb" hat diese Opulenz zumindest noch abgefärbt. Die Verses bauen langsam auf, unscheinbar, dann schlaghammert ein House-Drop den Refrain in die Oberliga. Zweiter Part, wieder leer, cringy Raps, cringy Einsatz von englischem Slang, man möchte sich abwenden, aber dann ist er wieder da, der House-Drop.
Eigentlich müssten für richtige Pop-Perfektion beide Seiten der Medaille geil klingen, aber trotzdem erinnert das freiförmige Umschwingen an die Stilblüten, die K-Pop interessant machen. Aber die Parts warnen vor einem Grundproblem dieser Platte: Sie geht oft nicht den ganzen Weg. Oft klingen die Verses lauwarm wie Vortagsessen. Clap-Beats, Mid-Tempos und Dudel-Melodien, die gemächlich auf eine Topline warten. Nichts zu finden von der Genre-Ökonomie, die sonst jede Sequenz eines Songs mit markantem Groove oder Hook-Appeal aufladen würde. Vieles auf "XOXO" scheint musikalischer Hinhaltetaktik, die okay genug klingt, um nicht wegzudrücken, aber auch überhaupt nicht im Kopf bleibt.
Dass die Sound-Designs auf "What You Waiting For" und "Outta My Head" wie bei Ed Sheerans "Shape Of You" abgegriffen klingen, hilft dem Eindruck nicht, oft parkt die Klangfarbe in einem gefälligen Beige. Auch Somis großes Alleinstellungsmerkmal, ihr blasiertes Cool-Girl-Image klingt wie vieles, was hier gerade in Pop-Aktuell-Playlists herumschwirrt. Ihr Gesang wirkt okay, ihr Rap birgt Hoch- und Tiefpunkte, aber ihre Edge kommt oft flach, und ihr schamloses Anschmiegen an afroamerikanischen Dialekt wirkt so natürlich und geschmackvoll wie 39ct-Reibekäse im Aldi-Regal ganz unten. Man kann sich einfach vorstellen, dass ihre Attitüde in Korea fresher als hier klingt, denn dort bildet ihr etwas unterschwelliger und geradliniger Sound einen Kontrapunkt zum Pop-Mainstream, hier stimmt er frontal darin ein. Aber auch, wenn der innovative Wille zum Camp ein bisschen verloren geht, funktionieren die Songs. Spätestens, wenn "What You Waiting For" im letzten Drittel einen befreienden Drop explodieren lässt, entfaltet sie Katharsis. Das ist kein schlechter Pop, keine Frage.
Oft versucht sie ein bisschen zu bemüht, abgeklärt zu klingen. Und die irgendwie sympathische Tryhard-Energie passt zur Labelheimat: Der Titeltrack "XOXO" zum Beispiel lässt das YG-Signing durchschimmern, vor allem deswegen, weil die Ballade typisch für Produzenten Teddy klingt, aber als lauwarmer Aufguss von Blackpinks "Lovesick Girls" ohne die Over-The-Top-Energie und den campigen Swagger bleibt es doch im Tal des ganz-okayen. Erneut: Gut, aber nicht großartig. Angstiness wie auf "Anymore" kauft man ihr ab, aber doch bleibt die Energie bis zum Refrain verhalten. Das Boring-Verse-Symptom setzt mehr als ein paar mal ein, vor allem, wenn sie auf erschreckend roher Produktion Vocals wie Ariana ohne die Belts oder Halsey vor ihrer Rock-Ära kredenzt.
Tatsächlich bleibt ihre Debüt-Single "Birthday" als klares Highlight übrig. Wie eigentlich alle ihre Singles machte die nämlich zunächst auch keinen wahnsinnigen Eindruck, hat sich dann aber doch in die Rotation geschlichen. Im Album-Kontext kann man die temporeiche, expressive Produktion mehr wertschätzen, gerade der am Ende aufgebaute letzte Drop bildet einen der wenigen, dringend notwendigen Energie-Hochs.
Irgendwie funktioniert "XOXO" für ein K-Pop-Album wie rückwärts. Statt ästhetisch über den Kopf zu braten, schleichen sich viele Songs an und ziehen eher übers mehrmalige Hören als über einen spektakulären Ersteindruck. Somi glänzt weniger mit ausufernder Persönlichkeit als mit einer sich durchziehenden Justin Bieber-esken Angemessenheit. Ihre Stimme schmiegt sich verschiedenen Stilen gefällig an, ihr Charakter wirkt immer gerade cool und kosmopolit genug (wozu hat man auch sonst drei Staatsbürgerschaften), man kennt sie - und sie weiß, was sie tut.
Die acht Tracks halten ein konsequentes Level, sie gibt Instrumental und Songwriting viel Raum, ihre Energie und Darbietung liegt immer genau im Radius des Passenden. Warum sie? - lautete die Einstiegsfrage. Und die Antwort ist eben, dass sie weniger aufdringlich als viele ihrer K-Pop-Kolleginnen und Kollegen arbeitet. Kompetenter hat man die Aufgabe des Playlist-Pops dort noch kaum erledigt. "XOXO" wird sicher nicht als Genre-Meilenstein in die Geschichtsbücher eingehen, aber es könnte sich auch ein Zyniker dabei erwischen, wie "Dumb Dumb", "XOXO", "Birthday" oder "What You Waiting For" schließlich doch in der eigenen Rotation landen.
1 Kommentar
Mit dem Albumtitel macht die sich doch zum Casper