laut.de-Kritik

Die Shantel-Formel in anatolischem Rock-Flair.

Review von

Gegen Mitte der Nullerjahre wendete sich der ehemalige Elektro-Tüftler Stefan Hantel alias Shantel mit den "Bucovina Club"-Samplern und dem Album "Disko Partizani" erfolgreich Balkan-Sounds zu. In den 2010ern versuchte er sich mit "Anarchy + Romance" an einer Pop-Rock-Platte und verarbeitete auf "Viva Diaspora" Einflüsse aus der Diaspora. Nun dringt er mit "Istanbul", das mit der dort ansässigen Band Cümbüs Cemaat entstand, erneut in unbekannte Klangwelten vor.

Am Bosporus ist der Frankfurter schon seit Längerem eine große Nummer. "Disko Partizani" erreichte eine Doppelplatin-Auszeichnung für das meistverkaufteste ausländische Werk. Der gleichnamige Hit wurde zum gerne eingesetzten Jingle für Fußball-Übertragungen. Zudem unterhielt er auf der asiatischen Seite des Stadtbezirkes Kadiköy einen Zweitwohnsitz.

Das Album erweist der lokalen Musikkultur der euro-asiatischen Metropole die Ehre. Shantel fragte die seit 2006 bestehende Band Cümbüs Cemaat nach einer Kooperation, die mit Sänger Cem Köklükaya ein charismatisches Aushängeschild besitzt. Aus einem Repertoire an 500 Liedern wählte man in Shantels Frankfurter Studio zehn Lieblingssongs aus. Die Beatauswahl gerät dabei nicht unbedingt originell. Der mittlwerweile 52-Jährige setzt zwischen 70er-Jahre-Disco-Sounds ("Suda Balik"), dunklem Trip Hop mit arabischer Note ("Karakolda Ayna Var") und Dub-Reggae ("Ceylan", "Cümbüs Dub") größtenteils auf vetraute Töne.

Zu dieser vielseitigen Mixtur gesellen sich noch anatolische Rock-Einflüsse der Band dazu, die psychedelisches Sommer-Feeling versprühen. Bestes Beispiel: "Adimiz Miskindir Bizim", das mit tänzerisch erdigem Bass, sonnigen Akkorden und unbeschwertem Gesang die türkische Hippie-Kultur der 70er wieder aufleben lässt, wenn auch mit leicht ironischem Blick. Ebenso viel Authentizität strahlt auch "Bahcelerde Zerdali" aus, das anatolische Orgel-Rhythmen prägen, die immer wieder verträumte Gitarren-Klänge durchkreuzen.

Dagegen verkommen "Atim Arap" und "Kara Uzum Habbesi", die stampfende Rhythmen, orientalische Saiten-Einschübe und poppiger Gesang durchziehen, zu musikalischem Ramsch, der auf jeder x-beliebigen Turkish-Pop-Compilation besser aufgehoben wäre. Zudem wäre "Karakolda Ayna Var" durch die Abwesenheit arabesker Streicher-Sounds aus der Klischee-Kiste sicherlich ein besserer Track, lässt der Beat doch wohlige Erinnerungen an Massive Attacks "Teardrop" aufkommen.

Zumindest fügen sich die Streicher in "Helvaci" homogener in den Sound ein. In Kombination mit der facettenreichen Stimmführung Cem Köklükaya sorgen sie für den ein oder anderen dramatischen Moment, während der perkussiv geprägte Beat geradlinig nach vorne schreitet. Mehr Offbeat kommt dann schließlich in "Ceylan" ins Spiel, wenn entspannte Dub-Reggae-Tunes auf psychedelische Gitarren-Töne und eine zurückgelehnte Melodie treffen, die sich unaufhaltsam ihren Weg in die Gehörgänge bahnt.

Dieses Wechselspiel verschiedenster Rhythmen und Stimmungen sorgt für gute Laune und macht die Faszination des Albums aus. Hätten Shantel und Cümbüs Cemaat auf das ein oder andere abgedroschene globale Pop-Element verzichtet, wäre "Istanbul" etwas stimmiger ausgefallen.

Trackliste

  1. 1. Suda Balik
  2. 2. Atim Arap
  3. 3. Adimiz Miskindir Bizim
  4. 4. Karakolda Ayna Var
  5. 5. Kara Uzum Habbesi
  6. 6. Bahcelerde Zerdali
  7. 7. Helvaci
  8. 8. Basindaki Yazmayi Sariya Mi Boyadin
  9. 9. Ceylan
  10. 10. Cümbüs Dub

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1 Kommentar

  • Vor 3 Jahren

    Ich mag Shantel, aber diese CD finde ich misslungen. Die Kritik oben beschreibt es recht treffend. Vor allem stimmt auch mit der Abmischung etwas nicht. Die öden Drumsounds und der langweilig stampfende Bass müllen die Melodien zu. Wie es hätte werden können zeigt für mich der Song "Adimiz Miskindir Bizim". Schade. Verpasste Chance für die tolle türkische Musik.