laut.de-Kritik

Als europäischer Hip Hop aus dem Underground an die Oberfläche kam.

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Rau, direkt und furchtlos bricht "Raw Like Sushi" los. Die Texte nutzen sinnliche, visuelle und haptische Wörter. Die Musik erlaubt sich ein gewagtes Wirrwarr an Stilen. Die Sängerin mutiert zur Rapperin, zum anfeuernden MC und zur Kommentatorin. Einiges spricht dafür, das Aufkommen von weiblichem Rap ab diesem Album als mess- und sichtbar einzustufen. Der neue Ansatz: Breakbeats und Spoken Word mit schrägem Pop zu kreuzen.

Nenehs Pose vorne auf dem CD-Cover symbolisiert Entschlossenheit. Entschieden, etwas Neues zu wagen, entwickelte die Künstlerin angejazzten Punk und Dub weiter und landete stilistisch beim Titel "Kisses On The Wind". Trotz seiner pop-konträren Gestaltung mit kakophonischem Krach und improvisierten Störakkorden erreichte der Track gute Chartsplatzierungen: Platz 9 in der Schweiz, 8 in den USA, 23 in Deutschland.

Das sehr Synthesizer-selige Stück "Love Ghetto" entspricht den damaligen Hörgewohnheiten stärker. Es schmiegt sich weich an die Lautsprecher an und weist erst gegen Ende ein paar Dissonanzen und schräge Reibungen auf. Der Text erschließt sich erst bei genauem Hinhören. Er zeichnet eine Liebesbeziehung ohne Feuer und Frische nach, die nach Ansicht der Song-Heldin besser aufgelöst als weiter erzwungen gehört.

Neneh spielt mit dem bildlichen Setting eines Meeres, eines Hafens und einer Insel. Dabei hinkt das Bild wohl bewusst: "You could have reached for me / saved me from lying and I wanted to touch you. / But I was stuck on my island / With a puddle of misunderstanding like a sea between us. When we anchored our love in the harbour seems so long ago." Während sich in der Beziehung die eine auf ihre Insel festnagelt, steckt der andere in einer unerreichbaren Zone. Zwischen beiden liegt eine "Pfütze" in Form eines Missverständnisses. Diese Pfütze nimmt das Ausmaß eines Weltmeeres an, während die Liebe ihren "Anker" schon lange nicht mehr im "Hafen" ausgeworfen hat.

Viele der Zeilen auf "Raw Like Sushi" verdichtet die damalige Newcomerin ähnlich betonhaft. Die Lyrics reimen sich selten und vor allem nicht auffällig. Nur vier Songs auf der Platte enthalten mehr als zwei, drei Punkte, in denen typische Formen des Reimes auftauchen, wie End-, Kehr- oder Kreuzreime. Neneh textet nach gänzlich anderen Kriterien und macht sich dadurch für das frei, was sie wohl tatsächlich sagen möchte. So bezieht dieses Debütalbum eine Menge Energie aus seiner Wortgewalt. Dabei entspinnt sie im "My Bitch (Bonus Track)" auf der Grundlage von Funk-Rhythmik ihren Sprechgesang auf so selbstverständliche Weise, dass man den Song für einen Freestyle halten könnte.

In "The Next Generation" stellt sich Neneh nach einem mehrsprachigen Intro auf einem Latin-Rhythmus Babys vor, und zwar Viertel-Puertorikaner und Drittelchinesen, "any combination you could possibly imagine", und dann malt sie eine hässliche Szene an die Tribal Beats-(Klang-)Wand. Ein Säugling wird für 50.000 Pfund auf dem "Schwarzmarkt" verhökert. Die Story entfaltet sich aus der Sicht eines Menschenhändlers.

"Raw Like Sushi" spannt hier bereits die politischen Bögen, die Nenehs späteres Album "Broken Politics" 2018 in nahezu jedem einzelnen Song schlägt. Als einer der härteren Tracks auf der Platte profiliert sich das dagegen unpolitische "Heart", besonders in der "Heart (Demo)"-Fassung als Rap-Tune aufzufassen. "Chocolates, bananas, doughnuts and salami - Aint gonna fit, coz you're full of boloni" lautet eine der absurden Textpassagen.

Die "Sushi"-Songs liegen weit zurück, üben aber im damaligen Zusammenhang eine Ventilfunktion aus. Diese Titel datieren in eine etwas eigenwillige Zeit, die Phase des sich andeutenden Endes des 'Kalten Krieges'. Eine große Wende ereignete sich auch in der Musik. Hip Hop rollte unaufhaltsam heran, reiner Soul und Funk verschwanden weitgehend. Während es Eurodance noch lange nicht gab, drängten euphorischer Techno und Rave die vorher kalten Mainstream-Synthies zur Seite und verbreiteten sich in einer Underground-Kultur gerade an Orten scharfer Umbrüche. In verschiedenen Städten in England schossen die Stile recht unabhängig voneinander aus dem Boden. Neneh legte in Bristol Hand an die Entstehung des Trip Hop. "Raw Like Sushi" pendelt zwischen den elektronisch erzeugten Anteilen und dem gleichwohl songwriterischen, organischen Charakter der Platte.

Als Trip Hop ließe sich abschnittsweise ihr Song "Manchild" betrachten. Die sphärischen Töne des Refrains und der dubbige Dauer-Groove in Kombination mit Nenehs Sprechgesang qualifizieren "Manchild" dafür, wobei man wegen der Basslastigkeit auch Drum & Bass dazu sagen könnte. Nimmt man den "Manchild (The Old School Mix) (Bonus Track)" zeigen sich kräftiger die Anteile des Hip Hop an diesem Track, der letztlich als der erste Charts-Song in Europa gelten kann, auf dem eine Frau erkennbar rappt. Das grelle Original-Video zu "Buffalo Stance" platziert prominent den scratchenden DJ ins Bild.

Die gebürtige Schwedin Neneh Cherry zieht es in ihre zweite Heimat New York, nicht nur weil dort der Rap pulsiert. Im verträumten Pop-Song "Inna City Mamma" bearbeitet die Songwriterin ihre Identität als Teilzeit-Amerikanerin. Ihr Stiefvater Don Cherry hatte in New York seinen Lebensmittelpunkt, und als Kind gewöhnte sie sich daran, dorthin zu pendeln. Ihre Eindrücke beschreibt sie im Interview sehr konkret und plastisch, in diesem Song hingegen auf einer abstrakten emotionalen Ebene.

Die Großstadt droht sie zu überfordern, obwohl diese stets Zielscheibe ihrer Sehnsüchte war. Es entfesselt sich ein Kampf mit der Metropole, denn NYC hält viele Möglichkeiten bereit, doch der Mensch muss die Stadt kontrollieren und sie sich Untertan machen, sie gar aufessen, ihr müssen die Adern ausgequetscht werden, und der Stadtgast muss zu ihrem inneren Kern vordringen: "I'll eat you up / I'm gonna touch you where you've never been touched before / And by your spine I'll bruise your veins and touch your very core" Das verschachtelte Treiben des Schlagzeugs untermalt den inneren Konflikt zwischen Neugier und Abscheu.

Das Spiel mit konträren Stimmungen taucht öfter auf. "Turn around / ask yourself", dieser Slogan lenkt schlagartig von mauligem Beschwerdemodus zu entspannter Nachdenklichkeit. Sicher trägt die hymnische Melodie des "Manchild"-Refrains massiv zur Ohrenöffnung des Publikums bei. Auf Videoclip-Ebene drängt sich auch der feministische Plot von "Buffalo Stance" auf. "That's the girls on the block with the nasty curls / Wearing padded bras sucking beers through straws" Aus Sicht von sexsüchtigen Männern beschreibt Neneh, wie diese die Frauen beobachten, ja taxieren: 'da kommen sie wieder mit ihren widerlichen Locken und gepolsterten BHs und trinken Bier in Strohhalmen.' Neneh stellt klar: Die Frau in dem Song will niemanden, der sie mit Geld beeindruckt, kennen lernen. Denn: "It's sweetness that I'm thinking off."

"No moneyman can win my love" fabuliert sie inmitten der dreckigen Viertel, in denen Statussymbole regieren. Das goldene Dollar-Kettchen auf dem Cover-Rücken der CD baumelt ihr aus sprudelnder Ironie um den Hals. "Raw Like Sushi" verdient genau diesen Albumtitel, weil die Musik keine hundert Phasen von Überarbeitungen durchleidet. Statt sich X Mal abkochen und würzen zu lassen, regiert das Chaos in dieser Klangpaste, die mal hart, mal weich, mal scharf, mal mild wirkt. Kein Song folgt einem wiederkehrenden Strickmuster. Die Abmischungen streifen den Demo-File-Charakter alle nicht ganz ab. Es scheppert im Sound, der Bass überwummert eigentlich alles zu sehr, aber genauso wünschte sich Neneh das wohl, "süchtig nach Bass".

Den auf dem Erstling eingeschlagenen Stil verfolgt die Schwedin auf dem Nachfolger kaum weiter. "Homebrew" hebt sich als vergleichsweise saubere Produktion mit deutlich ruhigeren Songs, weniger aufpeitschenden Hooklines und weitaus mehr Melancholie ab. Erstes und zweites Album stimmen in der hohen Qualität wie auch dem Stil-Clash überein.

Doch wo "Homebrew" introspektiv, überlegt und der Stil-Crossover smooth klingt, wirkt "Raw Like Sushi" spontan, eklektisch und wie ein Überfall: eine geladene Pistole, am Anschlag, um Wortsalven abzufeuern. Wo die zweite Platte gleichmäßig fließt, rattert "Raw Like Sushi" gezielt über rhythmische Bruchstellen und verlangt dem Hörer die Bereitschaft ab, Breakbeats als Element im Pop zu tolerieren. Später wandern Scratching, Samples, Raps, Ghetto-Themen und der entsprechende Klamottenstil aus dem Hip Hop in viele Musikstile weiter. Breakbeats dagegen kaum. Zumindest in bekannter Hit-Musik bleibt die "Sushi"-Musik unique.

Neneh Cherry befördert 1989 europäischen Hip Hop aus dem Underground an die Oberfläche. Während die nächsten 'großen' Alben mit Hip Hop-Passagen von Technotronic oder Snap erst ein halbes oder ganzes Jahr später auf ihr "Raw Like Sushi" folgen und stark in Richtung elektronischer Clubmusik zielen, setzt Neneh Maßstäbe. Während in den südeuropäischen Ländern in den Achtzigern kaum Rap-Alben entstehen und kaum Labels dafür existieren, blüht die skandinavische Szene zaghaft auf. Zu denken wäre etwa an den Song "Got To Get" der Schwedin Leila K., stimmlich wie stilistisch sehr ähnlich zu Nenehs "Buffalo Stance".

Doch die musikhistorische Bedeutung und die verblüffenden Momente von "Raw Like Sushi" erklären nicht alles Faszinierende. Clever ist auch das Tracklisting: Die ersten drei Songs des Albums fungieren zugleich als Single-Hits Triple Play, ein seltener Köder beim CD-Kauf. "Phoney Ladies" und "Outré Risqué Locomotive" eignen sich als eher spaßige Tanzflächen-Tracks - andere Titel loten Tiefen und Untiefen der Zivilisation aus. Was aber so sehr ansteckt, das bringt das freche "So Here I Come" auf den Punkt: die Attitude des Albums, das Ungeschliffene, 'ich frage nicht lange, hier bin ich einfach.' Oder, wie in "The Next Generation": "Ain't That Right? - Right. So right." Neneh klingt so ungestüm und wild, wie sie im Booklet und auf der Cover-Rückseite ausschaut.

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. Buffalo Stance
  2. 2. Manchild
  3. 3. Kisses On The Wind
  4. 4. Inna City Mamma
  5. 5. The Next Generation
  6. 6. Love Ghetto
  7. 7. Heart
  8. 8. Phoney Ladies
  9. 9. Outré Risqué Locomotive
  10. 10. So Here I Come
  11. 11. My Bitch (Bonus Track)
  12. 12. Heart (It's A Demo) (Bonus Track)
  13. 13. Buffalo Stance (Sukka Mix) (Bonus Track)
  14. 14. Manchild (The Old School Mix) (Bonus Track)

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