laut.de-Kritik
Dieses Saxophon ist das Licht.
Review von Yannik GölzAls ich großgeworden bin, war Jazz reine Heldenverehrung. Denkt an den einen Dialog in "La La Land": "Du würdest deine Seele für einen Teppich verkaufen, auf den einmal Miles Davis gekotzt hat". Da gab es also mal eine ferne Zeit und ein fernes Land, in dem all die coolen Leute damit die Musikwelt revolutioniert haben, Blechbläser und zappliges Klavier zu spielen. Aber heute ist es Jazz-Atzen in den Vierzigern mit diesen komischen flachen Mützen vorbehalten, die Ornette Coleman ihren Respekt zollen. Noch ein Zitat, diesmal Spongebob: "Um erwachsen zu sein brauchst du eine unerklärliche Vorliebe für Free-Jazz". Ist dem so?
Um so schöner, dass es im letzten Jahrzehnt doch eine kleine Gegenbewegung an Artists gab, die Jazz auch Uneingeweihten geöffnet haben. Schwer vorzustellen, dass meine Jazz-Reise ohne diese Szenen in LA und London angefangen hätte – mit Kamasi Washington, der mit seinem gigantischen, symphonischen Ansatz dem Jazz so etwas wie das Christopher Nolan-Event-Kino zurückgegeben hat. Oder die Sons Of Kemet, deren Brass-Gehetze man problemlos in einen Techno-Rave untermogeln kann, The Comet Is Coming mit ihrer links und rechts in andere Genres anschlussfähigen Neopsychedelia. James Francies mit dem unwiderstehlich modernen Klang.
Da geht also was, im Moment, und Nubya Garcia sollte ganz fett oben auf der Liste stehen. Nachdem sie 2020 bereits auf dem Album "Source" gezeigt hat, wie spannend sie Dub oder R'n'B in ihr Tenorsaxophon-Bandleading einbringt, geht sie auf "Odyssey" noch einen Schritt weiter. Dieses Album ist ein veritabler Film, dessen Storytelling auch Nicht-Heads sofort ersichtlich wäre.
Deswegen wäre es jetzt auch recht einfach, die Beschreibungen vor allem über die Ornamente aufzuhängen: Guckt mal, die ganzen cineastischen Streicher-Arrangements, die von Track zu Track führen, es gibt Reprises, hier "Outerludes" genannt, die bestimmte Motive und Melodien zurück durch das Album tragen. Das Chineke!-Orchester gastiert auf diesen neu geschriebenen Arrangements von Garcia, dazu ergänzen Gastsängerinnen wie Esperanza Spalding oder Georgia Anne Muldrow ruhige, getragene Momente und verdichten das Gefühl von Lyrik. Das Album tut viel, um sich selbst zu rahmen und zu positionieren. Das stärkt die Atmosphäre, es hat fast etwas davon, wie Mike Dean Rap-Alben wie "Astroworld" verdichtet hat.
Aber im Kern von alldem steht natürlich immer noch das Spielen selbst. Und das alles bisher wäre ja mehr oder weniger wertlos, wenn das nicht spannend wäre. Aber wer schon "Source" gehört hat, weiß: Das ist es. Fast immer, wenn die Band aus Sam Jones an den Drums, Daniel Casimir am Bass und Joe Armon-Jones am Klavier zusammenspielt, entsteht etwas Explosives.
Die Band macht weniger das alte Jazz-typische Ding, dass die Rhythmus-Sektion vorgibt und dann einer nach dem anderen mal Solo darf, es fühlt sich mehr so an, als würde jeder im konstanten Arbeitsmodus starten. Die Energie wird wohl nirgends mehr kristallisiert als auf "The Seer", einem so intensiven und dynamischen Track, der vor allem die extrem Potente Mischung aus Drums und Klavier abbildet. Das Klavier hat diese Monk-eske Fähigkeit, sich an der Leitmelodie abzuarbeiten, indem es melodisch ambige, blockige Akkorde fetzt, weit weg vom ausgetretenen Pfad, aber doch immer mit einer überzeugenden eigenen Logik.
Noch beeindruckender agieren die Drums: Erstens ist der Klang im Mixdown so wunderschön crisp und präsent, zweitens setzt das dichte, aufgeladene Spiel so gekonnt und energisch Akzente und Konterpunkte, dass die ganze Band konstant ein Gefühl von Akutheit und Eruptivität untergeschoben bekommt. Die Kompositionen wurden ursprünglich viel mit Drum Machines geschrieben - und deren Präsenz von stark taktierendem Hip Hop und Drum'n'Bass bleibt auch im aktiven Spiel bestehen.
Garcias Tenor steht diesem rumorenden, rastlosen Bandmotor wie eine beruhigende, sammelnde Fahne entgegen. Sie lässt sich nicht hetzen, im Gegenteil: Ihr Spiel kommt komplett Zen, ein bisschen andockend an einen späteren Joe Henderson, vielleicht, aber doch sehr individuell. Denkt man daran, dass das Album "Odyssey" heißt, könnte man mehr als einmal den Eindruck bekommen, dieses Saxophon ist das Licht, das durch die turbulenten Gewässer der Band gelenkt wird. Der Kontrast ist ausdrucksstark und fühlt sich fast ein wenig nach einem klassischen Drama an.
So ist "Odyssey" definitiv ein Album, das Heads genauso wie Neulinge erfreuen dürfte: Die immer wieder durch das Album eingeflochtenen Genre-Experimente und orchestralen Übergänge, "Water's Path", "We Walk In Gold", "Clarity (Outerlude)", sie geben das Gefühl, dass auf jedem Track tatsächlich etwas Neues probiert wird. Es bilden sich ganz intuitiv Kapitel im Storytelling dieses sehr lyrischen Jazz-Albums, die aber doch nie davon ablenken oder überspielen, dass das Spielen, das Aufeinander-Eingehen der Instrumentalisten das Hauptaugenwerk ist. Was übrig bleibt ist ein eindrucksvolles und majestätisches Gesamtwerk, dass die Frage beantwortet, wie viel kreatives, innovatives Potential immer noch im Jazz steckt.
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