laut.de-Kritik
Das wohl zynischste Pop-Album des letzten Jahres neu interpretiert.
Review von Toni HennigMit "Masseduction" wandelte sich Annie Clark alias St. Vincent vor fast genau einem Jahr von einem androgynen Wesen zu einer Art-Pop-Koryphäe im Stile David Bowies. Dabei zeigte sie sich, wenn sie auf der Platte etwa von ihren Depressionen sang, so verletzlich wie noch nie. Sämtliche Songs des Albums nahm die 36-jährige Wahl-New Yorkerin im August 2017 in einem Studio in Manhattan zusammen mit ihrem guten Freund, dem Pianisten und Produzenten Thomas Bartlett, in wenigen Takes neu auf.
Dementsprechend steht vor allem die Stimme von St. Vincent im Vordergrund. Bartlett spielt auf der Platte nicht mehr als eine begleitende Rolle, obwohl die Sängerin von einem gemeinsamen, "geheimen Verständnis" spricht. Davon merkt man als Hörer leider nicht viel.
Zumindest die Neu-Interpretationen der etwas ruhigeren Songs überzeugen. "Slow Disco" und "Smoking Section" klingen aufgrund der unverfälschten und brüchigen Stimme um Einiges emotionaler als das Ausgangsmaterial. "New York" und "Happy Birthday, Johnny" lebten ohnehin schon im Original von dominanten Klavier-Tönen, berühren aber dennoch aufgrund ihres intimen und sensiblen Charakters. Sonst bietet diese Veröffentlichung kaum Mehrwert.
Das liegt überwiegend daran, dass Bartlett die Akkordfolgen der einzelnem Nummern nahezu lustlos abspult. Wenn er, wie am Ende von "Savior", doch ein wenig Variationsreichtum an seinem Instrument offenbart und dadurch der Nummer eine völlig andere Richtung gibt, gleicht das auf dem Werk beinahe einem Weltwunder. Improvisationsfreude zählt anscheinend nicht zu seinen Stärken.
Außerdem hat "Masseduction", das mehr als zwei Jahre Entstehungszeit beanspruchte, gerade dann seine besten Momente, wenn Annie Clark mit der Schönheits- und Gesundheitsindustrie sowie dem Konsumwahn in unserer Gesellschaft unter der plastischen Produktion von Jack Antonoff auf zynische Art und Weise abrechnete. Das Album war ein Produkt seiner Zeit: Überdreht, hektisch und aufgeblasen.
Insgesamt bleibt, wenn man "Pills" auf seine stakkatoähnliche Struktur reduziert, nicht mehr allzu viel von der Energie des Originals übrig. Das Titelstück verliert ohne seine ursprünglichen Industrial-Spielereien an Biss. "Los Ageless" gehen in der Neueinspielung jegliche Kanten abhanden. Auch wenn Bartlett sich zu einer virtuosen Passage hinreißen lässt, fügt er der Ausgangsmelodie nichts Nennenswertes hinzu.
Experimentelle Sounds und geschickt platzierte Störgeräusche fungierten nämlich auf "Masseduction" als wichtiger Bestandteil, um die gesellschaftskritische Botschaft zu bekräftigen. Ohne sie funktionieren diese Tracks jedenfalls kaum. Sie hinterlassen in einer reduzierten Piano-Variante im Großen und Ganzen einen unvollendeten Eindruck. Da rettet auch die kraftvolle Stimme St. Vincents nicht mehr besonders viel.
Schlussendlich stellt sich nach mehreren Durchläufen der Platte ein Übersättigungs-Effekt ein, zumal die Vorlagen unter der sperrigen Oberfläche melodisch überaus einfach gestrickt sind. Immerhin präsentiert sich Annie Clark auf dem Werk so nahbar wie noch nie. Als Hörer zieht man trotzdem immer wieder das ursprüngliche Album aus dem Regal, da es den Neueinspielungen zum größten Teil an Einfallsreichtum und an Fantasie mangelt.
2 Kommentare
Da kann ich eigentlich zu 100% zustimmen. Wenigstens hat "MassEducation" meine Aufmerksamkeit einmal mehr auf das tolle ursprüngliche Album gelenkt, das ich mir jetzt wieder die ganze Zeit anhöre. Die Akustik-Versionen lasse ich lieber links liegen.
Nach so vielen guten Alben kann man von St. Vincent eigentlich mehr erwarten als eine Zweitverwurstung in Form von Akustikversionen. Eine Deluxe Edition mit dem Originalalbum, den "MassEducation"-Aufnahmen und Remixes wie dem tanzbaren Club-Remix "Fast Slow Disco" wäre ein runderes Paket gewesen, bei dem auch der höhere Preis angemessen wäre. So kann man als Neuling auch gleich "Masseduction" nachholen. Wer es nur streamt, dem kann diese Veröffentlichungspolitik aber egal sein.