5. September 2024
"'Mir egal, was andere denken', ist die größte Lüge"
Interview geführt von Dominik LippeEin Buch, ein Album, dann schlug die Freizeit gnadenlos zu. Schwartz meldet sich mit anregenden Gedanken aus dem "Post-Release-Kater".
"Es hat ein bisschen gedauert, bis ich wieder im Leben angekommen bin." Ein halbes Jahr lang habe er stets nach Feierabend am Album gearbeitet, Promo gemacht und Musikvideos geschnitten. Dann folgte zunächst einmal nichts. "Das schlägt so ein bisschen aufs Gemüt", gesteht Schwartz vorab. Im nunmehr dritten Gespräch ist von seinem "kleinen Tief" nichts zu merken. Kommunikativ wie eh und je spricht der Rapper über ästhetisierte Gewalt und sensibles Fluchen, den "inneren Wilhelm", der jedem Deutschen innewohne, sein Album "Nachtmensch" sowie "Gewalt und Poesie", ein literarischer Dialog mit der Autorin Jess Tartas.
Anlässlich des Albums hast du den "Nachtmenschen"-Talk als wöchentlichen Livestream veranstaltet. In einer Ausgabe hast du gesagt, dass dir nach "Lockdown" und "Höllensturz" die Ideen ausgegangen seien. Was denkst du, woran das gelegen hat?
Ich könnte mich jetzt hinsetzen und an einem Wochenende drei, vier Alben im Stil von früher schreiben und aufnehmen. Es ist überhaupt kein Problem, das abzurufen. Aber es ergäbe für mich überhaupt keinen Sinn. Ich würde auf gewohntem Terrain irgendwas machen, aber es machte mir keinen Spaß. Ich hatte aber trotzdem Bock auf Musik, und "Nachtmensch" war dafür ideal. "Lockdown" und "Höllensturz" waren im stillen Kämmerlein entstanden, "Nachtmensch" war hundertprozentiges Teamwork mit Robbster Music. Auch wenn ich die Songs alleine geschrieben habe, haben wir das Klangbild zusammen entwickelt. Es sollte Ohrwurm-Hooks haben, aber trotzdem düster sein, kurz und knackig, aber trotzdem mit einer gewissen Tiefe.
"Braucht es noch Horrorcore? Braucht es noch Splatter-Texte in einer Welt, die sowieso voll mit Gewalt ist und die wir auch jeden Tag miterleben?", fragst du in einer Ausgabe und stellst dir selbst die Frage, ob du die "Welt noch mit virtueller Gewalt weiter bespaßen" solltest. Weshalb lautet die Antwort 'ja'?
[Lacht] Bei mir hat ästhetisierte Gewalt eine ganz klar katalytische Funktion. Es war für mich immer entspannend - im Sinne von Spannungen abbauend. Die gleiche Wirkung hat Musik von der härteren Fraktion auf mich. Sie hat Dinge aufgefangen und abgefedert. Es gibt zwei Hypothesen, was die Rezeption von gewalthaltigen Medien angeht, die Katharsishypothese und die Stimulationshypothese. Bei mir greift die Katharsishypothese einfach zu 100 %.
Du gehörst zugleich zu den wenigen, die ich außer mir selbst kenne, die komplett gegen True Crime sind.
Das ist das Genre, auf das sich alle einigen können. Jeder findet True-Crime-Dokus und -Podcast geil. In diesen Formaten wird auf sensationsheischende Art und Weise Gewalt ausgeschlachtet. Heutzutage ist es ein vollkommen akzeptiertes und dabei moralisch und ethisch doch relativ schwieriges Genre, da die Opfer hintenüber fallen. Wir leben eigentlich in einer Zeit, in der die Opfer auch dank Social Media die Möglichkeit haben, ihre Perspektive zu artikulieren. Vor dem Aspekt finde ich es krass, dass True Crime komplett auf den Täter fixiert ist. Das ist relativ ungewöhnlich für das Social-Media-Zeitalter, dass das Opfer nur die Funktion erfüllt, die Tat abzubilden. Wir haben das fiktiv in der Musik gemacht, komplett ohne Realitätsbezug, aber haben dafür vor Gericht gestanden und auf den Sack bekommen. Das habe ich immer im Hinterkopf.
Du hast geschrieben, "Nachtmensch" sei für dich "ein künstlerischer Meilenstein in jeder Hinsicht". Weshalb sticht es für dich so heraus?
Es ist eines der wenigen Alben, die ich komplett von vorne bis hinten hören und sagen kann: Da sitzt alles für mich. Das fängt bei der Art an, wie die Songs geschrieben sind, geht weiter über die Hooks, die Beats und die Hörbarkeit. Ein Song wie "3:33" hätte inhaltlich auch auf "Krieche aus der Tiefe" sein können, aber statt meinen eigenen Film eiskalt durchzuziehen, habe ich es so gestaltet, dass ich in der heutigen Zeit angekommen bin. Ich möchte diese harten Themen so umsetzen, dass sie Leute erreichen, die mit ihnen normalerweise nichts zu tun haben.
Hast du das von Hörern gespiegelt bekommen?
Ja, das Feedback war wirklich durchweg positiv. Auch Leute, die meine schriftstellerischen Sachen kennen, aber deren Mucke es nicht ist, sagen, es sei krass geworden. Das kann man sogar seiner Großmutter vorspielen, ohne dass man sich schämen muss. [lachen]
Einen "maßgeblichen Einfluss" auf das Album habe dein Buch "Gewalt und Poesie" gehabt, das du letzten Dezember mit Jess Tartas veröffentlicht hast. Inwiefern hat es die Musik geprägt?
Ich habe ziemlich genau zum selben Zeitpunkt angefangen, das Buch zu schreiben und am Album zu arbeiten. Durch den Austausch mit Jess bezüglich Gewaltrezeption, wo sie und ich gar nicht so weit auseinanderliegen, habe ich mich mit bestimmten Formen der Gewalt auseinandergesetzt. Da geht es vor allem darum, Unbeteiligte durch Begriffe wie "Schwuchtel" zu verletzen. Darauf habe ich früher nie geachtet, doch mittlerweile habe ich eine gewisse Sensibilität entwickelt. Es ist echt selten, dass ich solche Begriffe benutze, die eine Gewaltinhärenz haben. Das Album ist dadurch nicht softer geworden, aber es ist nicht so unbedacht. Zum anderen geht es darum, dass ich mir mehr Gedanken darüber gemacht habe, in welchem Kontext Gewaltdarstellungen stattfinden. "Stadt der Verdammten" ist ein gutes Beispiel. Das sind keine genuin gewalttätigen Bilder, aber das Deskriptive als Außenstehender hat schon etwas Gewaltvolles.
Es ist eine spannende Erkenntnis im Buch, dass die meisten Beleidigungen gar nicht den Adressaten beschreiben, sondern Gruppen diskriminieren. Als aufgeklärter Mensch fühlt man sich durch "Hurensohn" ja eigentlich auch nicht beleidigt.
Ja, diese Begriffe funktionieren nur in bestimmten Kontexten. "Hurensohn" ist nur dann eine Beleidigung, wenn du den Beruf der Hure als etwas Unwürdiges erachtet. Ich habe mal gehört, dass es im alten Japan wohl relativ gängig war, die Ehefrau an Bordelle zu vermieten. Da wäre "Hurensohn" keine Beleidigung gewesen.
Du entziehst dich letztlich der Auflösung, wie es möglich sein soll, dieses impulsive Fluchen mit einer sensiblen Sprache in Einklang zu bringen.
Ja, das ist ein Dilemma. Fluchen funktioniert nur über den Tabubruch. Du musst eine Grenze überschreiten, damit ein Fluch die katalytische Funktion im Kopf übernimmt. Im Buch nenne ich als Beispiel "Fick diese verfickte Fickscheiße". "Ficken" funktioniert nur deswegen als Fluchwort, weil wir dazu eine puritanische Einstellung haben. Wären "ficken" und "gefickt werden" keine Akte der Machtdemonstration, würde der Fluch nicht funktionieren. Das ist ein Dilemma, das sich nicht auflösen lässt, aber in Songtexten kann ich mir bewusst überlegen, ob es Sinn ergeben würde, Gruppen miteinzubeziehen oder nicht.
Ich habe selbst in den problematischeren Rap-Bereichen schon länger den Eindruck, dass die Menschen viel sprachsensibler geworden sind.
Klar, das ist eine allgemein gesellschaftliche Entwicklung, die gerade stattfindet und sich natürlich auch im Rap niederschlägt. Zumindest haben die meisten schon mal davon gehört, dass man sich die Frage stellen kann, ob es nötig ist, jemanden zu beleidigen, indem man direkt eine ganze Menschengruppe mitbeleidigt. Bei den einen findet die Reflexion mehr statt, bei den anderen weniger. Ich finde es aber auch ein bisschen schwierig, wenn Leute von dieser Theorie hören und dann sagen: 'OK, ab jetzt will ich gar nichts Diskriminierendes mehr in meiner Kunst haben. Das muss jetzt ausgemerzt werden.' Wenn man ganz stark darauf achtet, niemanden zu verletzen, niemals nach unten zu treten, dann kann das echt verkrampft wirken. [lacht]
Im Vorwort zu "Gewalt und Poesie" schreibt ihr erstmal über die Natur von Twitter. Wieso steht das am Anfang?
Meine Verlegerin Frau Frohmann hat darüber geschrieben. Sie meinte, Twitter sei ein Ort gewesen, wo die verschiedensten Menschen nur aufgrund ihrer Äußerungen und Denkweisen zueinander finden. Jess, die aus dem Gothic-Bereich kommt, als Schriftstellerin unterwegs und Fan von David Lynchs "Twin Peaks" ist, und ich, der Berliner Horrorrapper, wären uns unter normalen Umständen niemals über den Weg gelaufen.
Wie blickst du jetzt darauf?
Twitter ist nicht mehr benutzbar. Die verschiedenen Bubbles, in denen ich unterwegs war, gibt es nicht mehr. Elon Musk hat öfter am Algorithmus herumgepfuscht und dadurch diese Bubbles komplett zerfetzt. Jetzt bekomme ich abgefilmte TikToks und Enthauptungsvideos aus Syrien, rassistische Hot Takes und Fake News. Es ist nichts mehr von dem übrig geblieben, was es einmal war. Er hat es in einem Jahr echt geschafft, die gesamte Plattform, eine gesamte Gesprächskultur, die nicht immer gut war, aber unser Denken geprägt hat, komplett dem Erdboden gleichzumachen.
Ist die Demontierung von Twitter durch Musk im Grunde eine Art Sinnbild für die Zerstörung des Staates, wie sie Trump und seine Gleichgesinnten zum Ziel haben?
Das ist sehr schön formuliert. So weit habe ich noch gar nicht gedacht - danke für diese Inception. Ja, durchaus, wenn man sieht, dass Trump offen sagt, ihr müsst noch einmal wählen und danach nie wieder. Er sagt es so deutlich, wie Hitler es damals gesagt hat. Musk kam immer mit "Freedom of Speech" und Meinungsfreiheit, Meinungsfreiheit, Meinungsfreiheit. Und was ist daraus geworden? Nur noch Rage Baits, beknackte rassistische Aufreger performen. Es ist ein einziges Herunterrauschen von Hardcore-Meinungen, die sich alle als gleichberechtigt empfinden.
Wie bewertest du die Twitter-Alternative Threads?
[Lacht] Threads wird ja von Meta zur Verfügung gestellt. Und es ist genauso, wie man sich Twitter für Instagram-User vorstellt. Das sind von Grund auf jüngere Menschen, die sich nicht allzu viele Gedanken darüber machen, was sie von sich geben. Anfangs war ich davon angenervt, aber mittlerweile ist es ein bisschen so, als gucke man "Mitten im Leben". Das macht Spaß. Wenn man sich auf das Niveau runtergeguckt hat, kann man damit echt gut leben.
"Es gibt Menschen, die finden es geil, nackt über die Straße zu marschieren und angestarrt zu werden, aber keinem ist es egal, was andere von ihnen denken."
"Gewalt und Poesie" hat auch etwas von einer Debatte. Du nennst es ja dialogisches Schreiben. Wie muss man sich das vorstellen? Hat immer einer vorgelegt und der andere hat darauf reagiert?
Das war so beim ersten Teil, "Das Schicksal der Vögel, in Stein zu enden". Jess hat die Geschichte geschrieben und ich habe mit meinem Kommentar darauf reagiert, worauf sie wiederum reagiert hat. Das war dialogische Schreiben im Wortsinn. Ansonsten war das aber eher ein literarischer Dialog, bei dem wir ein Gespräch über ein Thema geführt und aufeinander geantwortet haben, woraus wiederum neue Gedanken erwachsen. Das ist der Sinn der "Generator"-Reihe, die Frau Frohmann betreibt.
Ihr setzt zu Beginn der Kapitel Content Notes. Zum Teil sind die recht absurd ("Zigaretten, Zitronenwasser, Zombies"). Sind diese Triggerwarnungen ernst gemeint oder künstlerische, satirische Elemente?
Eine Content Note ist erstmal keine Triggerwarnung, auch wenn sie oft verwechselt werden, weil sie synonym verwendet werden. Triggerwarnung heißt, jetzt kommt Inhalt, der Menschen mit Traumata triggern kann. Content Note benennt nur, um welche Dinge es geht. Uns ging es darum, literarische Content Notes als Teil des Textes selbst zu benutzen.
Welche Funktion haben sie dann genau?
Sie bereiten vor. Kennst du das "Sirenen"-Kapitel aus "Ulysses"? Das wie ich finde beste Kapitel des Buchs spielt komplett in einem Bordell. Und das gesamte Kapitel ist in einem sehr musikalischen Rhythmus geschrieben. Am Anfang hast du lauter Wortfetzen, die erstmal keinen Sinn ergeben. Wenn du nachher die Musikalität erkannt hast, merkst du, das waren quasi Musiker, die ihre Instrumente stimmen. Eine relative geniale Idee bestimmter Lautwiederholungen. Das war ein bisschen unser Gedanke dabei - mal konkreter wie bei meiner Gedichtpräsentation der von-Platen-Sonetten, mal abstrakter wie bei den "Herzstücken".
Ich dachte schon, das wäre ein fast komödiantisches Element, um sich drüber lustig zu machen.
Das kann man durchaus so lesen. Content Notes sind ja auch nicht unumstritten. Bei jedem Film auf Amazon Prime hast du am Anfang eine Content Note: In diesem Film gibt es Fluchen, Rauchen, Alkohol und Gewaltdarstellungen. Im Prinzip finde ich das auch vollkommen OK. Wenn ich Bock auf einen Musikfilm habe und mir "Der Pianist" ansehe, wüsste ich schon ganz gerne, dass der im Warschauer Ghetto spielt und zeigt, wie die Juden von den Nazis behandelt worden sind.
Die meisten dürften mit Poesie vor allem Romantik verbinden - das Gute, Wahre, Schöne. Wie kommt die Gewalt ins Spiel?
Das ist im Grunde nichts Neues. Gottfried Benn hat seine Morgue-Gedichte schon mit extrem gewaltvollen Bildern 1911 geschrieben. Da wurden Arbeitsprozesse eines sezierenden Forensikers in Gedichtform beschrieben. Der Gedanke, dass Poesie schön sein soll, ist eigentlich schon längst überholt.
Es entspricht vielleicht auch der deutschen Haltung. So wie die meisten die Gemälde von Caspar David Friedrich toll finden.
Klar, auf den kann man sich einigen. Das sind ja auch tolle Bilder, aber eben nicht wirklich herausfordernd für den Betrachter. Egal, ob es Poesie, Bücher oder Filme betrifft, ich finde es gut, wenn der Inhalt herausfordernd ist. Das ist er meistens durch eine bestimmte Form der Gewaltdarstellung, wenn ich etwa an "Die 120 Tage von Sodom" von Pier Paolo Pasolini denke. Das ist wirklich challenging. Bei Büchern funktioniert es eher über sprachliche Aspekte, als über beschriebene Handlungen. Und bei Gedichten finde ich es spannend, wenn man zwei Bildbereiche miteinander verknüpft, die nichts miteinander zu tun haben oder sogar gegensätzlich sind.
"Es gibt Menschen, die sind unter anderen Menschen wie der Fisch im Wasser. Das ist bei mir nicht so."
Im Buch schreibst auch, es habe dich immer fasziniert, "zwei sprachliche Bildbereiche miteinander zu verknüpfen: den des menschlichen Körpers mit dem der Schuss-, Stich- und Schneidewerkzeuge". Woher kommt diese Affinität?
Ich war ein riesiger Fan von Comics. Als ich mit zehn oder elf Jahren im Comicladen war, standen da immer Erwachsenencomics herum, frankobelgische Comics oder der erste übersetzte Manga, "Akira". Richard Corben hat überkrasse körperliche Gewalt gezeichnet - Enthauptungen, Skalpierungen, abgehackte Gliedmaßen. Ich war als Kind davon megafasziniert. Es hat irgendwas in mir berührt. Ich habe mir viele von diesen Comics geholt - und meine Eltern haben mich für komplett bekloppt gehalten. [lachen] Das hat sich dann auf Filme erweitert, die ganzen Klassiker "Texas Chain Saw Massacre", "Halloween", die "Freitag der 13."-Reihe. Mit 17 habe ich "Braindead" geguckt. Der war übertrieben lustig und übertrieben abgedreht. So hat es sich weiterentwickelt.
Hilft es auch, dass Gewalt in unserer Gesellschaft weitgehend verbannt worden ist? Oder anders ausgedrückt: Mein Großvater, der in Russland war, hatte für Gewalt in der Fiktion überhaupt nichts übrig.
Ja, ich denke, das ist auch ein Aspekt. In der Literaturgeschichte kamen die bahnbrechendsten Umwälzungen im Expressionismus oder Barock durch äußere Kriege - dem Ersten Weltkrieg oder dem Dreißigjährigen Krieg. Da die Gewalt als Legitimationsmittel abgeschafft worden ist, steigt das Interesse daran wieder.
Wenn du sagst, dass du den menschlichen Körper mit Schuss-, Stich- und Schneidewerkzeugen bearbeitest, erinnert mich das sehr an das Body-Horror-Genre, in dem es vor allem darum geht, dass einem die Kontrolle über den eigenen Körper fehlt. Beschäftigt dich die fehlende Kontrolle?
Ja, mit zunehmendem Alter schon. [lachen] Je älter man wird, desto eher merkt man, dass die Hülle, in der man lebt, Funktionen hat, die ihren Geist aufgeben, wenn man sie nicht trainiert. Ich habe seit geraumer Zeit Probleme mit dem Ischiasnerv. Ich würde es nicht metaphysisch sehen, aber es ist bestimmt ein Aspekt. Es ist ja auch immer eine Horrorvorstellung, dass der Körper von jemand anderem übernommen wird. Ich erinnere an die Szene aus "Tanz der Teufel II", als Ashs Hand besessen ist und ihn angreift.
Im Buch hast du die Kurzgeschichte "Star" untergebracht. Darin fordert dich eine Sachbearbeiterin im Bürgeramt dazu auf, deine Sonnenbrille abzunehmen und erkennt darunter ein Vogelküken, das sich in deinem Auge entwickelt. Größere Angst als vor dem Aufplatzen deines Auges scheinst du aber davor zu haben, einen ABC-Alarm am Flughafen auszulösen, wenn es zufällig dort schlüpfen sollte.
Ja, das kann man tatsächlich so lesen. Ich habe die Geschichte sehr assoziativ geschrieben, aber die Angst, sich sozial falsch zu verhalten und dadurch etwas auszulösen, ist dabei tatsächlich ein Aspekt. Da wird sogar das Küken im eigenen Auge in Kauf genommen, das für Kopfschmerzen sorgt. Dieser Spruch 'Mir ist egal, was andere von mir denken' ist die größte Lüge. Der Mensch funktioniert so nicht. Es gibt Menschen, die finden es geil, nackt über die Straße zu marschieren und angestarrt zu werden, aber keinem ist es egal, was andere von ihnen denken.
Symbolisiert die Geschichte auch deine Angst vor der Öffentlichkeit, die du ja mit der Sonnenbrille auszuschließen versuchst?
Ja, wenn man es biografisch interpretiert, kann man das genauso verstehen. Halte ich auch nicht für verkehrt. Ich habe keine Sozialphobie oder Stress unter Menschen, vermeide aber tunlichst Veranstaltungen, wo viele Menschen sind. Um mich wohlzufühlen, muss ich sie echt lange und gut kennen. Es gibt Menschen, die sind unter anderen Menschen wie der Fisch im Wasser. Die kommen in einer Gesellschaft rein, kommen mit jedem klar und können überall andocken. Und das ist bei mir nicht so. Wenn ich auf Partys bin, ist zwischen mir und den anderen Menschen immer eine Wand. Das seid ihr und das bin ich. Der Gedanke, sich unter fremden Menschen ganz normal zu bewegen, ist erstmal absurd.
"Es wird immer von der 'Festung Europa' gefaselt, ohne zu berücksichtigen, dass wir Nutznießer von diesem ungerechten System sind."
"Gewalt finde ich gut, wenn sie so ästhetisiert ist, dass sie nicht wehtut", schreibst du. Gerade im Mainstream-Kino gibt es sehr viel schmerz- und folgenlose Gewalt. In Marvel-Produktionen oder "Godzilla vs. Kong" kommen hunderttausende Menschen um - ohne einen Tropfen Blut. Das ist erstmal unehrlich.
Ja, richtig, wenn man es genau nimmt, ist es unehrlich. Einer meiner Lieblingsszenen in "Jurassic World" ist, wenn die Flugsaurier über die Besucher herfallen. Ich liebe diese Szene. Alleine wegen dieser zehn Minuten schaue ich den Film manchmal. Das läuft natürlich alles zahm ab, aber diese Massenpanik ist wunderschön. Es ist unehrlich, weil es nicht an Erfahrungen gekoppelt ist. Mir ging es vor allem darum, zu sagen, dass es Gewalt gibt, die wirklich wehtut. Filme wie "The Dentist", in dem ein Zahnarzt im Maul herumbohrt. Jeder, der mal beim Zahnarzt war, weiß wie weh das tun kann, wenn die Betäubung nicht wirkt. Das ist Gewalt, die mir keinen Spaß macht. "Jurassic World" finde ich lustig. Das sehe ich mir zur Entspannung an.
Wie ordnest du "John Wick" ein?
Das ist komplett ästhetisiert, eine einzige choreographierte Orgie der Gewalt. Der erste Teil war wie ein Ballett, der zweite wie ein Schlachtengemälde. Das waren opulente Bilder, auf denen 1.000 Leute um ihn herum fielen. Megakrass, das war eigentlich das, was "Matrix" hätte werden können, wenn man es von Action-Spezialisten hätte machen lassen. Super ästhetisierte Gewalt und ganz einfach von der Story: Sie bringen seinen Hund um und er legt sich mit der russischen Mafia an.
Ich kann mit der ästhetisierten Gewalt in "John Wick" jedenfalls mehr anfangen als mit jener in den meisten Unterhaltungsfilmen.
Die Frage ist, welchen Anspruch du hast. Wenn du - ganz naturalistisch gedacht - etwas Reelles erfahren willst, dann darfst du dir natürlich nicht "John Wick" angucken. Dann guckst du dir die erste halbe Stunde von "Der Soldat James Ryan" an. Die ist schwer auszuhalten. Ich für meinen Teil habe weitaus öfter Bock auf sowas wie "John Wick" als auf "Der Soldat James Ryan".
Ich weiß gar nicht, ob es Menschen gibt, die das leidenschaftlich gern sehen - außer Geschichtsnerds.
Der historische Aspekt ist in der Betrachtung eher sekundär. Damals waren die Handkamera-Aufnahmen bahnbrechend. Dieses Gefühl, mittendrin zu sein, die Eindrücke, die auf einen niederprasseln. Du kannst nichts ins Auge fassen, bevor es wieder weg ist. Das war schon super gemacht, aber es ist eben auch challenging. Es ist auch nicht verkehrt, im Mainstream-Kino die Kriegserfahrung mal in der Form abzubilden.
Wenn du nur folgenlose Gewalt hättest, wären gerade Kriegsfilme reine Propaganda.
Ja, richtig, das ist ja auch die Kritik an Materialschlachten wie "Pacific Rim" oder der Serie "A-Team", in der jede Folge mehrere tausend Kugeln abgefeuert wurden und Autos explodiert sind, aber es ist nie jemand ernsthaft zu Schaden gekommen.
In "Gewalt und Poesie" beschäftigst du dich auch mit den Eigenarten der Deutschen. Du schreibst vom "Ur-Deutschen", dem "inneren Wilhelm", der jedem Menschen mit "mehr als fünfzig Jahren deutscher Familiengeschichte" innewohne. Dieser finde sich selbst unter Progressiven und Linken. Wer ist das?
Das ist sehr schwer zu greifen. Mit dem "inneren Wilhelm" habe ich rekurriert auf "Der Untertan" von Heinrich Mann, was nach wie vor ein gutes Buch ist. Es spielt zur Kaiserzeit und drückt den Untertanengeist einer bestimmten Klientel perfekt aus - nach oben buckeln, nach unten treten. Im Buch wird das auf die Spitze getrieben. Jeder Mensch kennt solche Menschen. Ein Kumpel von mir schmeißt seine Kippe weg und ein Berliner Opa kommt vorbei und sagt: "Fuffzig Euro Strafe!" Überkorrekte Gesetzestreue ist etwas spezifisch Deutsches. Dabei ist vollkommen egal, was Gesetz ist - Hauptsache, es wird eingehalten.
Du nimmst dich dabei nicht aus. Du schreibst ja, du seist auch so.
Klar, ich bin ja hier sozialisiert worden. Es ging mir im Text spezifisch darum, dass man als Deutscher die Polizei erstmal nicht als Feind wahrnimmt. Du bist Deutscher und erstmal nicht verdächtig. Wenn ich mit Ausländern unterwegs bin und wir in eine Kontrolle geraten, werde ich als letzter und am nachlässigsten kontrolliert.
Das sind aber zwei verschiedene Dinge. Auf der einen Seite kein Misstrauen gegenüber der Polizei zu haben, auf der anderen Seite geht es im Buch auch um ziemlich profane Dinge. Du sprichst davon, auf der Rolltreppe rechts stehen zu müssen, damit links überholt werden kann. Und wenn sich jemand daran nicht hält, wirst du sauer.
Es ist der innere Wilhelm, der sagt, du musst rechts stehen und links wird gegangen. Ist mir jetzt erst passiert. Ich bin in der Friedrichstraße angekommen, habe lustigerweise noch Tamas in der Bahn getroffen, der voll gut drauf war, kurz gequatscht, ausgestiegen - und irgendwann pöbelte mir einer in meinen Nacken: "Scheiß Touristen, rechts stehen, links gehen!" Ich war noch voll im Tamas-Film, er stampft grummelnd an mir vorbei und ich dachte: Er hat recht, ich habe voll reingeschissen. [lachen]
Ich kenne das ja, wenn es um die Parkplatzfrage geht, die in meiner Nachbarschaft verhandelt wird wie "Game of Thrones". Ich weiß kaum, wie sie heißen, aber sie schreiben mir Hassbotschaften an die Windschutzscheibe oder klemmen Drohnachrichten hinter den Scheibenwischer. Mir fehlen einfach die geistigen und emotionalen Ressourcen, um mich darüber aufzuregen.
Natürlich, wenn ich jemanden sehe, der auf dem Bürgersteig mit dem Fahrrad fährt, regt mich das auch nicht lange auf. Das ist nichts, woran ich mich aufhänge. Da habe ich Besseres zu tun. Es gibt aber genügend Menschen, wie du aus eigener Erfahrung sagen kannst, die nichts Besseres zu tun haben. Ich kann mir nicht vorstellen, dass du in Malaysia, Bogotá oder New York solche Botschaften von den Nachbarn ans Auto geklemmt bekommst. Die Deutschen haben einfach einen Ordnungsdrang.
Was denkst du über den Anzeigenhauptmeister, der dieses Jahr zu Berühmtheit gelangt ist?
Das ist ja eine Karikatur. Ein 18-Jähriger, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, Knöllchen zu verteilen? Wenn das echt sein soll, dann stimmen irgendwelche anderen Dinge nicht. Bei ihm hat sich das entladen, was sich früher bei Arno Dübel entladen hat: Projektive Identifikation. Du findest es cool, dass sich Dübel dem kapitalistischen Gedanken entzieht, aber du selbst kannst nicht so handeln. Das entlädt sich dann in der Wut auf ihn. Ich kann mir gut vorstellen, dass das beim Anzeigenhauptmeister ähnlich ist.
Arno Dübel war natürlich auch eine interessante Figur, die man in der Hartz-IV-Zeit der zynischen 2000er wunderbar nutzen konnte, um Arbeitslose als Gesocks zu framen.
Das beschäftigt mich momentan. Egal, ob es um die Migrations- oder die Bürgergeld-Debatte geht, die Menschen kloppen sich um ein paar Krumen am Boden. Ich bekomme es bis heute nicht in den Kopf, dass Jeff Bezos 3.600 Dollar pro Sekunde verdient. Das wird einfach so hingenommen. Im Prinzip kann er die gerne verdienen, aber davon sollen auch die Arbeiter bei Amazon was haben. Stattdessen haben sie die nachweislich schlechtesten Arbeitsbedingungen, die man haben kann. Oder dass Elon Musk von seiner Mars-Kolonisierung fantasiert, sich aber buchstäblich weigert, Steuern zu bezahlen. Das kommt gerade immer mehr bei den Menschen an. Statt andauernd der AfD hinterherzurennen, sollte sich die SPD auf das Thema Verteilungsfragen stürzen.
Wie blickst du auf die Migrationsdebatte?
Es ist doch vollkommen klar, dass Menschen aus Ländern, die für uns Kaffee oder Klamotten produzieren, hier auch gerne leben würden. Dann wird immer von der 'Festung Europa' gefaselt, ohne zu berücksichtigen, dass wir Nutznießer von diesem ungerechten System sind. Wenn du die Systemfrage aber stellst, wirst du automatisch als Kommunist abgestempelt. Dabei sind das Themen, die buchstäblich jeden etwas angehen. Es sollte jeden interessieren, ob von seinem Bruttolohn mehr oder weniger abgezwackt wird. Und es geht jeden an, wenn ein paar Männer pro Sekunde so viel verdienen wie andere in einem ganzen Monat. Doch die Themen finden einfach nicht statt. Stattdessen reden wir über sinnlose Scheiße, die am Kern vorbeigeht. Ich bin der Überzeugung, dass irgendwann jemand kommen wird, der das Thema so setzen kann, dass es im Bewusstsein der Menschen verankert wird.
Die Themensetzung wird aber von vielen auch nicht gerne gesehen. Unabhängig aller Performance-Schwierigkeiten der letzten Jahre gehören die Grünen zu den wenigen, die Zukunftsfragen überhaupt stellen. Ob sie die richtigen Antworten haben, sei mal dahingestellt, aber sie stellen die Fragen. Ansonsten gibt es nur noch die AfD, die in die 1950er zurückwill - mindestens. Von den restlichen Parteien kommt eher weniger.
Ja, ich rede oft mit Marcel Lewandowsky über das Thema, der sich berufsbedingt viel mit Politik beschäftigt. Was mir persönlich in der Politik fehlt, ist ein Visionär. Jemand, der nicht nur seine paar Legislaturperiödchen im Hamsterrad laufen und Business as usual machen will, sondern ausserhalb des gängigen Rahmens denkt und entsprechend actet. So jemanden gab es schon ewig nicht mehr.
2 Kommentare mit einer Antwort
"Wir haben das fiktiv in der Musik gemacht, komplett ohne Realitätsbezug, aber haben dafür vor Gericht gestanden und auf den Sack bekommen. Das habe ich immer im Hinterkopf."
möglicherweise... unter umständen... vielleicht... eventuell wäre die ein oder andere repression ja ausgeblieben, wenn man darauf verzichtet hätte, in videos mit sturmgewehrattrappen konkrete personen der berliner politszene mit dem tod zu bedrohen
Absolut bemerkenswert ist, dass niemandem auffällt, dass Curse seit Jahren unerkannt ein Nebenprojekt am Laufen hat! Schwartz' Stimme ist eindeutig die Stimme von Curse, wenn dieser jene verstellt. Macht euch mal den Spaß und nehmt ein Foto von Curse. Dann setzt ihr mithilfe eines x-beliebigen Bildbearbeitungsprogramms eine Sonnenbrille ein. Ihr wisst, worauf ich hinaus will. Man muss Curse/Schwartz diesen Geniestreich lassen – Hut ab! Aber so etwas wird entweder nicht gesehen – oder die Leute wollen es einfach nicht sehen und kehren es lapidar unter den Teppich.
Letzter Thinker: Habt ihr Curse und Schwartz schon mal im selben Raum gesehen?
Als ob der den Hut abnehmen würde... Hodenrucksacktyrann, ey!