Porträt

laut.de-Biographie

Miss Baas

Zur Global Bass-Szene rechnet sich Nastya Aleksandrina a.k.a. Nastya Staisha. Doch als russische Frau springt sie aus einer Randposition in die Musikwelt von Diplo, angolanischen Kizomba-Afrohouse-Acts, Future Dancehallern wie Symbiz Sound, Trap-Digital-Funk-Folkern wie Schlachthofbronx oder Dubsteppern wie Skrillex. Andere Acts kommen aus Metropolen wie Berlin, München, London oder Lissabon. Doch die 1986 geborene - sie wummert sich aus einer marginalen Zone in eine sehr diffuse Szene, und noch dazu dominieren diese Szene vorwiegend Englisch, Portugiesisch, etwas Spanisch, doch kein Russisch.

Miss Baas - dahinter steckt außer Nastya ihr Lebensgefährte Sergej. Er produziert die Beats am Laptop. Sie sollen zugleich wie Roots Reggae, Dancehall und Bass Music klingen. Denn die Texte handeln von Roots-Themen, die Bass-Szene ist das erklärte Ziel, die Musik, mit der Nastya und Sergej sich identifizieren. Dancehall ist die Grauzone dazwischen, Dancehall nimmt aus beiden Bereichen Elemente auf. Schwerfällig rollende Hip Hop-Bässe wie im bissig-politischen "Barb Wire" über die unterdrückte Meinungsfreiheit in Russland ertönen auf der einen Seite - und dubsteppige, Jungle nahe stehende klappernde stark elektronifizierte Steppa Style-Beats brummen auf der anderen Seite des Miss Baas-Klangspektrums. Zieht man einen Strich unter alles, verkörpert das russische Duo textlastigen Future Dancehall mit tiefen Resonanzen.

Im Alter von vier, fünf Jahren, lebt Nastya in der Ukraine. Genau weiß sie es nicht mehr, nur: Es heißt damals noch "Sowjetunion", zumindest auf dem Papier. Ukraine, Russland, das zählt damals alles noch zu einem Staatsgebilde. Ihre Schulzeit verbringt sie im Großraum Moskau. Nastya und Sergej gehören zu einer Übergangsgeneration, die als Kinder noch im Ostblock hinter der Mauer aufwachsen und in ihrer Pubertät Öffnungen zum Westen als normale Sache erleben. Während sie erwachsen werden und sich beruflich etablieren wollen, setzt Putin auf Abschottung und engagiert sich gegen Liberalismus innerhalb der Gesellschaft. Für Nastya, die erst mit 29 anfängt zu kiffen, um kreativer beim Songwriting zu sein, bedeutet das nun ein Leben in Gefahr: Für die kleinste Menge Cannabisbesitz oder -konsum riskiere man in Russland, erzählt sie, zehn Jahre in Haft. "Aufgrund der Korruption: Die Polizei will dein Geld haben. Wenn du nichts ins Gefängnis möchtest, musst du der Polizei - für ein Gramm Gras - alles Geld aushändigen, das du hast.".

Erst spät, dafür intensiv tritt die Rasta Culture in ihr Leben: "Ganja Pride" lautet einer ihrer Slogans und der Titel eines Songs, den sie 2017 als Single herausbringt. Sie möchte, dass Ganja nicht unbedingt aktiv legalisiert wird, aber anders herum betrachtet: entkriminalisiert. Für sie überwiegen die anti-karzinogenen Inhaltsstoffe. Im weltweiten Bekanntenkreis hat sie beobachtet, dass Cannabis medizinische Wirkung hat. Den Geruch eines Joints mag sie, allerdings pur und ohne die in Reggae-Heimat Jamaika beliebten Zusatzaromen: "Ich weiß, dass Chronixx mit Chalice, also über eine Wasserpfeife raucht. Aber das mag ich nicht.".

2016 erscheint die erste EP von Miss Baas, unter diesem Namen und im Genre-Mix zwischen Roots und Hip Hop. Auf Englisch. Der Weg zum Hip Hop entwickelt sich in mehreren Steps, beginnend mit Nastyas Musikgeschmack. Michael Jackson-Soul, Gospel und R'n'B ziehen den Radius, innerhalb dessen die junge Russin anfangs ihre eigenen Texte und Melodien für ihr Projekt Miss Baas schreibt. Ihre eigentliche erste Platte nimmt sie unter dem Namen Staisha auf Russisch auf. 2004 erreicht ein Song dieser Debütscheibe die russischen Top 100. Doch sie fühlte sich mit dem Hit unwohl, der Text entspricht nicht dem, was sie ausdrücken will: Es geht um Liebe und gebrochene Herzen, Themen aus dem R'n'B-Pop, den sie damals hauptsächlich macht. Autobiographisch findet sie den Liebeskummer im Rückblick, denn damals kannte sie ihren Sergej noch nicht.

Heute möchte sie das Album gerne vergessen machen, obwohl sie immerhin etliche russische Acts dazu bekam, darauf als Featured Guests mitzumachen. Die Platte ist nicht mehr erhältlich, denn Nastya will sich als Miss Baas ein ganz anderes Image aufbauen. Zwischenzeitlich versucht sie sich 2007 erst an einem weiteren Karrierestrang, an der Schnittstelle zwischen Reggae und Soul: Sie covert für eine Casting-TV-Show "Shy Guy", einen der kommerziell gesehen größten Dancehall-Hits aller Zeiten, aus dem Jahr 1995, von Diana King. Das Casting-Rennen entscheidet die im Jazzgesang ausgebildete junge Russin für sich. Mit Hilfe von Noize MC, einem einflussreichen Rap-Producer, folgen weitere Singles. Die Sprache ist fortan weiter Russisch, doch der Sound härter, Hip Hop-lastiger, so in "Notes Of The Soul" (2009, als "???? ????") und "Ctrl-Alt-Del" (2010) - letzterer Titel erklimmt den Einstig in die Rotation des russischen MTV-Kanals und läuft in den "Russian Top Ten".

Nastyas Schwester stirbt 2010 bei einem Autounfall. Der Fahrer des Unfallgegners stellt sich als stellvertretender Geschäftsleiter des korruptionsverdächtigen Großkonzerns Lukoil heraus. In den Songs "Mercedes S666" und Mercedes 777" verarbeitet sie den Schicksalsschlag und die politischen Hintergründe. Denn der Erdöl-Manager kommt straffrei davon, obwohl er mutmaßlich die Schuld am Unfall trägt. Das Album "Not Included And Unreleased" ("?????????? ? ??????????") erscheint 2011 nur in Russland, dann folgt eine lange Pause und ein Gesinnungswandel. Nastya entdeckt Grime für sich, will im Ausland gehört werden und trainiert fleißig Englisch.

Auf "M1553225", der Quasi-Debüt-EP, befinden sich sehr charakterstarke Songs. Außer dem über Jojo-Beats schwingenden, lockeren "Ganja Pride" beinhaltet der Querschnitt den rootsigen Uptempo-Steppa "Run Dat", das genannte, atmosphärische, stringente, soziopolitische und spannende "Barb Wire" und das schwingende "Palm Shot", ein Party-Song mit einem Gast namens Rusty K. Friedenslyrik mit Hinweis auf Mahatma Ghandi vermengt sich mit am Ende mit sägenden Tönen. Der Titeltrack "M1553225" zeichnet sich durch digitale, harte, dubbige Töne aus, "and none of these sounds come out of the speaker of my laptop", dabei erklingt genau hier fast reine Laptop-Musik.

2017 folgen "Dat Choon" zusammen mit dem englisch-karibischen Dancehaller Gappy Ranks und das sehr elektronische "Go Deep" mit Mikhail Kozodaev, 2018 "M.A.D.L.", eine Single in zwölf Sprachen: Russisch, Polnisch, Ukrainisch, Englisch/Patois, Französisch, Italienisch, Spanisch, Portugiesisch, Hindi, Hebräisch, Arabisch, Chinesisch und Deutsch. Das Kürzel "M.A.D.L." steht für "Music A De Language", und der Sound klingt nach arabisch beeinflusster Fusion aus Rai, Raggamuffin und gesampelten indischen Instrumenten. Als Ergebnis einer Reise durch mehrere europäische Länder veröffentlicht sie "Turn Me On" mit dem Holländer Afrobeats-Experten GodWonder und "Pass De Light" mit dem belgischen Dancehall-Rotierer DJ Septik.

Mit dem Klassik und Drum'n'Bass fusionierenden Tune "Up Yer Bass!" in dunkler Klangfarbe erscheint Anfang 2019 ein dritter Vorbote ihres Albums "FRoots", das sie in Eigenregie fertiggestellt hat. Doch unter dem Namen "FRoots" will sie es nicht herausgeben, denkt man dabei zu sehr an Roots und will sie in eine andere Musiksparte vorstoßen. Miss Baas bleibt auf der Suche nach einem finalen Namen für ihr Genre.

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