laut.de-Biographie
Mariybu
"Prio Nummer eins: niemals nach unten treten", gibt Mariybu im Interview mit dem Hip Hop-Magazin Juice ihre oberste Direktive aus. "Nach oben treten, wenn du selbst unterdrückt wirst - auf jeden Fall, aber thematisiere doch bitte nicht ohne dich zu schämen, wie du andere unterdrückst."
Furchtlos wirkt die Hamburger Rapperin und Produzentin, wie sie da ihren Moralkodex in zwei Sätzen auf den Punkt bringt, beinahe schon einschüchternd. Als habe sie Angst vor nichts und niemand und lasse sich weder von geltenden Regeln noch von der Mehrheitsmeinung diktieren, was sie sagen, wie viel von sich sie offenbaren darf, und was nicht.
Es war allerdings ein weiter Weg von der kleinen, schüchternen Marie zur schrill schillernden queerfeministischen Identifikationsfigur Mariybu. Auch sie bekam einst eingetrichtert, Mädchen haben doch bitteschön leise, unauffällig, freundlich, nett zu sein, bloß nicht zu laut, zu frech, zu provokant, zu viel. "Früher wollte sie es allen rechtmachen", beschreibt sie ein Mitbewohner gegenüber dem Hamburger Abendblatt.
Besonders leise war sie aber schon als Kind nicht. Bereits früh macht Marie Musik. Sie singt zu Hause mit ihren Schwestern, in der Schule im Chor. Zudem probiert sie sich an verschiedenen Instrumenten aus, bleibt jedoch bei keinem lange. Ihre Motivation für den Klavierunterricht meuchelt, so erinnert sie sich, ein unsensibler Lehrer: Von den stolz präsentierten Eigenkompositionen seiner Schülerin will er nichts wissen und verlangt statt dessen stur abgespultes Übungsprogramm.
Nicht Maries Ding, offenbar. Sie versucht sich kurzzeitig am Schlagzeug. Mit 15 gründet sie eine Punkrock-Band. "Da bin ich aber schnell wieder raus, weil ich zu schüchtern war zum Singen." Im Moshpit bei Konzerten, mittendrin in der allerersten Reihe, fühlt sie sich wohler. Mit 18 zieht sie zu Hause aus, auch, um dem ständigen Erwartungsdruck zu entfliehen.
Mit Hip Hop warm zu werden, dauert länger. Obwohl sie einst Tic Tac Toe gehört hat, verderben ihr sexistische Inhalte bald nachhaltig den Spaß. Obendrein findet sie in der cis-männlich dominierten deutschen Rap-Szene auch schlicht keine passenden Vorbilder.
Das ändert sich erst in den ausgehenden 2010er Jahren: Lina Burghausens Blog 365 Fe*Male MCs, der jeden Tag eine andere Rapperin porträtiert, eröffnet ganz neue Horizonte. Den Startschuss dafür, selbst aktiv zu werden, feuert Anfang 2018 eine Show ab, bei der die Rapperinnen Finna und Haszcara auf der Bühne stehen.
Marie ist geflasht, bekommt wieder Lust auf Rap, und schreibt direkt einen Songtext. Gezeigt hat sie ihn niemand, "viel zu persönlich", aber der Grundstein ist gelegt. Das nötige Selbstvertrauen hat sie sich in einer Therapie erarbeitet. Marie legt sich den Alias Mariybu zu und beginnt, ihre eigenen Beats zu produzieren, mit "viel Rumprobieren und YouTube-Tutorials", wie sie selbst sagt.
"Ich bin am Anfang ja davon ausgegangen, dass man das immer so macht. Dass, wenn man rappt, man auch immer selbst produziert." Dass das keineswegs der Fall ist, kapiert Mariybu erst später. Da hat sie sich das Handwerkszeug allerdings schon draufgeschafft und festgestellt: Was externe Pruducer*innen ihr zu bieten haben, bekommt sie selbst längst besser umgesetzt.
Der Weg ist also frei, lange in sich hineingefressener Zorn findet endlich ein Ventil. In Eigenregie bastelt Mariybu an ihrer Debüt-EP, die die titelgebende Depression in Wut und Aggression verwandelt. "? Pression" erscheint im Sommer 2020.
Inzwischen hat Maryibu den Gedanken an ein Masterstudium gegen den Traum, als Musikerin Karriere zu machen, getauscht. Mit Finna und zwei weiteren Rapperinnen gründet sie das Kollektiv Fe*Male Treasure, bei dem es den Beteiligten nicht nur um gegenseitigen musikalischen, sondern auch um menschlichen Support geht. Bald sind sie zu acht.
Unterstützung erfährt Maryibu auch außerhalb dieses Safe Spaces: Eine Mitkollektivistin überredet sie dazu, die Demos zu ihrer nächsten EP an Lina Burghausen zu schicken, die mit 365XX Records inzwischen ein Label aus der Taufe gehoben hat. "Ich hatte da niemals mit gerechnet, dass das klappt. Weil ich mich nicht als professionell genug gesehen habe."
Erneut erweisen sich die Selbstzweifel als unangebracht: Mariybu unterschreibt einen Deal, "Bitchtalk" erscheint 2021 bei 365XX. Der Hamburger Musikpreis Krach+Getöse beschert weiteren Rückenwind. Vor allem aber professionalisiert sich Mariybu, indem sie unermüdlich auftritt.
Musikalisch verschiebt sich ihr Spektrum mehr und mehr in den Hyperpop, und auch inhaltlich ändert sich manches: Statt nur ihrer Wut Ausdruck zu verleihen, gesteht Mariybu inzwischen auch ihrer süßen, soften Seite Raum zu, gibt nicht mehr nur die knallharte Bossbitch, sondern zeigt auch mal Schwäche. In "Toxic" verarbeitet sie eine durchlittene Missbrauchserfahrung. Vor allem aber thematisiert sie oft und gerne (queeren) Sex.
Warum auch nicht? Sollte man meinen, und doch eckt sie damit heftig an. Bei virtuellen Beleidigungen, Ekelhaftigkeiten und Drohungen bleibt es nicht: Bei einem Auftritt entert ein Mann, der sich "provoziert fühlt", die Bühne und schlägt auf Mariybu ein. Sichtlich erschüttert, erzählt sie hinterher ihren Follower*innen von dem Vorfall.
Einschüchtern oder gar stoppen lassen will sie sich von solch rückständigem Gebaren aber nicht. Im Gegenteil: Mariybu operiert weiter mit Volldampf wider das Patriarchat. Nach zwei EPs ist die Zeit zudem reif für ein Album: "Slaybae" erscheint im Frühjahr 2023.
Noch immer genießt oberste Priorität, niemals nach unten zu treten. Die zweitwichtigste Sache für Mariybu scheint aber der Zusammenhalt unter Frauen und Queers zu sein. Mit der Frage nach ihren Vorbildern rennen die Kolleg*innen von mopop.de bei ihr also offene Scheunentore ein: "Nicht nur eins", antwortet sie.
"Es gibt so unglaublich viele. Um ein paar Beispiele zu nennen: Mein ganzes Kollektiv Fe*Male Treasure, weil sie mir zeigen, was Solidarität ist. Rapperin Ebow, weil sie die schönsten queeren Songs macht, die es gibt, und einfach ihr Ding durchzieht. Die Künstlerin Keke, weil sie so stark und soft gleichzeitig ist. Und wie schon erwähnt, Lina Burghausen, weil sie seit Jahren gegen Sexismus im Hip Hop kämpft und niemals aufgibt."
Ihren eigenen Weg reflektiert Mariybu gegenüber dem Hamburger Abendblatt: "Sich von Strukturen und Denkmustern zu lösen, ist eine lebenslange Aufgabe. Ich habe krasse Schritte gemacht. Ich krieg' mein Leben geschissen, mache Musik. Das ist das, was ich liebe."
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