laut.de-Kritik
Eine Überdosis für Einsteiger, ein Muss für den Fan.
Review von Mathias MöllerGut ein Jahr ist es her, da schlugen My Chemical Romance in die hiesige Szene ein wie eine Bombe. Solch einen Mördersound hatte man lange nicht gehört. Diese brutalen Gitarren und dieser leidenschaftlich leidende Gesang, die sich trotz aller Düsterkeit zu wunderschönen Melodien verbanden. Gut, die Musik richtet sich wohl eher an eine Zielgruppe, der ich längst entwachsen sein sollte. Aber, wo die Liebe hinfällt ... Und nun kommt - "Three Cheers For Sweet Revenge" ist kaum erkaltet - "Life On The Murder Scene", eine Live-Werkschau der Fünf aus Jersey.
Honni soit qui mal y pense, spricht der Hosenbandorden in solchen Fällen. Und tatsächlich beschleicht mich das Gefühl, die Plattenfirma möchte die fette Katze melken, bevor sie in die Gruft der One-Hit-Wonder fährt. Zwei DVDs und eine CD klingen erstmal amtlich, allerdings macht sich Enttäuschung breit, als der Player bei der Live-CD 35 Minuten anzeigt. Mehr geht nicht? Bleiben noch die DVDs, und da kommts dann ganz dicke. Zweimal gut zwei Stunden Spielzeit. Sitzfleisch, verlass mich nicht!
Die erste DVD verspricht nicht mehr als ein "Video Diary" und mir schwant Böses, muss ich doch gleich an bekannte MTV-Formate denken, "A day in the life of ..." Aber wie untertrieben ist "Video Diary" denn bitte? Zwei Stunden Bandhistory von der frühen Kindheit der Way-Brüder bis zum Status quo und den Überlegungen zum nächsten Album. Der Fan bekommt intime Einblicke in Gerards Kinderzimmer, seine Alkoholexzesse, erfährt, dass mit Frank Iero und Bob Bryar zwei richtige Fans der Band an Bord genommen wurden und wie Monstermähne Ray Toro mit geglätteten Haaren aussieht. Einziger Schwachpunkt: Der erste Drummer Matt Pelissier wird mit keinem Wort erwähnt. Da sind scheinbar noch alte Rechnungen offen.
Für MCR-Einsteiger sicher eine Überdosis an Information und Eindrücken, ist "Life On The Murder Scene" ein absolutes Muss für den treuen Anhänger. Aufwändig gemacht, kommen alle Bandmitglieder ausführlich zu Wort. Gerard spricht ungezwungen über seine Schwierigkeiten mit Alkohol und Drogen. Man sieht ihn in Momenten, in denen er sich ganz unten befindet. Aber gleichzeitig trifft man auf fünf junge Männer, die die Welt erobern wollen und dabei einen Riesenspaß haben. Viele Leute aus dem Bandumfeld sprechen über die Entwicklung von My Chem, wie Freunde sie nennen. Ihr Manager, Bert McCracken von The Used oder die Familienangehörigen geben ihren Senf zum Besten.
Zwischendurch sieht man die Band immer wieder live -drinnen, draußen, auf kleinen Bühnen zu Beginn ihrer Karriere oder in Europa, in Riesenhallen in den USA. Was für großartige Musiker da stehen, wird einem erst nach und nach bewusst. Vor allem Drummer Bob und Gitarrist Ray lassen es richtig krachen. Und der zweite Axtmann Frank ist auch für die Nachwelt festgehalten, einer der irrsinnigsten Gitarristen, die ich je gesehen habe. Dass er mit seiner Gitarre Bandkollege Ray den Kopf aufgeschlitzt hat, ist ja mittlerweile Legende, aber hier tritt er Sänger Gerard vor hunderten Zuschauern ohne Vorwarnung in die Eier und springt von der Basedrum auf Schlagzeuger Bob. Nur Basser Mikey wird - wie durch ein Wunder - von dem unbändigen Kurzen verschont.
Richtig beeindruckt bin ich allerdings, als sich Sänger Gerard auf einer dieser Festivaltouren vor ausverkauftem Haus gegen den penetranten Sexismus einer mitgereisten Band ausspricht. Soviel Correctness hätte ich von MCR nicht erwartet. Groupies? Fehlanzeige. Reife Leistung, meine Herren.
Keine Frage, diese Band ist verdammt schnell richtig groß geworden, eine Sache, die Sänger Gerard sicher auf dem Weg in die Abhängigkeit geholfen hat. Dass sie sich mittlerweile gefangen haben, wird auf "Life On The Murder Scene" ebenso offensichtlich, wie die Tatsache, dass sie noch längst nicht ausgebrannt sind. Die zweite DVD beeinhaltet verschiedene Konzertausschnitte, Fernsehauftritte und Performances für Download-Portale. Tontechnisch allesamt in guter Qualität, sind sie leider etwas knapp geschnitten, so dass kaum Liveatmosphäre aufkommt. Und dass man auf einer DVD fünf Mal den Überhit "I'm Not Okay (I Promise)" unterbringt, ist doch dezent übertrieben.
Dafür gibt es zusätzlich die allesamt großartig inszenierten Videos zu - wie könnte es anders sein - "I'm Not Okay (I Promise)", "Helena" und "The Ghost Of You" inklusive Making-Ofs. Nach vier Stunden und ein paar Minuten ist dann alles vorbei, und die kurze Livd-CD vergessen und vergeben. Zumal sie soundmäßig durchaus akzeptabel klingt. Eine nette Beigabe zu einem superfetten DVD-Package, das die Hoffnung nährt, dass es bald wieder neues Studiomaterial von My Chemical Romance zu hören gibt.
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