laut.de-Kritik

Das musikalische Äquivalent zu Hieronymus Bosch.

Review von

Nach seinem letzten Studioalbum "Hesitation Marks" widmete sich Trent Reznor zusammen mit Atticus Ross vorwiegend der Komposition von Filmsoundtracks, unter anderem für "Gone Girl", Leonardo Di Caprios Klimawandel-Doku "Before The Flood" oder "The Girl With The Dragon Tattoo". Der Sound ließ von frühen Nine Inch Nails-Werken gewohnte Aggressivität vermissen. Nach drei Jahren voller musikalischer Ausflüge knüpft "Not The Actual Events" nun an den Sound der 90er an, obwohl Soundtrack-Kompagnon Ross mittlerweile auch fest zu den Mitgliedern der Band zählt.

Wer auf "Not The Actual Events" erneut mit seichtem Minimalsound gerechnet hatte, bekommt erst einmal eine in die Fresse. Es geht hart und aggressiv zur Sache, wie zu Zeiten von "Pretty Hate Machine". Gitarrenwände und Synthiegerüste kommen mit gewaltiger Wucht angefahren. Reznor und Ross haben während ihres Abstechers nach Hollywood wohl eine Menge Wut aufgestaut. Die entlädt sich hier mit seit langem nicht mehr gehörter Gewalt.

"Branches/Bones" eröffnet mit brachialem Synth-Bass und einer kreischenden Gitarre, die im teilweise extrem verzerrten Gesang ihr Spiegelbild findet. Die knapp zwei Minuten steigern sich beinahe bis zur verrauschten Unkenntlichkeit, um am Ende abrupt abzubrechen.

"Dear World" agiert vergleichsweise ruhig und bildet den elektronischsten Track der EP. Synthesizer-Sounds dominieren, Gitarre ist nur ab und an in dezenten Ausbrüchen im Hintergrund wahrzunehmen. Der elektronische Sound steht in Korrespondenz zu den Lyrics: "Pictures and faces / On display / With people who aren't here" lässt sich als Kommentar auf eine Welt und in ihr lebende Menschen verstehen, die mehr und mehr im Cyberspace, auf Bildschirmen existieren.

Überhaupt bilden Fragen nach Realität, Identität, Virtualität, Wahrnehmung bis hin zur Schizophrenie das lyrische Fundament der Platte. Wer bin ich? Wer sind die anderen? Was ist real? Was sind die wirklichen Ereignisse? Derlei Themen greifen die fünf Tracks immer wieder auf und beantworten sie teils, teils bleiben sie unbeantwortet.

"She's Gone Away" besticht mit tadellosem Industrial-Sound. Martialische Drums trommeln wie der Dampfhammer im Stahlwerk, der Bass spielt stoisch seine Spur, und die Gitarre bricht wie eine Kreissäge aus dem Hintergrund hervor. Das klingt wie das musikalische Äquivalent zu einem Hieronymus Bosch: verdammt angsteinflößend.

"The Idea Of You" geht mit einem Metal-Riff wie eine Maschinengewehrsalve voran. Hinter dieser Wand dringen die Lyrics als gesprochene, verzerrte Tonbandaufnahmen zunächst kaum hervor, um sich dann im Chorus mit voller Wucht zu entladen: "Wait! None of this / Wake! Is happening / Breathe! / None of this / Believe! / Is happening / Hey! None of this / You tell yourself! Is happening."

"Burning Bright (Field On Fire)" schließt die leider nur zwanzigminütige EP ab und greift die existenzialistischen Lyrics von "The Idea Of You" nochmals auf. "And tell yourself you know / You're not really what you know you are, you know? / Of course you do." Das Schlagzeug stampft abermals unbeirrt voran, die Gitarre bildet einen noisigen Klangteppich, hinter dem die Lyrics verschwinden, um mit den Worten "Breathe, breathe, breathe / Break through the surface and / Breathe, breathe, breathe" wieder hervorzutreten.

"Not The Actual Events" bildet ein in sich schlüssiges Gesamtwerk mit rhizomartig verflochtenen Lyrics und aggressivem Sound, der direkt an die Alben der 90er anschließt. Reznor hat trotz seiner Produktivität nichts von seiner Genialität eingebüßt.

Hier zeigt er, wie NIN im Jahr 2016 klingen können: eingängig und gleichzeitig dissonant, hinter dämpfenden Oberflächen verborgen, um diese dann eruptiv zu durchbrechen. Wieder transponiert Reznor innere Kämpfe und Fragen in Musik, die ihresgleichen sucht. Wie er selbst sagt: "Es ist ein unfreundliches und undurchdringliches Album, das wir machen mussten."

Trackliste

  1. 1. Branches/Bones
  2. 2. Dear World
  3. 3. She's Gone Away
  4. 4. The Idea Of You
  5. 5. Burning Bright (Field On Fire)

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