laut.de-Kritik

Prog's Not Dead.

Review von

Wir schreiben den Juli 1974. Mastermind Robert Fripp versammelt in London einmal mehr die begabtesten Rockmusiker ihrer Zeit um sich. Doch die Zeichen für das siebte Album King Crimsons stehen denkbar schlecht: Die Streitigkeiten zwischen Fripp, John Wetton, seines Zeichens Sänger und Bassist, sowie Drummer Bill Bruford nehmen zu. Das Interesse der Hörer und Kritiker lässt indes nach, der Progressive Rock, dem sich Fripp verschrieben hat, scheint seinen künstlerischen und kommerziellen Höhepunkt hinter sich gelassen zu haben. So spaltet etwa Yes' im vorangegangenen Jahr veröffentlichtes 81-Minuten-Epos "Tales From Topographic Oceans" die Kritiker. Und auch das zu dieser Zeit jüngste Album des Karmesinroten Königs, "Starless and Bible Black", strengt mit seinen polyrhythmischen Improvisationen und teils dadaistischen Lyrics in erster Linie an. Zwei-Akkord-Musik mit simplen Texten liegt im Trend, der Punk kündigt sich mit Bands wie den Stooges und den New York Dolls an. Doch ein vorerst letztes Mal tritt Fripp zur Rettung des Bombasts und diverser Krummtakte an – und erschafft ein Album für die Ewigkeit.

Vor dem Gang in die Olympic Studios gibt Robert Fripp seinem Geiger David Cross den Laufpass und begründet dies mit der geplanten härteren Gangart auf dem siebten Album – eine glaubwürdige Begründung, wie sich bald herausstellt. Bereits der titelgebende Opener gibt mit seinen heavy Riffs und dem entfesselt trommelnden Bill Bruford die musikalische Ausrichtung vor: Hart, laut und vertrackt geht es auf "Red" zu. Der Albumtitel bezieht sich auf die Richtung, in die die Nadeln des VU-Meters während der Aufnahmesessions stetig ausschlagen: nach rechts, in den roten Bereich. Zunächst planen Fripp, Wetton und Bruford, ihr VU-Meter auf das Frontcover des Albums zu packen. Schließlich lässt sich das zerstrittene Trio von seinem Management dazu überreden, die eigenen Konterfeie auf die Vorderseite zu setzen – besteht aber darauf, einzeln fotografiert zu werden. Für das VU-Meter bleibt nur die Rückseite. Schade eigentlich, handelt es sich doch um ein passendes visuelles Statement. Die Zeitschrift Q führt "Red" später unter den "50 härtesten Alben aller Zeiten" auf.

Süßliche Lyrics über griechische Götter und mit dem Wind kommunizierende Hippies waren bereits auf "Larks' Tongues In Aspic" passé, nun waren es auch textliche Albernheiten wie "The Great Deceiver" vom Vorgängeralbum. John Wetton, der beste (weil ebenso stimmgewaltige wie untheatralische) Sänger in der langen King Crimson-Historie, schweigt auf dem Opener und ist dort vollends mit seinem superben Bassspiel beschäftigt. Wenn er in drei der vier Folgesongs zum Mikro greift, intoniert Wetton tiefschwarze Lyrics. In "Fallen Angel" betrauert das lyrische Ich seinen Bruder, der in den Straßen New Yorks niedergestochen wurde.

Anders als auf den beiden vorangegangenen Alben greift Robert Fripp in "Red" wieder auf weitere Gastmusiker zurück, denen das Album seine musikalische Dichte und Abwechslung zu verdanken hat. Die Strophen von "Fallen Angel" veredelt die Oboe des Gastmusikers Robin Miller, im (Quasi-)Refrain kulminiert der Schmerz des lyrischen Ichs nicht allein in Wettons fast geschrienen titelgebenden Zeilen und Fripps Gitarrenarpeggios, sondern auch im Kornettsolo des Sessionmusikers Mark Charig. Emotionalität, Authentizität und perfektes musikalisches Handwerk gehen hier – anders als so häufig in der Diskografie Fripps – Hand in Hand.

"One More Red Nightmare" variiert ständig seine Taktart, wartet mit nebulösen Lyrics, schrägen Saxofonsoli (des Gastmusikers Ian MacDonald) und wilden Drumausflügen Bill Brufords auf, der wie wild auf ein verbogenes Chinabecken eindrischt, das er zuvor aus dem Mülleimer des Proberaums gefischt hatte. Und doch erweist sich der dritte Albumtrack über seine gesamte siebenminütige Laufzeit hinweg als äußerst kurzweilig und bemerkenswert eingängig. Die herausragende Gesangsleistung Brufords und die Handclaps (ein Novum in der Diskografie King Crimsons) bieten ohrenschmeichelnde Orientierung im Rockgewitter, das munter zwischen nicht gerade massentauglichen Taktarten wie einem 7/4- und einem 6/8-Takt wechselt. Bei aller willkommenen Vertracktheit haben Fripp und Co. aus den Fehlern ihres Vorgängeralbums gelernt, gehen songorientierter zu Werke und wissen (wieder), wann sie einen Song beenden müssen. Ein aufgrund seiner Abwechslung und Unorthodoxität niemals langweilig werdender Klassiker!

Auf "Providence", dem bei einem Konzert im Juni 1974 mitgeschnittenen, großteils improvisierten achtminütigen Instrumentalstück, das meditativ beginnt und in einer instrumentellen Tour de Force endet, folgt schließlich der vielleicht beste, in jedem Fall aber emotional ergreifendste Song der King-Crimson-Diskografie: "Starless" war ursprünglich bereits für das Vorgängeralbum eingeplant, wie dessen Titel unmissverständlich zeigt, wurde aber nicht rechtzeitig fertig. Perfektionist Fripp feilte weiter am Arrangement. Was lange währte, wurde endlich … überragend.

Das Lieblingstasteninstrument des gemeinen Prog-Rockers, das Mellotron, gibt die zutiefst melancholische Grundstimmung des Jahrhunderttracks "Starless" vor, ehe sich Bill Bruford an der Percussion, Robert Fripp mit einer der wohl schönsten und einprägsamsten Gitarrenmelodien der Rockmusikgeschichte und ein die Silben dehnender John Wetton hinzugesellen. Wenn dann auch noch Mel Collins am Sopransaxofon einsetzt, wird auch der härteste Rocker weichgekocht. Nach fünf Minuten bricht der balladeske Teil des Songs abrupt ab, macht Platz für einen ausgedehnten Instrumentalpart, in dem sich Bruford und Fripp austoben, während Collins die harten Passagen mit weichen Saxofontönen konterkariert. Was zunächst nach einer Improvisation klingt, ist mitnichten aus einer entstanden. Nicht nur die Hörer, die das Glück hatten, "Starless" live erleben zu dürfen, wissen, dass Meister Fripp pedantisch darauf achtet, dass seine Mitmusiker kein Quantum von der Studioversion abweichen. Hier wurde kein Ton dem Zufall überlassen. Hegt man während des erstmaligen Hörens des Instrumentalparts mit seinen frippschen Stakkatoakkorden und brufordschen Hi-Hat-Malträtierungen vielleicht noch Zweifel an dessen Songdienlichkeit, lösen sich diese Zweifel in Minute elf in Luft auf, wenn Collins und MacDonald auf ihren Saxofonen inmitten der vermeintlichen Kakofonie unvermittelt Fripps zu Beginn des Stückes gespielte Melodie wieder aufnehmen. Und auch das Mellotron ist zurück, weint, wie nur es selbst weinen kann, zieht uns zusammen mit Brufords meisterhaftem Drumming in einen Sog, aus dem es kein Entrinnen gibt. Auf die Dissonanzen folgt die harmonische Erlösung.

Was gibt es nach einem Meisterwerk wie "Red", insbesondere nach dessen letztem Song, für einen Musiker im Bandkontext noch zu sagen? Nichts, denkt sich Robert Fripp. Der ausgebrannte Mastermind löst King Crimson nach der Albumtour auf. Sieben Jahre später folgt der Rücktritt vom Rücktritt, Fripp kehrt mit einer neuen, an den Sound der 1980er-Jahre angepassten "Inkarnation", wie das kauzige Genie es selbst formuliert, der Kultband zurück. So hörenswert zumindest das 1981er-Album "Discipline" auch ist: Die "Inkarnation" mit John Wetton und Bill Bruford bleibt unübertroffen.

Erst Jahre nach seiner Veröffentlichung erfährt "Red" die Achtung, die ihm gebührt. Sein Einfluss auf den späteren Avantgarde Metal gilt als immens groß. Hört man beispielsweise den Titeltrack oder die zweite Hälfte von "Providence" unvoreingenommen und vergleicht diese Songs mit zwei Jahrzehnte später entstandenen Werken von Bands wie Dream Theater oder Tool, kann man durchaus noch einen Schritt weiter gehen und in "Red" das erste Prog-(Proto-)Metal-Album der Musikgeschichte erkennen. In jedem Fall bereicherten Mr. Spock of Rock und seine Mitstreiter den Bombastrock im Jahr 1974 nicht nur mit einem fabelhaften Album, sondern vitalisierten das Genre auch mit einer bis dato nicht gekannten Härte. Robert Fripps implizite Message an die Freunde der Zwei-Akkord-Musik und des Viervierteltaktes: Prog's Not Dead!

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. Red
  2. 2. Fallen Angel
  3. 3. One More Red Nightmare
  4. 4. Providence
  5. 5. Starless

Videos

Video Video wird geladen ...

Weiterlesen

LAUT.DE-PORTRÄT King Crimson

Für die einen Genies, für die anderen verkopfte Spinner - an King Crimson scheiden sich die Geister. Unbestritten ist jedoch die Tatsache, dass die …

4 Kommentare mit 5 Antworten

  • Vor 8 Monaten

    Genial und neben dem Debüt sowie Discipline die beste Crimsom.

  • Vor 8 Monaten

    Danke! Grund, die Scheibe mal wieder aufzulegen

  • Vor 8 Monaten

    "Red" ist eines dieser Alben die fast jeder als Meisterwerk bezeichnet, die ich aber nur als gut bis sehr gut finde. Liegt wahrscheinlich daran dass ich KC in der Frühphase und später mit Belew lieber mag. Wetton als Sänger gefällt mir auch nicht so.
    Trotzdem ein würdiger Meilenstein!

  • Vor 8 Monaten

    Ja, Red ist ein verdienter Meilenstein. Neben dem Debüt die beiden Werke, die durchgängig auf hohem Niveau und inspiriert musizieren.
    Ich in meiner selbst sehe in der Geschichte vom Karmesin König, dem Teufel, 3 Phasen:
    I. 1969 - 1974: mit den beiden Top-Alben; dazwischen aber viel Material wo man nur wirklich auf Albumlänge bei 1-3 Titeln merkt, dass sie auch das Debüt oder Red "können".
    Insbesondere, Wake of Poseidon und Lizard, wobei ich WoP als eines meiner Lieblingsstücke von KC aufzähle.
    II. 1981-1984: die "Belew-Phase"; anders als I aber dennoch hörenswert und originell, wenn auch nicht mehr so gut. Man merkt hier das Songwriting, das Gitarrenspiel von Adrian Belew als stilbildende Elemente eingebettet in ein sehr tight spielendes Ensemble.
    III. 1994-20..: beginnend mit Vroom. Wieder eine Neuerfindung. Aber anders als II nicht nur ein wenig der vorigen Phase hinterherhinkend, sondern stark. Uninspiriert. Hart. Möglichst schräg und wenig gute Songs. Schade.
    Inzwischen Tour um Tour nur noch aufgewärmtes- vielleicht besser so.