laut.de-Kritik

Mit Neo Prog durchs Alte Testament.

Review von

Tief ist der Brunnen der Vergangenheit. Die Erzählung Josef und seine zwölf Brüder handelt die Bibel in Genesis, 1. Mose 37-50, kurz und knapp ab. Viele Experten sehen in der Josefs Geschichte die alttestamentarische Entsprechung der Heilsgeschichte Jesu.

Thomas Mann hatte für die archaische wie archetypische Geschichte als Weltkriegsexilant etwas übrig und erschuf aus der spärlichen Vorlage ein vierbändiges Kompendium. Neal Morse, der Thomas Mann des Neo Prog, baut aus der Vorlage immerhin ein Doppelalbum, wovon der erste Teil 2023 und der zweite 2024 erscheint. Das Leben und Wirken des Gottes Sohn hat Morse 2019 als "Jesus Christ The Exorcist" als Rock Musical behandelt. Nun wandelt der Metrenprotz mit seinen Quintenzirkeltrainings auf den Spuren des von Gott begnadeten Josef.

Man kann Morse kaum Untätigkeit vorwerfen. Doch entsteht seit 2019 nur noch ein weiteres songorientiertes Format der Neal Morse Band ("Innocence & Danger") sowie ein Werk von Transatlantic ("The Absolute Universe"). Insofern hatte der Meister ausreichend Zeit, Gedanken zu pflücken, auf Papier zu bannen und anschließend aufzunehmen. Der Träumer und Traumdeuter Josef, der den Menschen das erklärt, was sie sich vorstellen, bietet für Sinnsucher Morse die Hintergrundfolie.

Die instrumentale Ouvertüre gehört zum Besten, das der göttliche Gärtner der Prog Rock-Ranken in den letzten Jahren geschrieben hat. Das Surren einer Fliege wird zu einem gemeinschaftlichen Summen, das kurzen Wohlklang offenbart, dann aber zum Fenstersims zur Finsternis aufbricht. Ein dissonanter Part voller Brüche und Umwege ebnet den Weg zum harmonischen Wahnsinn, der in der Folge den Hörer erwartet.

Dabei folgt Morse der linearen Erzählung in Form einer Song-orientierten Konzeption. Es gibt nur wenige wiederkehrende Themen und schon gar keine mehrteilige Epen. Zusammenhalt erfährt die Story durch die tolle Gesangsleistung der Gäste. Morse himself mimt Josef, nachdem er beim letzten Musical nur Nebenrollen besetzt hatte. Ted Leonard, Fronter von Spock's Beard und bereits der Jesus-Darsteller im letzten Musical, übernimmt die Rolle von Judah, während Jake Livgren, Neffe von Kansas-Urgestein Kerry Livgren, den unerbittlichen Sklaventreiber gibt.

Fern von frömmelnder Sinnsuche lassen insbesondere die Balladen das Wasser über die Ufer treten. "Ultraviolet Dreams", "Wait On You" oder das mit einem Weltklasse-Refrain ausgestattete "Before The World Was" warten allesamt mit sehnsüchtigen wie süchtig-machenden Melodien auf und präsentieren je grandiose Gitarrenspots von NMB-Saiten Ass Eric Gilette und Ex-Deep Purple Gitarrero Steve Morse.

Die Frauenfigur erfährt gesondert Erwähnung. Die Gattin des Eunuchen Potifar buhlt nach Josefs Verlauf an einen ägyptischen Hausherren im Dienste des Pharaohs um dessen Liebe. Was die Bibel nur andeutet, führt Morse weiter aus. Seine Töne formt Talon David in ein beeindruckendes Spiel aus Gefühlswelten, in deren Verlauf auch Meister Morse als Joseph die Sinne schwinden. Doch schließlich bleibt der Gottgesandte standhaft und widersteht der Versuchung.

Morse muss man mögen. Ist er nicht ganz dicht oder ein begnadeter Tondichter? In jedem Fall tat die Pause seiner Bibel-Exegese gut. Nach dem deutlich schwächeren Konzeptalbum "Sola Gratia" über den Apostel Paulus schillert Joseph bedeutend bunter, wie es dessen Mantel auf dem Artwork illustriert. Eine Idee für das kommende Konzept sei gestattet: Wie wäre es mit einer Vertonung von "Winnetou und die Apachen" mit Country-Musik?

Trackliste

  1. 1. Overture
  2. 2. Prologue/Before The World Was
  3. 3. A Million Miles Away
  4. 4. Burns Like A Wheel
  5. 5. Liar, Liar
  6. 6. The Pit
  7. 7. Like A Wall
  8. 8. Gold Dust City
  9. 9. Slave Boy
  10. 10. Out Of Sight, Out Of Mind
  11. 11. Wait On You
  12. 12. I Will Wait On The Lord
  13. 13. Overture Reprise
  14. 14. Ultraviolet Dreams
  15. 15. Heaven In Charge Of Hell (Eat ‘Em And Smile)
  16. 16. Why Habe You Forsaken Me?

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1 Kommentar

  • Vor 8 Monaten

    Puh, dieser Einstieg ist tatsächlich ungefähr so eingängig wie ein französisches Abendessen :(

    Danach wird es dann wiederum aus anderen Gründen für mich schwer verdaulich:
    (Fast) Alle anderen Songs viel gefälliger, aber auch viel zu oft irgendwie cheesy. Dann dieser halb nickelbackige, halb tobiassammetige Gesang ständig und die Lyrics, die ich entweder in ihrer Doppelbödigkeit nicht durchschaue oder aber zu Recht eher im Music-Summer-Kämp der jungen Union verorten würde.

    Paar mal hat es mich aber dann doch mitgerissen:
    Wenn ich die Gesangsspuren zumindest in den Strophen mental mute, dann kommen "Ultraviolet Dreams" und "Heaven in Charge ..." ganz geil, finde ich.
    Und "Gold Dust City" würde ich fast Hit-Potential attestieren, der gefiel mir sehr gut! :)

    Ansonsten ist das Albumcover natürlich verdächtig farbenfroh, gerade bei der christlichen Thematik - Ob da auch diese Krasavice ihre Finger im Spiel hatte?