laut.de-Kritik

Rock'n'Roll Revolution mit der Abrissbirne aus Detroit.

Review von

1968: Vor einem Gig in Detroit betrachten die Mitglieder von MC5 den gefüllten Konzertsaal, und was sie dort an den hinteren Wänden erspähen, gefällt ihnen gar nicht. An den Ausgängen haben sich Polizisten reihenweise postiert, nur darauf wartend, in den Auftritt der Band einzugreifen. Backstage nehmen sich daraufhin vier der fünf Rock-Revoluzzer ihren Sänger Rob Tyner zur Brust. Mehrmals versuchen sie ihm einzubläuen: "Egal, was du auf der Bühne machst, lass' bloß bei 'Kick Out The Jams' das 'Motherfucker' weg!"

Der Gruppe, die zu diesem Zeitpunkt bereits einige Erfahrung mit der unverhältnismäßigen Härte der Exekutive gemacht hat, schwant Übles. Ein derartiger Kraftausdruck bei einem Live-Konzert stellt in den USA Ende der Sechziger Jahre einen Affront gegen das Establishment dar und wird als Sittenwidrigkeit hart bestraft. Als die Band bei der heißen Textpassage ankommt, holt Tyner tief Luft und brüllt so verständlich wie nur möglich: "Kick out the jams, motherfucker!" ins Mikrofon. Was dann passiert, überrascht wohl keinen der Anwesenden. Kurz nachdem Rob Tyner die F-Bombe detonieren lässt, räumt die Polizei den Saal und buchtet die Störenfriede ein.

Mit dieser Attitüde untermauerten MC5 ihren unbändigen Freiheitsdrang, der in dieser Zeit durch die gesamten Staaten schwappte und sich auf in Musikern manifestierte, die künstlerische Grenzen ausloteten und nebenbei ganze Genres begründeten. Damals stand "Kick Out The Jams" für das Sprengen gesellschaftlicher Ketten. Heute für eines der wichtigsten Debütalben der Rockgeschichte. Wer nach den Wurzeln des Punks gräbt, stößt neben den Stooges mit Sicherheit auf diese energiegeladene Abrissbirne aus Detroit.

Die Motor City ist 1964 die Brutstätte für den harten, rotzigen Sound des Quintetts. Rob Tyner (Gesang), Wayne Kramer (Leadgitarre), Fred Smith (Rhythmusgitarre), Michael Davis (Bass) und Dennis Thompson (Schlagzeug) tun sich in diesem Jahr zusammen. Ihre Mission: Rock'n'Roll und Rebellion. Die dreckige, laute Industriestadt hält für die fünf jungen Männer eine überschaubare Auswahl an Perspektiven bereit. Sie entscheiden sich gegen einen Job in einer der Fabriken, die wie rauchende Kolosse die Skyline der Stadt einnehmen, und gründen stattdessen eine Band.

Die tiefe Verbindung zu Detroit macht sich gleich im Namen bemerkbar, den Rob Tyner für die Gruppe auswählt. Ihn erinnert die Kombination MC5 an eine Seriennummer für Autoteile. Erst später fällt der Gruppe auf, dass MC für Motor City stehen könnte. Oder Marihuana Cigarettes. Oder Much Cock. Oder Mongolian Clusterfuck. Die Liste ließe sich wohl ewig weiterführen, denn die MC5 waren bei der Bedeutungsfindung ihres Akronyms ebenso kreativ wie in der Musik. Im Detroiter Vorort Lincoln Park lassen sie täglich die Verstärkerröhren glühen und zimmern in ihrem Proberaum einen aggressiven Sound zusammen, der klassischen Rock'n'Roll, Hardrock und Blues zu etwas ganz Neuem fusioniert.

Auch mit ihren ekstatischen Live-Auftritten macht sich die Band schnell einen Namen. MC5 entfesseln auf der Bühne ein Inferno aus Riffs und Vocals, das aus den Vox-Verstärkertürmen auf das Publikum einschlägt. Ein akustischer Befreiungsschlag, den die ältere Generation als Untergang des Abendlandes erlebt. Dass die Eltern die Musik der Kinder nicht verstehen, ist wohl ein ewiger Zyklus, der sich mit jedem Generationswechsel wiederholt. In den Sechziger Jahren war der "Krach", der aus den Jugendzimmern drang, jedoch Ausdruck eines ernsthaften Konflikts, der sich durch die gesamte USA zog.

Der Vietnamkrieg und die Bürgerrechtsbewegung spalteten das Land. Massenproteste gegen einen brutalen und scheinbar aussichtslosen Kampf gegen den Kommunismus in Indochina eskalierten zunehmend, während die Regierung hinter jeder Demonstration eine rote Verschwörung vermutete. Nach dem Attentat auf Martin Luther King Jr. kam es zu heftigen Ausschreitungen in vielen US-Städten. Die Regierung antwortete darauf mit dem Einsatz der Army und der Nationalgarde. Die Staaten waren zuletzt beim Bürgerkrieg so zerrissen.

Der revolutionäre Sound von MC5 kanalisiert diese Stimmung und liefert der neuen Generation die musikalische Begleitung für die Revolte. Der Proto-Punk aus Detroit bläst nicht nur den Staub aus den Boxen, sondern läuft auch im Hintergrund, wenn die jungen Menschen den Muff aus den alten Gesetzen und Konventionen vertreiben. Bei einer Demonstration gegen den Vietnamkrieg in Chicago spielen MC5 ein achtstündiges Set, bei dem sie den Strom für ihre Amps aus einem Hot-Dog-Stand abzapfen. Kurz nach dem Auftritt stürmt die Polizei die Veranstaltung und setzt Tränengas gegen die Teilnehmer ein.

Immer wieder überwacht das FBI die Gigs der Truppe, die auch wegen ihrer Verbindung zu Michigans Hippie-Galionsfigur John Sinclair ins Visier der Behörden gerät. Der Manager der Band gründet zusammen mit seiner deutschen Frau Leni Sinclair die White Panther Party, in der sich weiße Bürger für die Rechte von Afroamerikanern einsetzen. John Sinclair fordert in der Agenda der White Panther die Legalisierung aller Drogen und die Befreiung der Soldaten. Dahinter dürften auch die MC5 stehen, die mit einer Menge LSD und Gras ihre Kreativität befeuern.

Nachdem sich MC5 bei zahlreichen Battles of the Bands gegen ihre Kontrahenten durchgesetzt haben, darunter auch Cream, wird Danny Fields auf die Truppe aufmerksam. Fields ist für den Bereich Artists and Repertoire bei Elektra Records zuständig. Er tätigt einen Anruf, der im Musikgeschäft heute legendär erscheint. Mit einem Telefongespräch nimmt er die MC5 sowie die Stooges um Iggy Pop, die ebenfalls aus der Motor City stammen, unter Vertrag. Mit dem Major-Deal ermöglicht Elektra Records den MC5 den nationalen Durchbruch.

"Kick Out The Jams" erscheint 1969 und transportiert die rohe Energie der Live-Performances direkt in die Haushalte der Fans. Produzent Bruce Botnick entschließt sich dazu, die LP als Live-Album im Grande Ballroom in Detroit aufzunehmen. Dort spielen die MC5 bereits seit einigen Jahren als Hausband, was die Session zu einem furiosen Heimspiel macht. Bevor die Band mit "Ramblin' Rose" ihren Einstand gibt, stimmt J.C. Crawford das Publikum mit einer inbrünstigen Predigt ein: "Are you ready to testify? Are you ready? I give you a testimonial! The MC5!" Crawfords Stimme überschlägt sich, während das eingängige Riff ihm das letzte Wort abschneidet.

Die fünf aus der Motor City denken nicht daran, langsam anzufahren. Pedal to the Metal heißt die Devise. In einem überdrehten Falsett quietscht Rob Tyner durch die Strophen, während Dennis Thompson wie ein Berserker auf seine Felle eindrischt. Dabei spielt die Band so on point, dass die Ekstase im Saal spürbar wird. Bassist Michael Davis beschreibt MC5 in einem späteren Interview als eine einzelne Person, was man ihm bei dieser Harmonie sofort abkauft.

Wegweisend bleibt auch die Experimentierfreude, die die Band auf der LP an den Tag legt. Hier meißeln die Jungs nichts in Stein, alles ist erlaubt. Die im Punk üblichen, schnörkellosen Zweiminüter scheinen immer wieder durch, doch die Truppe aus Detroit erweitert den Sound stets mit Tempowechseln, Noise-Experimenten und psychedelischen Passagen. MC5 schlagen mit einer Machete Pfade in den unerforschten Alternative-Dschungel, die später noch von vielen Generationen verfestigt werden sollen. "Come Together" gestaltet sich als eine solche Expedition. Tyner bellt fast orgastisch in die Dunkelheit und Gitarrist Wayne Kramer quetscht dabei sämtlichen Saft aus seiner Stratocaster. Möchte man hier eine Wortschöpfung bemühen, könnte Proggressive-Punk gut ins Bild passen.

Mit dem John-Lee-Hooker-Cover "Motor City Is Burning" tränken MC5 auch den Delta Blues in Blut und Schweiß. Der Track schreitet ächzend zu seinem Höhepunkt, ehe er glorreich im Effektgewitter ausklingt. Seinen psychedelischen Höhepunkt setzt das Album zum Schluss, als MC5 in fiebrigen achteinhalb Minuten Auszüge aus einem Gedicht des Jazzmusikers Sun Ra zitieren. Die flirrende Atmosphäre, die direkt aus einem schlechten Trip entnommen scheint, würde sich ebenso gut auf einem The-Doors-Album machen.

Abseits der Musik sorgt die LP ebenfalls für Aufregung. In den Liner Notes, die John Sinclair für "Kick Out The Jam" verfasst hat, beschreibt der White-Panther-Aktivist das kulturelle Modell hinter den MC5: "There is no separation. They live together to work together, they eat together, fuck together, get high together, walk down the street and through the world together." Die Beschreibung dieses Lebensentwurfs fällt für viele Plattenhändler zu deftig aus, weshalb sich die Läden weigern, die Platte in ihr Sortiment zu nehmen.

MC5 haben da so gar keinen Bock drauf und schalten eine Anzeige im Underground-Magazin "The Fifth Estate". Dort heißt es: "Kick out the jams, motherfucker! And kick in the door if the store won't sell you the album on Elektra. Fuck Hudson's!" Hudson's war ein Einkaufszentrum in Detroit, das sich ebenfalls weigerte, "Kick Out The Jams" zu verkaufen. Da die Band das Logo des Labels Elektra prominent auf der Anzeige platziert, reagiert Hudson's damit, sämtliche Elektra-Releases aus dem Sortiment zu entfernen.

"Whoops", denkt sich die Band und ahnt, dass sie damit den Bogen überspannt hat. Tatsächlich reicht es der Plattenfirma. Elektra schmeißt die MC5 nach nur einem Album wegen unprofessionellen Verhaltens aus dem Vertrag. "Kick out the band, motherfucker!" Das Vermächtnis der Band bleibt auf Elektra aber bestehen. "Kick Out The Jams" fängt wie kaum ein zweites Album den Umbruch in der US-Gesellschaft ein. Die damalige Generation widersetzte sich dem blinden Patriotismus, der bisher in der Nachkriegszeit herrschte, und kämpfte für mehr Freiheit, Transparenz und Frieden. Jeder wollte wissen, wie weit man gehen kann und wohin der Weg am Ende führt. Die MC5 haben mit "Kick Out The Jams" die musikalische Bresche dafür geschlagen.

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. Intro / Ramblin' Rose
  2. 2. Intro 2 / Kick Out The Jams
  3. 3. Come Together
  4. 4. Tall / Rocket Reducer No. 62
  5. 5. Borderline
  6. 6. Motor City Is Burning
  7. 7. I Want You Right Now
  8. 8. Starship

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LAUT.DE-PORTRÄT MC5

Detroit war schon immer eine Drecksstadt, und nur auf solchem Boden kann wahrer Drecksrock gedeihen. 1964 wagen es eine Handvoll Prä-Hippies in der Garage …

11 Kommentare mit 2 Antworten

  • Vor 6 Jahren

    Endlich mal wieder ein echter Meilenstein. Neben Iggy und seinen Stooges (und vielleicht noch Velvet Underground) das Bindeglied zwischen dem 60s-Garagenrock und dem 70s-Punk: Die folgenreiche Rückbesinnung auf die Wurzeln des Rock, als der Psychedelic Rock ausgeträumt war und der Prog-Rock zu verkopft wurde.

    In diesem Kapitel der Rockgeschichte wären dann auch The Monks, Sonics und die Modern Lovers einen Artikel wert. Beim Delta Blues ist Robert Johnson überfällig.

  • Vor 6 Jahren

    Hab ja überhaupt nichts dagegen wenn ihr ältere Reviews heraussucht und zu Steinen befördert (hätte ich nur einen Praktikanten für beschäftigt), zumal wenn sie es verdient haben, nur und da kommt der ätzende Speedi um die Ecke.

    Fehler in der Überschrift, gehören dann auch editiert. Oder hat die Technik der Lautredaktion das edit auch genommen?

    Das wäre unverzeihlich und ich würde kündigen als Praktikant und bei der Lokalpresse anfragen wegen Praktikum, grins. :D

    Die Überschrift lautet richtig: "MC5 - Kick Out The Jams (Live)"

    • Vor 6 Jahren

      Zur Info: Es gab vorher keine ältere Kritik. Die Kommentare wurden unter den leeren Albumlink geschrieben.

    • Vor 6 Jahren

      Verstehe, auch das kann man raus editieren Sven. Hab aber auch nichts dagegen wenn ihr eure komplette interne Komunikation offen legt. Bin immer für Offenheit in allen Belangen, Sven! Schnell weg und die Lokalpresse fragen, wegen Praktikum. :D